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Echnaton

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  1. Hallo liebe Freundinnen und Freunde, ich habe einen Roman fast fertig geschrieben mit dem Titel: "Nach der Sonnenfinsternis - Im Hinterhof der Politik." Nun muss ich ihn noch gründlich redigieren und lektorieren. Dafür wünsche ich mir eine kritische Begleitung, aber natürlich auch Ermunterung und Zusprache. Wer hat Lust, mit mir an der Endfassung mitzuarbeiten? Ihr könnt mir auch direkt mailen an ulpaetz@gmx.de In der Anlage überlasse ich Euch meine derzeitige Fassung im PDF-Format. Ihr seid die Erstleserinnen und Erstleser. Viel Spaß und viel Lesegewinn. Ulrich Pätzold Sonnenfinsternis.pdf
  2. Begleitung in die Entgrenzung Der Abgeordnete M hat sich in seinem Appartement eingeigelt. Er schläft trotz Tabletten unruhig in der Nacht. Er steht früh am Mittwochmorgen auf, sitzt ratlos in der Küche, trinkt Kaffee und kaut ein altes Stück Brot. Nach dem Zusammenbruch gestern im Ausschuss bejammert er seine klägliche Existenz. Die Zeitung liest er nicht, auch nicht den Nachrichtendienst für die Abgeordneten über sein Smartphone. Auf dem Küchentisch liegt eine Zeitschrift mit seinem Horoskop. Das liest er. Es tröstet ihn, wie Unsichtbares bewirken kann, was mit ihm geschehen ist. Ein wenig lächelt er über die Beschreibungen, die von Menschen stammen, die ihn doch gar nicht kennen, aber das Große und Ganze auch seines Lebens aus dem Gang der Planeten zu erahnen wissen. Harmoniebrüche werden ihm zugeordnet, nicht unbedingt Katastrophen. Verwicklungen in seinem Leben seien Folgen seiner mangelnden Kompromissbereitschaft, wird behauptet. Dieser Mangel habe seine Ursache in einem zu gering ausgeprägten Einfühlungsvermögen in das Sinnen und Trachten von Kontrahenten. Auch ein Gegenmittel wird empfohlen: Ausreichend Schlaf und viel Bewegung im Freien soll helfen. Allerdings soll er sich bewusst bleiben, dass in diesem Monat tiefgreifende Veränderungen sein Leben auf den Kopf stellen können. Seine Sekretärin Schatz meldet sich am Telefon. Er redet nicht gerade voller Tatendrang, klingt aber nicht wirklich nach einem kranken Mann. Er spricht etwas einsilbig, schleppend sogar, aber Schatz glaubt schnell, dass mit ihm ziemlich alles in Ordnung ist. Bewusst vermeidet sie es, ihn danach zu befragen, was eigentlich geschehen ist und wie es nur passieren konnte, dass man ihn am vorigen Abend ins Krankenhaus bringen musste. Sie spricht mit klarer Stimme, wenn sie ihm etwas sagt. Sie beteuert, dass er sich um die Dinge im Büro keine Sorgen machen muss, dass sie sich um alles kümmere, was ihn entlasten könne. Sehr liebevoll fragt sie ihn, ob er irgendetwas zu erledigen habe, ob sie ihm Einkäufe abnehmen könne oder ob er wünsche, dass sie ihn besuche. M lächelt hinter dem Telefon auf und gibt zurück: „Nein, Sie müssen mich nicht besuchen. Einkaufen kann ich selbst, und ich will jetzt nur meine Ruhe haben.“ Er freue sich, sie im Büro zu wissen und sei dankbar, eine so tüchtige Mitarbeiterin zu haben. Schatz erlebt das Ende des Gesprächs in einem Gefühl des sanften Glückes, in dieser wichtigen Zeit diesen Arbeitsplatz zu haben. Danach ruft er seine Wahrsagerin an und bittet sie, mit ihm spazieren zu gehen. Die Dame ist erstaunt, lässt sich ein wenig erzählen. M erwähnt ein für ihn schlechtes Horoskop, das er soeben gelesen habe. Er berichtet mit monotoner Stimme über seine katastrophalen Einbrüche auf der Versammlung im Wahlkampf, über sein Scheitern und seinen Zusammenbruch gestern im Bundestag. Er deutet den schockartigen Einbruch seiner Mutter in seine tiefverborgenen Wahrnehmungswelten auf der Mani in Griechenland an. Er von nicht zu bewältigenden