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Dieser Arzt hat schon ewig seine Praxis hier. Schon Deine Eltern und Urgroßeltern waren bei ihm in Behandlung. Er hat sich mit der Zeit eine ganz ansehnliche Praxis bauen lassen, zwar etwas kalt und ungemütlich, aber man geht ja nicht zum Arzt, um sich gut zu fühlen. Der Arzt hat eine Menge Ahnung und jahrhundertealte Lehren hinter sich.
Als Du jung warst, musstest Du immer wieder in diese Praxis, die Eltern und Großeltern bestanden darauf und es war ein ungeschriebenes Gesetz der Leute, dass man regelmäßig dort zur Behandlung geht. Also gehst Du auch dorthin, was kann es schaden? Ein Teil Gewohnheit, ein Teil Angst, ob der Arzt doch recht hat, ein Teil die Gedanken der Leute – das ergibt einen hübschen, präventiven Trank, den der Arzt gerne verschreibt.
Dabei geht es Dir gar nicht schlecht. Du bist wohlauf und beizeiten denkst Du Deine Zeit anders zu nutzen als für den Besuch in der Praxis. Aber es geht nicht. Der Arzt erklärt Dir bei jedem Besuch, dass es Dir nicht gut gehe.

- Du hast ein Leid. Jeder Mensch hat dieses Leid, mein liebes Kind, glaube mir! Ich kenne mich damit aus, ich habe viel in meinen Büchern darüber gelesen, aber freue Dich – es gibt eine Chance auf Erlösung von diesem Leid! Ist das nicht nicht toll? Was wäre nur geschehen, hättest Du nicht von diesem Leid erfahren? Nun kannst Du gerettet werden.

- Naja, aber mir fehlt doch nichts, weder seelisch noch körperlich, wofür benötige ich gleich eine Rettung?

- Ach, mein Kind, jeder Mensch hat dieses Leid, Du kannst es gern in den Büchern nachlesen. So gut wie jeder hat sogar eins daheim, die Rettung ist so nah! Tu genau das, was ich Dir sage, am besten fühlst und denkst Du auch, was ich Dir mitgeben will, dann wird das sicher klappen.

- Nun höre ich zum ersten Mal von diesem Leid, meine Familie und die Leute reden auch davon, aber ich merke doch nichts. Wen empfehlen Sie mir für eine zweite Meinung?

- Das mit der zweiten Meinung solltest Du Dir gleich wieder aus dem Kopf schlagen, mein liebes Kind! Ich habe es Dir doch erklärt! Geh bloß nicht in eine andere Praxis, das sind alles Scharlatane. Die haben die falschen Bücher oder sie lesen sie falsch. Bei mir bist Du genau richtig, glaube mir. Ich helfe Dir, ich nehme Dir das Leid, siehe – viele hier schwören auf meine Behandlung, sie fühlen ihr Leid nicht mehr so, ist das nicht himmlisch? Vertrau mir! Ich helfe bei Deiner Rettung, wie es andere nicht können, sie sind dazu gar nicht fähig. Im Übrigen wäre es ganz schlecht für Dich, wenn Du aus unserem Kreis austritst, dann wirst Du an Deinem Leid zugrunde gehen, früher oder später. So wird es allen gehen, die uns den Rücken zuwenden. Sie sind so ahnungslose, verwirrte Menschen, die fehlgeleitet wurden. Das kann passieren! Es gibt Leute, die zu falschen Ärzten, falschen Praxen gehen. Manche gehen sogar zu gar keinem Arzt! Davor kann ich nur warnen, mein liebes Kind! Nur ich kann Dir helfen!

- Hm, vielleicht habe ich ja wirklich ein Leid, mir wird schon ganz schwummerig und ich bin mir nicht mehr so sicher...

- Das ist genau das, wovon ich sprach, mein liebes Kind. Zweifle nicht, hinterfrage nicht, vertrau mir einfach, Du bist bei mir in den richtigen Händen.

- Nun gut, ich denke, dann habe ich keine Wahl, es gibt scheinbar nur diesen Weg und ich fühle mich auch schon weniger sorgenvoll.

- Sehr schön, mein liebes Kind, das freut mich von Herzen. Eine Sache wäre da noch: Ich als Arzt muss auch von etwas leben und die Arzthelferinnen und die Praxis muss erhalten bleiben. Ich schlage vor, Du gibst uns jeden Monat einen Teil Deines Lohns, dann musst Du Dir deswegen auch keine Sorgen machen. Im Zeichen des Äskulap-Kreuzes tust Du, was ich Dir rate und ich nehme Dir Dein Leid und Deine Sorgen.

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Liebe Melanie,

 

Du hast die Logik des Kirchenkreuzes beschrieben, mit Hilfe der Idee des Arztberufes und dabei die Interpretation der Kirche übertragen. Ist dir gut und nachvollziehbar gelungen.

Ich würde damit aber nicht andere christliche Formen religiöser Interpretation und Verständnis hiermit gleich behandeln. Leicht neigen Menschen dazu Kirche und Religion gleich zu setzen. Was problematisch ist, vor allem gegenüber lautereren Interpretationen, die wesentlich seriöser und freiheitsliebender argumentieren.

Herzlich,

Thomkrated

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