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Onkel Heribert und Donna Summer


Hera Klit

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Es war schon fünf nach zwölf und ich bekam immer noch kein Auge zu. 
Morgen sollte Vaters Fünfzigster gefeiert werden, da würde ich viel Kraft und innere Stärke benötigen.

Man kann sagen, das war gewöhnlich der denkwürdigste Tag des Jahres,

an dem die Spannungen zwischen Vater und mir regelmäßig bis zum Siedepunkt anstiegen.
Meine Schwester hatte längst die Flucht ergriffen, doch ich hing mit meinen inzwischen einundzwanzig Jahren

immer noch in diesem Haus fest.

Ich empfand dieses Haus, mein Vaterhaus, als einen Käfig, aus dem ein Entrinnen unmöglich schien. 
Zu allem Unglück war der Käfig nicht einmal vergoldet.

 

Dabei hatte zwischen Vater und mir alles so gut begonnen.

Ich war ein großes, schweres, rosig-gesundes Baby gewesen, anscheinend genau der Stammhalter,

den er sich so sehr wünschte. Es wurde berichtet, er soll bei meiner Geburt vor Glück geweint haben. 
Das Glück hielt nicht lange an, denn ich entwickelte mich leider nicht in der von ihm gewünschten Weise.

Er war groß und stark und schön und schwarzhaarig und sah in jungen Jahren aus wie Elvis.

Ich blieb klein und blond und schwächlich und sah bald aus wie Mutter in jungen Jahren.

Ironischerweise kam meine Schwester ganz nach ihm.

Sie versuchte eine Zeit lang der gewünschte Stammhalter zu sein.

Der Versuch misslang, denn sie verfügte nicht über den dafür erforderlichen Penis.

Sie verließ früh ihr Elternhaus und ihre größte Stärke war es,

unglückliche Liebschaften mit verheirateten Männern vom Zaun zu brechen, bei denen sie regelmäßig mächtig draufzahlte.

Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Ich besaß nicht den Mut und die Todesverachtung, die Vater von einem richtigen Jungen erwartete.

Einmal stellte er eine lange Leiter an das Haus und befahl mir hochzuklettern. 
Da ich unter Höhenangst litt, kam ich nur wenige Sprossen hoch, bis die Angst mich übermannte.

Ich blieb stehen und verlangte, heruntergehoben zu werden.

Er schüttelte angewidert den Kopf und sagte, es sei erbärmlich, wie ich an meinem bisschen Leben hinge.

 

Wir hatten eine Landwirtschaft und ich musste schon früh hart arbeiten,

Seite an Seite mit meinem von mir als übermächtigen empfundenen Herrn Vater.

Niemals gelang es mir auch nur annähernd auf irgendeinem Gebiet an seine Leistung heranzukommen.

Überall blieb ich weit hinter seinen Erwartungen zurück. Er gab mir keine Chance.

Mich einmal gewinnen zu lassen, wie man es gewöhnlich mit einem Heranreifenden tut,

kam ihm nicht in den Sinn. Er beabsichtigte scheinbar nicht, in mir so etwas wie Hoffnung auf Erfolg aufkeimen zu lassen.

 

Es wurde mit den Jahren mehr und mehr deutlich, dass er es bedauerte,

keinen würdigen Sohn und Nachfolger gezeugt zu haben. Er verlegte sich letztlich darauf,

mich mit Verachtung zu strafen. Ich konnte tun, was ich wollte, es genügte nicht.

Wollte ich ihm bei der Feldarbeit gar eines meiner liebsten Hölderlingedichte vortragen,

dann lehnte er barsch ab. Er las in seiner Jugend nur Tarzancomics, das genügte ihm, um zu dem Mann zu werden, der er war.

 

Dem Großvater war Hölderlin noch ein Trost gewesen. Er trug ihn im Tornister mit in einen
ungerechten Krieg, in dem man ihn zwang, unschuldige Menschen zu erschießen.
Lange verurteilte ich ihn dafür, bis ich einsah, welchen Mut es erfordern würde,

den eigenen Genickschuss dem Schießen auf Fremde vorzuziehen.

Fremde zudem, die dem allgemeinen Konsens nach als Feinde ausgemacht waren.

Irgendwann wurde ich Realist genug, um einzusehen, dass ich in dieser Situation womöglich genauso gehandelt hätte.
Alles andere sind Taten von Helden. Aber Helden sind oft wahnsinnig und mithin auch äußerst selten.

 

Großvater zahlte für seine Taten, auch wenn sie nicht aus ihm selbst entsprangen,

mit seinem Leben und kam nie zurück, er blieb verschollen, weit im Osten.