Geschichten, die er auf der Ordensburg Vogelsang, seiner Geburtsstätte, gehört habe. M telefoniert lange mit ihr und hat beim Erzählen jegliches Gefühl für Zeit verloren. Über eine halbe Stunde reihen sich seine Sätze mit oft unverständlichen Aussagen aneinander. Die Wahrsagerin hört zu, unterbricht nur, um ihn zum weiteren Reden zu animieren. M empfindet sich in einem düsteren Raum ohne Fenster. Er redet ins Telefon und fühlt sich dabei von einer raumfassenden Gestalt der Wahrsagerin eingehüllt. Am Ende ist er stumm und leer. Sein Ohr ist noch am Telefon, die Augen schon geschlossen. Wie in Trance hört er schließlich die Ansage als Befehl: „Mach dich auf den Weg zum S-Bahnhof Charlottenburg. Steige in die S7 nach Potsdam in den letzten Wagen. Nimm den Zug, der um 12:13 Uhr abfährt. In dem Wagen findest du mich.“ M hat es ohne wissentliche Absicht darauf angelegt, sich in die Hand der Wahrsagerin zu begeben. Erst wie er aus der Trance des Telefongesprächs aufwacht, schaut er aus dem Fenster und entdeckt einen warmen sonnigen Tag. Er atmet tief durch und eine schwere Last fällt von ihm. Er lässt von jeder Verantwortung für sich ab. Seine Begleiterin wird ihn führen. Er kleidet sich sommerlich, findet sogar seine Sonnenbrille. Draußen auf der Straße mengt er sich unter die Menschen. Hier sucht keiner das Gesicht eines Politikers. Im Schutze des nahen Bahnhofs kennt ihn niemand. Pünktlich ist er auf dem Bahnsteig, als die vorgegebene S-Bahn einfährt. Er steht gleich hinter der Treppe aufwärts zum Bahnsteig, wo der letzte Wagen zum Stehen kommt. Er steigt ein und sieht die Wahrsagerin, die einen weiten roten Hut aus geflochtenem Stroh auf den dicken dunklen Haaren trägt. Sie nickt ihm zu, und er lächelt, als er den Platz neben ihr einnimmt. Der Wagen ist voller Menschen, die es in den wasser- und waldreichen Südwesten der Stadt in den frühen Sommer zieht, eine freundliche Stimmung. Niemand nimmt von den beiden Gestalten eine besondere Notiz. Sie sind wie aufgenommen in einer bunten Schar erwartungsfroher Menschen. „Bewegung im Grünen unter der Sonne in einem weiten Park mit Schatten spendenden Bäumen wird uns gut tun. Wir gehen in den Schlosspark Glienicke“, informiert die Wahrsagerin ihren Schutzbefohlenen. Sie fahren raus bis zum Bahnhof Wannsee. Dort steigen sie in den Bus, der sie bis an das Ende der Stadt zur Glienicker Brücke führt, die weite Havel rechts und links der Brücke, Potsdam auf der anderen Seite des Ufers, und vor ihnen das kleine Schloss mit dem prächtigen Löwen am Eingang in den weiten Park. Wie ein Schuljunge lässt sich M über die Geschichte dieses wohltuenden Ortes erzählen, den ihm die Wahrsagerin als Mitte des Arkadien der Preußenherrscher zu genießen empfiehlt. Seine Begleiterin weiß die einfachen Mittel gezielt einzusetzen, das Unsichtbare in M zu mobilisieren. Sie kennt die sinnliche Vereinnahmung des Erlebnisses, hier spazieren zu gehen, wo das Licht zu spielen beginnt, einen Biorhythmus zaubert, der Wohlbefinden als Stimmung erzeugt. Weil sie neben ihm ist, empfindet M den Zauber als Wirkung ihrer Nähe. Sie gehen ohne Mühe über das leichtwellige Land, überlassenen sich den Wegen mit den weiten Sichtachsen des Parks. M nutzt den Begriff der Romantik nicht in seinem Leben, entzieht sich aber nicht der Suggestion, in die Mystik hineingezogen zu werden, an diesem Ort im wahren Arkadien zu sein. Das Sonnenlicht, das durch die Kronen der Bäume scheint, bricht sich in kaleidoskopischen Farbenspielen. Auf dem Waldboden tanzen die Schatten wie Feen. M wartet, dass ihm Zeichen der Sterne angetragen werden. Doch die Astrologin redet nicht von den Sternen. Sie erzählt allerlei Geschichten, wie sich hier im Laufe der Zeit alles so gefügt