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STEINE

 

Ich habe einen Stein geworfen. So weit ich konnte.

Raus, weg - ich habe einen Stein, so tief und weit - in einen See, in einen dunklen, tiefen See geworfen.

Danach bin ich nach Hause gegangen, mein Zuhause ist nicht weit entfernt, nicht so weit raus und weg und so tief und so trüb, wie der See.

 

Ich habe mich gefragt, wie schnell dieser Stein wohl gesunken ist und ob er jetzt an einem gutem Platz liegt.

Ich habe mich gefragt, ob der Stein etwas getroffen und verletzt hat und ich frage mich, ob das Wasser den Stein gedämpft hat oder er mit voller Wucht aufgeschlagen ist und alles um sich herum zerrissen hat.

 

Ich kann nicht mehr aufhören an diesen Stein zu denken und so gehe ich wieder los, um ihn zu suchen.

Der See ist nicht weit von meinem Zuhause, vielleicht 100 Schritte, entfernt. Ich sprinte dorthin, ich kann es nicht erwarten herauszufinden, was mit diesem Stein passiert ist.

 

So stehe ich vor dem dunklen, tiefen See, völlig außer Atem. Und während ich da stehe, frage ich mich, von wo aus ich den Stein wohl geworfen habe. Und ich schaue mich um und nehme einen Stein in die Hand, um das Gefühl wieder zu erlangen und damit den Ort zu finden, von wo aus ich ihn geworfen habe.

Ich laufe von rechts, nach links, nach rechts. Doch das Gefühl, die Erinnerung und die Stelle, von wo aus ich geworfen habe, ist weg. Ich finde sie nicht. Mit Tränen in den Augen gehe ich nach Hause.

 

Ich liege in meinem Bett und denke nach - ich denke an den Stein, den ich geworfen habe. Ich denke daran, von wo aus ich ihn geworfen habe und wo er liegt. Ich denke darüber nach, ob er vom Wasser gedämpft wurde oder ob er alles zerrissen hat. Und dann kommt mir noch ein anderer Gedanke. Warum habe ich den Stein geworfen und warum genau dort und nicht woanders, warum wirft man Steine ins Wasser?

 

Am nächsten Tag gehe ich noch einmal zum See und stelle mich ans Ufer, schließe die Augen und atme tief ein. Ich versuche das Gefühl zu erlangen, das ich an dem Tag hatte als ich den Stein geworfen habe. Als ich die Augen öffne, merke ich, dass ich dieses Gefühl nicht erlangen kann. Ich weiß nicht, was ich gefühlt habe und warum ich den Stein geworfen habe. Mir kommt der Gedanke, dass nur der See das wissen kann. Denn dort ist nun der Stein, den ich geworfen habe. Um zu erfahren, warum ich den Stein geworfen habe, muss ich in den See und ihn suchen.

 

Ich laufe nach Hause, denn mein Zuhause ist nicht so weit weg und so verborgen, wie der Stein. Ich hole ein Handtuch und meine Badesachen. Ich laufe wieder zum See und gehe ans Ufer. Bevor ich ins Wasser gehe, schließe ich die Augen und atme tief ein - und wieder aus. Meine Füße berühren das Wasser und mir wird kalt, so kalt, dass ich zurückschrecke. Wie komme ich darauf, dass ich bei der Kälte schwimmen kann, wie komme ich darauf einen Stein finden zu können, den ich gestern geworfen habe, von einer Stelle aus an die ich mich nicht erinnern kann, in einen See, von dem ich noch nicht einmal den Grund sehen kann. Enttäuscht von meiner eigenen Naivität und Dummheit, setze ich mich erschöpft aufs Handtuch. Ich verliere mich in meinen Gedanken und mein Kopf füllt sich mit einem Nebel, der mich ganz müde macht. Ich lege mich auf mein Handtuch und schlafe schließlich ein.

 

Als ich aufwache dämmert es schon. Ich stehe auf, klemme mir mein Handtuch unter den Arm und schlendere nach Hause. Meine Gedanken wandern zu dem heutigen Tag, zu meiner verzweifelten Suche, meiner Müdigkeit und der Kälte, etwa der Kälte des Sees? Ich denke daran, wie auch mich die Kälte ergriffen hat und durch meinen Körper ganz langsam bis hoch zu meinen Kopf gewandert ist. Es ist eine schwere Kälte, eine Kälte, die festhält, eine Kälte die bleibt, eine Kälte, die nur mit 3 Decken aufzuwärmen ist, eine Kälte, die das Blut gefrieren lässt. Es ist eine Kälte, die den Nebel kommen lässt, eine Kälte, die die Lippen blau färbt. Und nun ist auch mir bei diesem Gedanken ganz kalt geworden und meine Gedanken werden auch schwer. Es ist hoffnungslos - denke ich und dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los.

 

Ein wenig trotzig schaue ich zuhause in den Spiegel mit dem Wissen, dass meine Augenringe nicht kleiner geworden sind. Es ist mir egal. Ich spüre eine Wut in mir aufsteigen. Eine Wut über den Stein im See - in mir. Ich spüre, dass diese Wut mich stark macht. Und ich spüre noch etwas. Erleichterung. Erleichterung, dass mir bewusst ist, dass es nicht der Stein ist, der mich verrückt gemacht hat und Erleichterung darüber, dass ich loslassen kann. Dass ich all die Dinge, die schwer in mir wiegen und die mich immer wieder aufwühlen, loslasse. Ich möchte keine Steine mehr werfen, ich möchte nichts mehr sinken lassen, ich möchte mich nicht zerreißen lassen. Und all dies ist eine Entscheidung, eine Entscheidung die Illusion über die angebliche Kraft eines einzelnen Steins fallen zu lassen. Ich entscheide mich dafür zu gehen und ich entscheide mich dagegen zu bleiben, zu bleiben an dem Ort, der mich zerreißt, zu bleiben an dem Ort, der mich in die Tiefe zieht, zu bleiben an dem Ort, der mir eine Kälte in die Knochen und in den Kopf treibt.

 

Ich stehe auf und gehe, ich gehe aus der Tür und blicke mich nicht noch einmal um. Es ist nicht vorbei, aber es ist mein erster Schritt in die richtige Richtung.

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Liebe Emoceanal,

 

die Geschichte gefällt mir. 

 

Die unschuldige Idee, einen Stein ins Wasser zu werfen, wird zur Manie zu ergründen, was mit ihm passiert ist. Und diese Manie zieht das Leben in ihren Bann und gefährdet es schon, doch im Bewusstsein der Krise gelingt es der Protagonistin, sich davon zu lösen und den mit Sorgen und Hoffnungen magisch aufgeladen Ort zu verlassen.

 

Sehr gern gelesen.

Grüße von gummibaum

 

     

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