Ein vergilbter Zettel mit der Nachricht seines leichten Todes und ein Brief,

der mit einigen Hölderlinzeilen schloss, waren die letzten Zeugnisse von ihm, die Großmutter wie Schätze bewahrte.
Zeitlebens hing sie seine Anzüge zum Lüften raus und kontrollierte seine verbliebenen Socken auf Löcher.

 

Das Fehlen der Großväter meiner Generation lieferte uns Enkel schlecht erzogenen Vätern aus

und dieser Umstand ist, glaube ich, in seiner Tragweite nie ausreichend beleuchtet worden.

 

Mein Vater gehörte zur vaterlosen, erfolgreichen Nachkriegsgeneration,

die Deutschland wieder aufbaute und die die romantische Landwirtschaft umkrempelte,

um sie auf den Siegeszug der industriellen Revolution zu führen.

Er gab die Pferde des Urgroßvaters unter dessen Tränen ins Schlachthaus

und zwängte die freiheitsliebenden Hühner in Legebatterien.

Er begradigte und vermehrte die Felder und betonierte den Hof.

Exzessives Düngen und massivster Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wurden seine Säulen der Betriebsführung.

Das Wort Umweltschutz war damals noch nicht erfunden worden.
Als ich anfing, laut über biologischen Landbau nachzudenken,

wurde ich endgültig zu Vaters Widersacher, dem der Hof nie in die Hände fallen dürfe.

Er sorgte dafür, dass ich über den Status eines Knechtes auf dem Hof nie hinauskam.

 

Wenn ich heute an meinen Vater zurückdenke, nachdem er die Welt bereits verlassen hat,

sehe ich ihn hoch droben auf seinem sonnengelben, mächtigen Mähdrescher, mich keines Blickes würdigend fahren,

während ich unten herumwusele, um abtrünnige Ährengarben in das gefräßige, ratternde Mähwerk zu reschen.

Er würde niemals angehalten haben wegen mir. Auf ein Heruntersteigen durfte nicht gehofft werden.

 

Wie aus Verzweiflung begann ich irgendwann, mich so zu verhalten,

wie ich annahm, dass Vater es am meisten hassen würde. Besonders weibisch, linkisch und unmännlich.

So war mir wenigstens ab und zu seine Aufmerksamkeit sicher, wenn es auch eine Aufmerksamkeit voller Verachtung war.

Wer seinem Vater nicht genügt, der genügt der Welt nicht.

Ich war kein Sohn, mit dem man im Wettstreit mit anderen Bauernpatriarchen auftrumpfen konnte. Ich musste unerwähnt bleiben.

 

In der Schule war ich stets der Kleinste, in der langen Reihe ganz hinten eingeordnet

und die Tanzstunde machte ich nicht mit, weil es kein Mädchen gab, das kleiner war als ich.

Keine hätte auf mich als Tanzpartner herabschauen wollen.
Vater war seinerzeit Tanzkönig gewesen, die entsprechenden Bilder schmückten noch immer den Kaminsims. 

 

Einen bemerkenswerten Erfolg errang ich beim Theaterspielen in der Schule.
Besonders in komischen Frauenrollen wusste ich zu gefallen.

Mir war es egal, warum sie lachten, Hauptsache, ich war der Anlass des Lachens.

 

Da es die Tradition in unserem Hause verlangte, dass alle an Vaters Geburtstag irgendetwas Einstudiertes darbringen sollten,

um Vater zu ehren, musste auch ich etwas vorweisen. Irgendwann erkannte ich darin die Chance, mich selbst zu präsentieren. 

Deswegen schlüpfte ich in Frauenrollen, das lag mir am nächsten.

Gleichzeitig war ich mir sicher, damit Vaters ungeteilte Aufmerksamkeit und Ablehnung zu bekommen.

 

Letztes Jahr hatte ich eine Donna Summer Parodie hingelegt.

Ich performte ihren Skandaltitel „Love To Love You Baby“, vor Vater und einer großen Anzahl von Gästen.
Mein Livegesang mit den lasziven Stöhneinlagen brachte Vater fast ins Grab.
Mutter flehte mich danach an, keine Frauenrollen an Vaters Geburtstag mehr zu bringen,

es stünde sowieso nicht gut um sein Herz. Sollte ich ihn auf dem Gewissen haben wollen,

müsse ich nur so weiter machen. Es erstaunte mich schon, dass sie so an seinem bisschen Leben hing.

Da ich es letztlich nicht übertreiben wollte, studierte ich für dieses Jahr Mutter zu Liebe, eine Mick-Jagger-Parodie ein. Der war ja nur so eine Art Frau.