hat, wie es jetzt zu erleben ist. Man sagt, so belehrt sie ihn, dass sich Prinz Carl, ein Preußenprinz aus der ersten Hälfte des 19.Jahrhhunderts von dem berühmten Baumeister Karl Friedrich Schinkel das Schloss in der Pracht einer italienischen Renaissancevilla hat bauen lassen. Der Prinz war ein begeisterter Kunstsammler und schwärmte für die reiche und sinnenfrohe Figurenwelt Italiens. Tatsächlich hat Schinkel Einiges am Schlösschen umgebaut und den kongenialen Gartenbauer Peter Joseph Lenné für die Gestaltung des weiten Schlossparks gewonnen. Tatsächlich gab es das Palais schon vorher, der berühmte Fürst Hardenberg hatte es bereits besessen und vor ihm der Berliner Arzt Johann Jakob Mirow. „Sieh mal, überall begleiten uns die Laubengänge mit den antiken Skulpturen, künstliche Bäche und Wasserfälle finden wir inmitten der weiten Wiesen und Bäume. Ergreift das deine Seele nicht viel inniger als jene finsteren verschlossenen Mauern der Macht auf der Ordensburg Vogelsberg?“ Die Begleiterin umgarnte ihn mit säuselnder Stimme, und M merkte durchaus, dass sie ihn zu etwas hinzog, was er nicht begreifen konnte oder wollte. Die Ordensburg schmerzte wie ein Stachel in seiner Seele. Gerne ließ er sich von den weiteren Belehrungen seiner Begleiterin ablenken. Der dritte Sohn des Königs Friedrich Wilhelm III und seiner von so vielen angebeteten Frau Luise war M in diesem Augenblick eigentlich ziemlich egal. Aber er erfuhr, dass der Prinz somit ein Enkel des von M tief verehrten preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. gewesen ist. Auch die preußische Geschichte interessierte M nicht sonderlich, aber jener wenig erfolgreiche Nachfolger des philosophierenden großen Friedrich war für M eine Lichtgestalt, weil sie dem Okkulten und den Verbindungen zu dem Kosmischen noch viel näher gekommen war, als es M wohl je möglich werden würde. In einem seiner wenigen Bücher gab es darüber einen langen Abschnitt, der ihn schon in jungen Jahren fasziniert hatte. Sie waren von Norden zur Havel wandelnd wieder kurz vor der Rückseite des Schlosses angekommen. Da gab es einen künstlichen, mit Ziegelmauern eingefassten, mystisch anmutenden Raum, keine Kirche, aber mit einer Rundmauer am Kopfende, die wie eine Apsis einer Kirche angelegt war. Innen schmückten Skulpturenfragmente den Raum und verliehen ihm eine feierliche Ausstrahlung. M ließ sich von diesem Ort gerne in den Bann ziehen, als sie sich davor auf eine Bank setzten. Die Wahrsagerin hatte einen Picknickkorb mitgebracht. In ihm waren unter einem Tuch Schrippen, ein paar Tomaten, Käse, Oliven, eine Flasche Wein und eine Flasche Wasser sowie Teller, Besteck und Gläser. Das alles breitete sie zwischen sich und M auf der Bank aus. Tiefe Ruhe und Wärme durchströmte den frühen Nachmittag, es war völlig windstill im warmen Licht. Sie waren die einzigen Gäste weit und breit. Die Begleiterin beginnt eine lange Erzählung, in deren Mittelpunkt Wilhelmine Gräfin von Lichtenau steht. „Meine Schwester“, wie die Wahrsagerin oft betont, „eine kluge und sehr gebildete Frau, bekannt als die Mätresse des Königs Friedrich Wilhelm II.“ Der lernte sie im Jahr 1769 kennen. Eigentlich ein frommer Mensch lebte der Prinz vor allem auf, wenn er im Theater oder in der Oper eine hübsche junge Frau kennen lernte. Wilhelmine war nicht die erste. Niemand weiß, wie viele Mätressen er in seinem Leben gehabt hat. Aber die geborene von Enke, die er damals hinter den Theaterkulissen kennenlernte, blieb seine Favoritin bis zu seinem Lebensende als König. Er war ein Mann, der wie viele Männer in jener Zeit im Spiritismus seine seelische Heimat hatte, umgeben von Hellsehern und Astrologen. Seine Schwärmerei für diese Frau zahlte sich schnell