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Gertrud Leinmann, eine meiner Geliebten, ist Fußpflegerin. Sie hat mir eine interessante Story aus ihrer Berufserfahrung erzählt und mich darum gebeten, falls ich darüber schreibe, den Namen ihres Kunden nicht zu verraten, so werde ich ihn R nennen. 

Wenn R zu Gertrud kommt, müsste sie ihm eine extra Stunde widmen.

R ist schon ziemlich alt und gehört zu den Menschen, von denen man sagen kann, in Anlehnung an den spanischen Cid, dass sie auch nach ihrem Tod weiter erzählen können.

Alles was R erzählt klingt wie ein Abenteuer: Seine Kindheit während des Kriegs, seine Jugend in der Nachkriegszeit, die ersten Jahre seiner Ehe, seine Zeit als Schwimmlehrer und, schlussendlich, seine Arbeit als Elektriker im Fernsehturm in Berlin. Wenn er anfängt zu erzählen, kann niemand ihn stoppen.

Gertrud muss ihn unterbrechen und ihn darum bitten, sich zu entfernen, denn der nächste Kunde wartet schon.

R hört sofort auf zu reden und, beim nächsten Termin, hat er das gleiche Lächeln im Gesicht und, natürlich, eine neue Story.

"Gestern hatte die Frau meines verstorbenen Schulfreundes Geburtstag, ich gehe nachher zu ihr, um ihr zu gratulieren.

"Wissen Sie, mein Freund ist im Februar gestorben", sagt er, während er die Füße aus dem Eimer mit lauwarmen Wasser herausholt.

"Mein Beileid", murmelt Gertrud.

"Niemand hätte gedacht, dass Rossi ihn überleben würde, sie selbst auch nicht." 

Oh das klingt interessant, denkt Gertrud, und schickt sich an, eine aufregende halbe Stunde zu verbringen.

"Ja, alle waren sich sicher, dass Rossi in den ersten Jahren ihrer Jugend sterben würde, denn sie war mit einem ❤️ fehler zur Welt gekommen. 

Kurz nach ihrer Geburt sagten die Ärzte, Rossi würde das achte Lebensjahr nicht erreichen. 

Aber sie wurde acht, und, mit sechzehn, lernte sie Heinz kennen.

Rossi war immer schwach und kränklich, aber Heinz wollte keine andere Frau. Er liebte sie, auch wenn sie todgeweiht war.

Beide wollten die Zeit, die ihr verblieb, zusammen verbringen.

Gertrud, nachdem sie R.s Füße mit einem Handtuch abgetrocknet hat, fängt an, Schwielen an Zehen und Fersenbereich zu entfernen.

Oft ging es Rossi ziemlich schlecht, sehr schlecht 1959 und 1960, ständig musste sie zum Kardiologen. Man sagte, sie musste operiert werden.

In Ostberlin hatten sie nicht die geeigneten Instrumente dafür, so wurde sie zu einem Spezialisten in West-Berlin geschickt.

Das war im Dezember 1960, ihr wurde gesagt, man könne sie erst ein Jahr später operieren, im September 1961. 

"Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich Rossi darüber war, das man sie nicht operiert hatte. Sie hatte Angst davor." 

Alle sagten Rossi, sie sollte Vernunft annehmen und sich operieren lassen, aber im September 61 wurde es nicht mehr möglich, weil die Mauer gebaut wurde. Man konnte sagen, dass die Mauer Rossi vor der bevorstehenden Operation rettete.

Gertrud greift zu der dicken ✂️, hört sehr aufmerksam zu.

Rossi erholte sich, es ging ihr ganz gut, sie und Heinz fingen an, an Kinder zu denken, sie wusste, dass das gefährlich für sie sein konnte, aber sie vertraute auf die Ärzte. 1962 brachte sie ein totes Kind zur Welt. 

Die Ärzte haben ihr geraten, nicht wieder schwanger zu werden, aber 1965 brachte sie ein gesundes Baby, einen Sohn, zur Welt. 

Gertrud, mit einem anderen Instrument, behandelt jetzt die Cuticula. Sie muss sich dabei sehr konzentrieren, was schwierig ist beim Lauschen der spannenden Geschichte.

Niemand hätte damit gerechnet. Sie brauchte einige Zeit, um sich von der Geburt zu erholen. Auch Holger, ihr Sohn, war oft krank in der Kindheit.

Seitdem hat Rossi, den Ärzten gegenüber, immer ihren Willen durchgesetzt. Immer wenn sie versuchten, sie zu operieren, hat sie selbst Ruhe und Heilkräuter für sich verordnet.

Offenbar tat sie gut daran, sonst wäre sie nicht gestern 79 geworden, sagt R und zappelt dabei mit den Füßen, was ihm fast eine Verletzung gekostet hätte. 

"Eigentlich war Rossi nicht gegen die Ärzte, wissen Sie? Sie hat bloß versucht, selbst für sich was zu unternehmen. So wurden viele möglichen Behandlungen überflüssig." 

Gertrud cremt die Füße ein, massiert die Gelenke. R klagt über starke Schmerzen an der Hüfte, bald wird er sich operieren lassen müssen.

Rossi kannte viele häusliche Heilmittel, so konnte sie Heinz, ihrem Mann, helfen. Dank ihrer Hilfe ging es ihm ziemlich gut bis zu seinem Ende. Die letzten Monate waren für Rossi, die sich ständig um ihn kümmerte, sehr strapaziös. 

Die Sitzung ist vorbei, R steht auf und fängt an, Socken und Schuhe anzuziehen.

R. bezahlt, lässt das übliche Trinkgeld und verabschiedet sich in bester Stimmung.

"So, jetzt gehe ich zur Rossi, gestern war ihre Familie bei ihr, muss nur noch ein paar rote Rosen kaufen".

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