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Ponorist

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Maria

 

Maria war eine kleine unscheinbare Frau. Ihr Erscheinungsbild war so abwesend wie ihr kraftloser Händedruck, der kaum existierte. Er hatte den Anschein einer gelähmten Leblosigkeit. Sie hielt einem die Hand hin und es war gleichgültig, was man damit macht. Ohne dass es jemand ausspricht, teilte jeder mit ihr ein erschlafftes Dasein zwischen sich selbst und ihrer widersprüchlichen Anwesendheit.
Sie hatte zwei Brüder und eine Schwester, unter denen sie mit Abstand die jüngste war. Und sie alle waren auf ihre Weise tot. Tot wie ihre welke Hand, die sie immer weit ausgestreckt, auf Distanz zu ihrer Person, jedem entgegenhielt, den sie begrüßte. So als wolle sie ihrem Gegenüber sagen – bleib fern von mir – mit einer freundlichen Bestimmtheit, die gleichzeitig sehr schüchtern und zerbrechlich wirkte. Es ähnelte fast einer Todesangst, die niemand einordnen konnte.

 

Von dem Mann, mit dem sie verheiratet war, lebte sie in Trennung. Kinder hatten sie nicht. Maria konnte keine Kinder bekommen, sie war immer krank gewesen, körperlich wie psychisch. Unprofessionell behandelt von Scharlatanen, an die sie immer wieder glaubte, zu lange unbehandelt, bis nach und nach alles herausoperiert war, was für eine Schwangerschaft nötig gewesen wäre. Vielleicht hätte sie sich ein Kind gewünscht. Darüber gesprochen wurde jedoch nie. Sie kümmerte sich statt dessen um ihre kranke Schwester, die nach einer Hirnverletzung in der Jugend und einem späteren Schlaganfall auf Pflege angewiesen war. Maria hatte eine Zeit lang als Helferin in der Pflege gearbeitet, war aber schon lange nicht mehr arbeitsfähig, lebte von Sozialhilfe, abgeschieden in einer Kleinstadt, wohin sie einst mit ihrem Mann gezogen war. Die Großstadt war nichts für sie.

 

Die ganze Familie hatte früher in beengten Verhältnissen gewohnt. Eltern, Geschwister, deren Angeheiratete und Kinder, alle in einem kleinen Haus in Osteuropa. Es gab nur wenige Räume und einen schlichten Garten mit Obstbäumen und Fischteich. Einzig ihr Vater hatte in dem alten Bauernhaus allein auf dem Dachboden abgesondert von allen anderen gewohnt. Er sprach mit niemandem, teilte nichts mit niemandem, auch nicht mit seinen Kindern und seiner Frau, die für das Nötigste, das sie zum Leben brauchten, putzen gegangen war. Es hieß, er habe sich mit allen verstritten, sei ein Tyrann gewesen. Wie er, war jeder auf seine Weise dort lebendig begraben und alle nahmen ihre Gräber mit in ihr neues Leben, wenn sie es schafften, von dort weg zu kommen.

 

Irgendwann machten sich die meisten aus der Familie als Spätaussiedler auf in den Westen. Ihr ältester Bruder ging als erster fort. Er hatte eine einmalige Gelegenheit genutzt, sich während eines Gastspiels als Musiker abzusetzen. Seine Frau und die zwei Söhne im Kleinkindalter ließ er für drei Jahre zurück, bis diese legal nachziehen durften. Wenige Jahre nach ihnen zog ihr zurückgezogener Vater nach. Im Westen lebte er dann eine zeitlang mit einer älteren Dame zusammen, die eine gute Köchin war. Die Beziehung hielt jedoch nicht lange. Seine zurück gelassene Familie sollte nichts von dieser Liaison erfahren. Sie alle waren streng katholisch erzogen, die Mutter über alle Maßen hinaus fromm, ging täglich zur Kirche. Einen anderen Halt hatte sie nicht in ihrem Leben.

 

Nachdem ihre Mutter, noch keine sechzig Jahre alt, gestorben war, zog Maria mit ihrer kranken Schwester und ihrem Mann in die gleiche Stadt, sogar in das gleiche Mietshaus, wie ihr Vater. Die Schwester, seit ihrer Jugend halbseitig gelähmt, zog beim Vater ein. Sie hatte keinen Kontakt zur Außenwelt, nicht einmal ein Telefon. Einmal sei die Schwester für ein paar Tage verschwunden, wurde in der Nachbarstadt aufgegriffen und nach Hause gebracht.