 

Morgen würde der Tag sein, an dem ein von allen hochgeschätzter, ehrbarer Mann gefeiert werden würde, der im Leben alles richtig gemacht hatte.
Da ich in dieser Nacht vor Vaters Geburtstag noch immer nicht einschlafen konnte, beschloss ich mir ein Gina Wild Video anzuschauen

und mich etwas in sie hineinzuversetzen und dabei zu entspannen.

Die Gina war eine Frau, die ich zu gerne parodiert hätte und zwar mit allen Einzelheiten.

Ich musste allerdings den Ton ganz leise stellen, denn im Nebenzimmer waren Onkel Heribert

und Tante Mimmie aus der DDR einquartiert, sie verpassten Vaters Geburtstag nie.
Alle wussten, dass Onkel Heribert ein Mann war, der nur aus gesellschaftlichen Konventionen heraus geheiratet hatte.

Darüber durfte aber nicht geredet werden.
Überflüssig zu erwähnen, dass er bei meinem Vater in keinem hohen Ansehen stand.

 

Ich war so leise es irgend ging, aber dennoch klopfte es an meiner Zimmertür.
Es war Onkel Heribert im Schlafanzug, der auch keinen Schlaf finden konnte, wegen des bevorstehenden Stresstages.

Er frage sich, welche Frauenparodie ich wohl dieses Jahr zum besten geben würde und könne darüber einfach nicht einschlafen.
Ich gestand ihm eingeknickt zu sein und mich für Mick Jagger als bisexuellen Kompromiss
entschieden zu haben. Das enttäuschte ihn nicht wenig. Wieder ein Mann, den ich enttäuschen sollte? 

Er hätte mich als Donna Summer sehr genossen, den Gesang, das Stöhnen und das aufregende Outfit.

Gerade die silbernen Overknee-Stiefel hätten mir so gut gestanden.
Ob ich die wohl noch besäße? Ich hatte sie natürlich noch, solche Perlen der Schuhmacherkunst wirft man ja nicht weg.

Das gesamte Donna Summer Outfit lag noch in meinem Schrank. Ich war gerne bereit,

es auf seinen speziellen Wunsch hin noch einmal anzuziehen und die Donna Summer für ihn zu machen.

Ich tanzte ein bisschen und ich sang und ich stöhnte dazu ganz lasziv, aber leise, um Tante Mimmie nicht aufzuwecken. 
Es wurde dann doch noch eine schöne Nacht. Wir machten durch bis um drei Uhr

und hatten unsere kleine gemeinsame Revolution gegen das Establishment, von der niemand etwas erfuhr. 

 

Am nächsten Tag beschloss ich, wegen Übermüdung dieses Jahr gar keine Parodie zu bringen, nicht einmal Mick Jagger.

Man muss auch den Mut haben, sich gelegentlich einmal zu verweigern.

Vater hingegen verlebte einen entspannten, glücklichen Tag.

 

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vor 8 Minuten schrieb Herbert Kaiser:

Familienkonstellationen können schwierig sein, das musste auch ich erfahren.

Du warst ganz schön unter der Fuchtel deines Vaters, aber deine Mutter? Hat sie seine Ansprüche an dich nicht abgefedert und dir nicht gezeigt, dass sie dich liebt so wie du bist?

 

Deine Zeilen geben schöne Einblicke in eure Familiengeschichte, wenngleich du die Rolle vom schwarzen Schaf bekommen hast.

 

Ganz liebe Grüße 

Herbert

Vielen Dank Herbert.

 

Meine Mutter hat versucht, es meinem Vater recht zu machen

und sie hat zeitlebens auf sein Urteil vertraut.

 

Liebe Grüße

Hera

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Hallo Hera  Klit,

 

eine wundervolle Geschichte.

 

Am Besten gefällt mir , wie der Onkel sich ins Zimmer des Neffen schleicht

und die beiden sich in ihrer "Andersartigkeit" finden.

 

Vielleicht ist es auch diese familiäre Anerkennung,

die das LI zur Entspannung bringen konnte.

 

Sehr hintergründig und tief

die Gräben und Verbindungen in Familienhochhäusern dargestellt.

 

Du bist sehr begabt,

wenn ich das mal so sagen darf

 

lG Sternenherz

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vor 52 Minuten schrieb Sternenherz:

Hallo Hera  Klit,

 

eine wundervolle Geschichte.

 

Am Besten gefällt mir , wie der Onkel sich ins Zimmer des Neffen schleicht

und die beiden sich in ihrer "Andersartigkeit" finden.

 

Vielleicht ist es auch diese familiäre Anerkennung,

die das LI zur Entspannung bringen konnte.

 

Sehr hintergründig und tief

die Gräben und Verbindungen in Familienhochhäusern dargestellt.

 

Du bist sehr begabt,

wenn ich das mal so sagen darf

 

lG Sternenherz

Vielen Dank Sternenherz.

 

Liebe Grüße Hera

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