aus. Er stattete die gebildete und aufgeklärte Frau mit höfischem Status aus und machte sie später zur Gräfin von Lichtenau, förderte ihre Bildung und Geselligkeit, schenkte ihr ein prächtiges Haus in Charlottenburg, baute ihr später sogar ein Palais nahe dem Brandenburger Tor und zeugte mit fünf Kinder, von denen nur eine Tochter das Kindesalter überlebte. Man muss sich die Gräfin als eine sehr schöne und anziehende Frau vorstellen. Obgleich der Prinz und spätere König in seiner Zeit mit Wilhelmine zweimal aus Gründen der Staatsräson mit anderen Frauen verheiratet wurde, und seine zweite Frau dann auch den gewünschten Thronfolger gebar, führte er sein wechselvolles Mätressenleben weiter, ohne dass die Gräfin ihre Favoritenrolle je verlor. Es ist nicht bekannt, wie viele Kinder Friedrich Wilhelm zeugte, aber sein Herz galt nicht den Kindern seiner ehelichen Frauen, die Kinder des preußischen Staates waren, auch nicht den Kindern aus den wechselhaften Affären, sondern sein Herz gehörte den Kindern mit Wilhelmine, von denen die meisten zu früh starben. Besonders betrauerte er seinen Sohn Alexander, der 1779 geboren wurde und sein Lieblingssohn war. 1787 starb dieser arme Junge, da war der Vater schon König. „Meine Schwester führte da bereits ihren höfischen Salon, in dem die großen Herren jener Zeit aus und ein gingen“, schwärmte die Wahrsagerin. Sie ließ von ihrem König nicht ab, liierte sich aber nach einer Reise in ihr geliebtes Italien mit dem Kämmerer Johann Friedrich Ritz, um sich von dem nur wenige Jahre später 1796 wieder zu trennen. Der König hatte bereits erneut zahlreiche neue Mätressen, erhob Frau Ritz nun aber in den Grafenstand, damit er eine seiner Provinzen an eine gemeinsame noch lebende Tochter vererben konnte. „Eine verwirrende Geschichte, die dich eigentlich nicht interessieren muss“, meinte die Begleiterin. „Aber du musst sie kennen, um zu verstehen, was in jener Zeit im Dunklen hinter den verschlossenen Türen geschehen ist.“ „Meine Schwester“, fuhr sie fort, „wusste um alle die Liebesaffären ihres Angebeteten und kannte seine Sehnsucht nach okkulten Offenbarungen ebenso wie die umschmeichelten Männer in seiner Umgebung, die den König aus egoistischen Gründen ausnutzten, um ihre Macht am Hofe zu mehren.“ Es sind Damen vom Theater, mit denen es der König treibt, selbst eine Wäscherin ist unter seinen Geliebten auf Zeit. Sie aber bleibt die einzige Vertraute in den vielen Jahren, sie bittet er sogar um Erlaubnis für seine Eskapaden. Aber sein frömmelndes Gewissen leidet unter den Bettgeschichten und oft genug muss sie ihn trösten. Sie weiß, sie ist der einzige Mensch, der ihn lenken, ihn mit seinen okkulten Neigungen über die Zeit und aus den Fängen und den Intrigen seiner machthungrigen Rattenfänger am Hof retten kann. Die Hofkamarilla sind die Zeremonienmeister in der Rosenkreuzliga, der auch der König angehört. Über ein ausgeklügeltes Geheimnetz, dass sie mit einem angeblichen Weisen im Orient verbindet, sind sie in der Lage, den König nicht nur mit dessen Weisheiten zu verbinden, die dieser in der Form von Empfehlungen und Befehlen an den preußischen Hof sendet. Sie können es auch arrangieren, dass der König in einer geheim-okkulten Sitzung die Gegenwart großer Geister erlebt und die Stimme seines Großvaters, des Großen Kurfürsten hört, aber auch die Stimme von Marc Aurel, den vom König so verehrten römischen Kaiser vernehmen kann. Der König kann vor Aufregung und intensiver Erwartungen kaum schlafen, schwärmt seiner Wilhelmine in höchsten Tönen von den Verschmelzungen vor, die bald stattfinden werden. Er weint vor Rührung, dass sie ihn nicht einsperrt sondern gewähren lässt. Dabei weiß sie genau, in welche Fänge er bei dem Oberst