 

Auch das Glück des ältesten Buders sollte nicht lange währen. Ein paar Jahre nach seinem wieder erlangten Familienglück wurde er wegen einer agressiven Psychose, von der er sich nie wieder erholte, eingewiesen. In seiner Passivität versunken und betäubt starb er irgendwann mit Mitte Fünfzig bewegungslos an Krebs. Der Kontakt zum Rest der Verwandtschaft war auf gleiche Weise verwelkt.

 

Ihrem zweitältesten Bruder hatten sie immer eine Flasche Bier ans Bett gestellt, gegen den Kater, den er damit allmorgentlich notdürftig tilgte, schon als junger Mann. Er und seine Frau, seine krebskranke Tochter und ihre zwei unehelichen Kinder sollten am Ende in dem Haus wohnen bleiben, das verwahrlost wie ihre Bewohner, in der Einöde am Rande einer polnischen Industriestadt, früher zu einem Bauerndorf gehörend, vergessen werden sollte.

 

Noch als längst erwachsene Frau sah Maria aus wie ein verkümmertes Kind. Niemand wusste, woran sie zerbrochen war, oder sprach zumindest nicht darüber. Unabhängig von einander hatten alle aus der Familie eine Kulisse errichtet, die nach außen einen Schein der harmonielosen Normalität wahrte. Verstocktes Schweigen und weggucken, schnell aus dem Sichtfeld der anderen verschwinden. Wovon niemand etwas wissen sollte, wurde nie gesagt, vielleicht nicht einmal gedacht.

 

Woran Maria starb, ist nicht bekannt, ihr Tod wurde durch Suizid vollendet. Einzelheiten werden nicht helfen, ihr Leben zu begreifen.

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Lieber Peter, der Leser wird von Deiner Erzählweise regelrecht in den Bann gezogen. Wie viel Leid kann jemand ertragen, ohne daran zu zerbrechen? Deine beschriebene Schilderung des Lebens von Maria ist wirklich bedrückend. Ich war nicht überrascht zu erfahren, dass sich diese Frau noch um andere kümmerte, so gut sie konnte und so lang sie konnte. Sie bekommt durch diese, ihre Geschichte die Aufmerksamkeit, die ihr sonst nicht zuteil geworden ist.

 

lieben Gruß Darkjuls

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Hallo, Ponorist

Als ich die Länge deines Textes sah, wollte ich schon wieder zurückschalten, doch nach ein paar Sätzen hat es mich  gepackt und ich muss sagen, du hast es toll geschrieben um einen mitzunehmen, mit fühlen zu lassen und auch fassungslos zu sein. 

Ich habe es gern gelesen und kann dir nur mein "Daumen hoch" zurücklassen.

LG Pegasus

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Hallo Peter, 

 

zu viel des guten, hätte ich fasst schon gesagt. In diesem Fall zu viel des Schlechten.

Das kommt von der politischen Unterdrückung. Mein Großvater wurde als Kind ( in Rumänien) 

von den Faschisten gefügig gemacht. Danach kam der Kommunismus, in dem auch kaum wert auf geistige Förderung gelegt wurde. Hinzu kommt noch das eintönige konservative arme Dorfleben mit streng religiösen Ritualen, die auch damals bei uns im Kommunismus parallel liefen. Irre. Herauskam einer der Charaktere wie du sie hier beschreibst.

Gott hab ihn selig. 

Dennoch, trotz allem bleiben es unsere eigenen Leben, und wir können immer entscheiden wie wir die Dinge betrachten wollen. Und wie wir sein wollen. 

In welchem Maß jedoch sich das entfalten kann, wenn man nur funktionieren muss und gehorchen soll, um Überleben zu dürfen, dass stellt sich mir auch als Frage. 

Welchen Rat hätte man Maria geben sollen? Kopf hoch! Wird schon... 

Ich habe keine Ahnung und fühle mich irgendwie seltsam distanziert zu solchen Menschen. 

 

Diese gesungene Geschichte, teilt ein ähnliches Schicksal. Sogar der Name ist fast gleich. Die Lyrics bitte nachlesen, sonst macht es keinen Sinn. 

LG JC

 

 

 

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Ich danke Euch ganz herzlich für Eure Kommentare und Likes, @Darkjuls, @Pegasus, @Alexander, @Joshua Coan, @Managarm und @Sternenherz.

Die Geschichte von Maria ist keineswegs fiktiv. Als ich vor ein paar Monaten von ihrem Tod erfahren habe, musste ich über ihre Familiengeschichte, die sich zum Teil mit meiner überschneidet, viel nachdenken. Insbesondere ist mir die Bedeutung von Loslassen klarer geworden. Trotzdem, oder gerade deswegen, sollte ihr Schickal nicht ungesehen bleiben.

habt Dank für Euer Mitgefühl und die lobenden Worte,

VLG Euer Peter

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  • 3 Monate später...

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