Johann Rudolf von Bischoffwerder, seinem militärischen und in Sachen großer Politik einflüsternden Sicherheitschef, und dem Geistlichen Johann Wöllner, seinem religionspolitischen und für die Kultur einschmeichelnden Berater, geraten ist. Diese Drahtzieher im Geheimbund der Rosenkreuzer hatten nur eines im Sinn, nämlich die zartblühenden Pflanzen der Aufklärung in Preußen nach dem Tod des Philosophenkönigs Friedrich so gründlich wie möglich zu vernichten. Einige Siege gingen bereits als Dekrete des Königs auf ihre Kappe. Sie hatten die Dekrete eingeleitet als Überbringer von Botschaften des ersonnenen Weisen aus dem Morgenland. Diese beiden Gralshüter der Gegenaufklärung bedienten sich geheimnisvoller Drogen und okkulter Apparate, die sie „Laterna magica“ nannten und die sie von dem Leipziger Betrüger Johann Georg Schrepfer übernommen hatten. Damit versetzten sie den König in einen tranceähnlichen Zustand, den dieser mit tiefer Sehnsucht suchte, um die von ihm so tief gewünschten Stimmen aus dem Jenseits endlich im Original selber zu empfangen, statt sie vermittelt über den Weisen aus dem Morgenland in sich aufnehmen zu müssen. „Meine Schwester wusste das alles. Sie hatte einen hellen Geist und verachtete diese Gaukeleien mit ihrem dem Mystischen so offen ergebenen König. Mit Verboten konnte sie nicht gegenhalten, sie musste versuchen, den König genau mit den Mitteln in ihren Bann zu ziehen, die sich am Hofe als so erfolgreich erwiesen hatten. Sie hat das ja später alles erzählt, wie verhängnisvoll sich damals die Dinge entwickelten.“ Und nun erzählte die Wahrsagerin noch einmal die Geschichte, die in einer Winternacht des Jahres 1791 im Belvedere des Schlosses Charlottenburg ihren Anfang nahm. Es ist dunkel in dem Raum, in dem nur zwei Kerzen flackern. Dem König war soeben ein leicht bitteres Getränk verabreicht worden, das seine Sinne schärfen und empfänglich machen soll für eine tiefe Seelenerfahrung mit der Anwesenheit großer, von ihm herbeigesehnter Geister. Nur der Wöllner und der Bischoffwerder sind anwesend. Eine große Wand aus weißem Leinen ist an der Stirnseite aufgespannt. Dahinter hört der König allerlei flüchtige Geräusche auf- und abrollen. Ihm ist gruselig zumute, sein Herz schlägt kräftiger und schneller und er hört Wöllner allerlei Wortformeln wie ein Gebet murmeln. Immer wieder hört er das Wort „Ormerus Magnus“. So heißt der König seit 1781 im Orden der Gold- und Rosenkreuzer, dessen Mitglied er ist. Zu den Geräuschen erscheinen dann aufflackernde graue Lichtflecken auf der weißen Stoffwand. Er hört aus dumpfer Ferne die Aufforderung, die Augen zu schließen. Das Rendezvous mit der Geschichte kann beginnen. Der König spürt, wie Kälte und Wärme durch seinen Körper rinnen. Das Getränk wirkt. Er hat Angst und hoffende Erwartung, sitzt gedankenverloren wie ein versteinerter Greis auf seinem Stuhl. Rechts neben ihm steht Wöllner, links Bischoffwerder. Sie schweigen nun, und jeder hält einen Arm des Königs in festen Händen. Der Kopf des Königs ist auf die Brust gefallen. Wöllner hebt ihn mit der anderen Hand wieder hoch, und Bishoffwerder sagt mit seiner näselnden Stimme: „Ormerus Magnus ist jetzt bereit.“ Der König öffnet blinzelnd seine Augen, kann sie aber kaum auf die nun leicht flackernde Wand fixieren. Doch er sieht die Gestalt des Marc Aurel in groben Zügen über die Stoffwand ziehen. Er sieht die Augen des Kaisers auf sich gerichtet und hört die tiefe Stimme wie aus einer Gruft: „Kehre zurück auf den Weg der Tugend.“ Der König erschauert vor dieser Stimme. Doch bevor er nun mit offenen Augen den Geist zu erfassen versucht, lösen sich die Schatten in einem großen grauen Fleck wieder auf. Der Befehl hallt noch durch sein Gehirn, da bewegt es sich wieder in dem Fleck und das Gesicht seines so sehr geliebten Großen Kurfürsten nimmt immer deutlichere Züge an. Der stolze Fürst ist nun ganz nah zu sehen und der König hört die Stimme, die ihm so vertraut erscheint, dass er sich am liebsten zu Füßen seines Großvaters werfen würde. Grollend tönt es ihm entgegen: „Werde nicht wankelmütig in deinem Vertrauen zu denen, die zu dir halten und beschenke sie großzügig.“ Auch dieser Auftritt zerfließt im grauen Nichts, und der König verspürt nur den Druck, mit dem seine getreuen Brüder seine Arme halten, der nun noch stärker ist. Wild rasen Bilder der ersehnten Himmelsfreunde durch seinen Kopf. Mit weit aufgerissenen Augen starrt der König aus seiner Dunkelheit in das Graue der Wand. Er nimmt die Geräusche kaum mehr wahr, die inzwischen immer lauter geworden sind, so dass der König alle Konzentration mobilisierten muss, damit nicht ein einziges der kostbaren Worte verloren geht. Sein Körper zittert und sein Mund steht offen, als nun in vollen Gewändern und mit prächtiger schwarzer Perücke geschmückt Gottfried Wilhelm Leibniz aus der Geisterwelt zu ihm tritt. Eine Stimme aus weiter Ferne poltert in das flackernde Bild der großen Gestalt und der König hört: „Ist der Herrscher der beste unter allen Möglichkeiten, dann gib deiner Welt eine Entwicklung, die du für die beste hältst.“ Der König will verstehen und setzt an zu einer Frage. Aber das Bild löst sich schon wieder auf, und er hört im Rollen der Geräusche ein Kichern, das ins Grollen übergeht und tief im Boden zu versenken scheint. Dann ist es völlig still. Die Kerzen sind gelöscht und es ist schwarz in dem Raum, in dem die Geister den König besucht haben. Der König wagt kaum zu atmen, Panik breitet sich in ihm aus. Er will schreien, aber kein Ton kommt aus ihm. Als sich die Hände seiner beiden Begleiter von seinen Armen lösen, spürt der König eine Brechreiz erzeugende Übelkeit. Er lehnt sich nach vorne, fällt vom Stuhl und fällt getroffen wie aus einer Attacke in voller Länge auf den Boden. Die verkrampften Hände lösen sich, er hört nur seinen pfeifenden Atem und liegt in vollständiger Stille wie ein schlafendes Kind zu Füßen der beiden Falschspieler. Die reiben sich ihre Hände, grinsen sich zufrieden an, sind stolz und ergriffen, was ihnen da gerade gelungen ist. Sie schnalzen mit den Fingern, und voller Ergebenheit kommen Diener und verwandeln in kürzester Zeit das Belvedere in einen lichtdurchfluteten Märchenraum voller Kerzen auf prächtigen Leuchtern. Auf dem Tisch stehen Pokale und guter Wein, weitere Diener stehen zu Diensten an den Rändern des Raums, von der Leinenwand ist keine Spur zu sehen, und auch kein Apparat dahinter verstellt den Glanz für einen genussreichen Abend des Herrschers in seinem geheimen Kabinett. Der Schlaf des Königs dauerte nur wenige Minuten. Tief ergriffen lässt er sich wieder auf die Füße stellen. Die Ergriffenheit sieht er auch in den Augen seiner beiden Freunde, die ihm nun noch einmal bestätigen, was auch sie gehört haben. Der König ist noch voller innerer Aufwallungen, und schreckliche Ängste packen ihn, unterbrochen von Augenblicken der Freude, dass er dieses zu erleben auserwählt worden ist. Er will die Begleitung dieser beiden Männer nun nicht mehr. Sie sind seiner nicht ebenbürtig. Er empfindet es als Demütigung, dass sie Zeugen dieser Begegnung mit den Geistern geworden sind. Er gibt Order, ihn sofort nach Hause nach Potsdam zu chauffieren, allein in seiner Kutsche durch die kalte dunkle Nacht. Die Erzählung war intensiv, und M hatte seine Augen geschlossen, als er sie von der warmen dunklen Stimme seiner Wahrsagerin so nahe neben ihm zu Gehör bekommen hatte. Er war begeistert von der Vorstellung, dass ein solches Erleben möglich sei, dass man, wie auch immer induziert, in solche als real erlebte Begegnungen gelangen könne. Er wusste, das ist eine Geschichte, aber er wollte glauben, in ihr gebe es eine tiefere Wahrheit. Er hörte nicht die Verweise seiner Begleiterin auf die fürchterlichen Wirkungen dieses Benebelungsmanövers auf den Staat und auf die Gesellschaft, sondern er spürte seine innere Ruhe und Begeisterung, seinem von ihm so verehrten König in seiner erlebten Geschichte ganz nahe gewesen zu sein. Als die Erzählerin nun eine Pause machte, fragte er scheinbar ganz ohne Hintersinn: „Und wie ist die Geschichte deiner Schwester weiter verlaufen?“ „Er kam in Todesangst in Potsdam an und ließ sich sogleich zu seiner Vertrauten, der Gräfin bringen, um ihr diese fantastische Geschichte zu erzählen.“ Die Wahrsagerin verfiel nun wieder in einen gleichmäßigen Singsang, so dass M noch einmal die Augen schloss und in der warmen Sommerluft weiter ihrer Geschichte lauschte. Totenblass und unterkühlt kommt der König zur Gräfin, die sofort ahnt, wie ihm zugespielt worden ist. Mit klappernden Zähnen und wirren Augen erzählt der König über seine Begegnungen mit den Geistern, über die Botschaften, die noch durch seinen Kopf hallen. So fürchterlich seinem Körper auch zugesetzt ist, macht er doch trotz aller Schrecken einen glücklichen Eindruck. Sie sagt ihm, dass er krank sei, dass die Termine für den nächsten Tag abgesagt werden müssen, dass sie ihn jetzt ins Bett stecken werde. Er widerspricht nicht und lässt mit sich geschehen. Sie packt ihn in ihr Bett, kocht heißte Milch mit Honig und flößt ihm das heiße Getränk ein. Noch immer zittert sein Körper und seine Haut ist kalt. Sie legt sich zu ihm ins Bett, wärmt ihn und ist froh, wie das kleine Kind langsam ruhiger wird und in ihren Armen einschläft. Die Gräfin kennt ihren Liebhaber. Sie denkt darüber nach, wie sie ihn seinen eifernden Einflüsterern aus dem Rosenkreuzorden entfremden kann. Sie muss vor allem verhindern, dass der König weitere Dekrete erlässt, die den Staat Preußen in den Abgrund führen und den freien Geistern im Land noch mehr Luft zum Atmen raubt. Bischoffwerder und Wöllner sind ihre Feinde. Sie muss alles tun, dass der König sich von ihnen abwendet. Aber wie soll sie mit ihrer Vernunft gegen die Macht der Unvernunft erfolgreich ankämpfen? Sie wägt die Möglichkeiten ab und kommt zu dem Ergebnis, dass die emotionale Stärke der Unvernunft allemal größer ist als die rationale Stärke der Argumente. Langsam und zuerst zögerlich, dann aber immer entschiedener breitet sich in ihr der Plan aus, die Mittel des Okkulten selber anzuwenden, um den Zweck zu erreichen, dass der König von diesen schurkischen Beratern ablässt. Langsam wird der Körper neben ihr wärmer und sie hört das Schnarchen des schlafenden Mannes neben sich. Bilder im Kopf der Gräfin entwickeln einen perfiden Plan, über den sie sich sagt, er sei perfide, könne aber nur durch sie umgesetzt werden. In diesem Wissen schläft auch sie ein, festen Glaubens, den König bis zu seinem Lebensende nicht zu verlieren. Am nächsten Tag geht es dem König besser. Seine Augen glänzen, sobald er sich an die himmlische Offenbarung erinnert, die ihm in der Nacht widerfahren ist. Voller Demut lässt sich der noch nicht fünfzig Jahre alte Mann von der Gräfin bemuttern, dankt ihr, dass sie ihm beigestanden und vor dem Zugriff der Hölle gerettet habe. Denn die Hölle habe er ebenfalls gespürt, sie habe ihn bereits an den Armen gepackt. In Kissen und in eine warme Decke gehüllt sitzt der König auf einem großen prächtigen Sessel vor dem Kamin, in dem das Feuer prasselt. Noch nie habe er sich seiner Gräfin so nahe gefühlt wie in diesem Jahr. Die Gräfin sitzt auf der anderen Kaminseite neben ihm und schaut versunken in eine Skizze, die Johann Gottfried Schadow für das Marmordenkmal des gemeinsamen Sohnes Alexander angefertigt hatte, der mit acht Jahren gestorben war. „Heute Nacht ist mir offenbart worden, dass er wirklich ermordet, vergiftet worden ist,“ klagt die Gräfin und sieht, dass dem König die Tränen in die Augen schießen. „Schlimmer noch“, fährt die Gräfin mit stockender Stimme fort, „die Spuren führen zu deinen Freunden, den Wöllner und den Bischoffwerder.“ Dann schweigt sie, gewiss, dass die Worte ihre Wirkung nicht verfehlt haben. In diesen Tagen ist der König voller Melancholie. Seine höfischen Verpflichtungen sagt er ab und seine Regierungsgeschäfte verkürzt er auf wenige Termine, zu denen er die beiden Minister Bishoffwerder und Wöllner nicht lädt. Er ist oft mit viel Zeit bei der Gräfin, die sich wieder in ihre schwarzen Kleider gehüllt hat. Das „Anderchen“, wie sie kosend ihren toten Sohn noch immer nennen, ist immer mehr in der Mitte ihrer traurigen Gedanken. Die werden von der Gräfin nach einem ausgeklügelten Plan gesteigert. Täglich besucht die Gräfin das wunderschöne Grabmal von Schadow. Sie schildert dem König, wie sie vor dem Denkmal mit dem toten Anderchen spricht, wie er ihr dann im Geist erscheint und mit ihr redet. Der König hört voller Rührung zu. Er hat Angst, dem Anderchen zu begegnen, hat aber auch Angst, dass er auch nur ein Wort des Erzählten nicht richtig versteht oder vergisst. Er bittet die Gräfin, die Begegnungen aufzuschreiben und vor allem sehr sorgsam zu notieren, was der Sohn gesagt hat. Die Gräfin hat ein kostbares blaues Buch mit leeren Seiten erstanden, in das sie nun mit den fantastischen Worten, die sie aus den Schriften der Okkultisten kennt, die geheimnisvollen Erscheinungen ihres Sohns und die verborgenen Weisheiten seines kindlichen Gemüts in ihrer schönen zierlichen Schrift einträgt. Das Buch liegt stets geöffnet auf dem Sims des Kamins. Es ist verboten, in den Seiten zu blättern. Stets ist die neuste Eintragung die vollständige Botschaft, die das Heil des Tages bestimmt. Das geht über Jahre so, auch über das Jahr, in dem die Gräfin in das helle und lichte Italien reist, um sich dort im Lichte vernünftiger Frauen und Männer die Sehnsucht nach einer freieren Gesellschaft auszumalen. Auch aus Italien schickt sie dem König regelmäßig Briefe, in denen sie schildert, wie das Anderchen sie begleitet und mit ihr über ihr heutiges Leben so vertraulich spricht. Der König zieht sich immer deutlicher aus seinem öffentlichen Leben zurück, ist nun sehr viel allein und betrachtet seine frömmelnde Seele, in der sein geliebter Sohn über das Medium der Mutter an den lebenslang geltenden Schwur erinnert, seiner geliebten Wilhelmine bis zum Lebensende ewig treu sein zu wollen. Nur selten antwortet der König auf die Briefe aus Italien. Seine Worte klingen weinerlich und ergriffen. Er bittet die Gräfin um Rat, sehnt ihre Rückkehr herbei. Die Gräfin erlebt in der Toscana, in Rom und in Neapel eine fröhliche Zeit. Das verhehlt sie auch nicht und meint, selbst ihr gestorbener Sohn ermutige sie, sich von den großen Edlen der Gegenwart hofieren zu lassen, ihren galanten Avancen nicht zu widerstehen. Gezielt will sie damit die Eifersucht ihres Königs anstacheln. Der reagiert immer gekränkter, fleht sie an, zu ihm zurückzukehren. Zu gerne wäre er ihr nach Italien gefolgt. Aber die Gesundheit lässt das nicht mehr zu. 1796 ist die Gräfin wieder in Potsdam. Da ist der König, von Gicht geplagt, schon ein alter, von vielen verlassener Mann. Wassersucht macht ihm schwer zu schaffen und das Atmen fällt ihm immer schwerer. Die Gräfin lebt in den „Holländischen Etablissements“ des Neuen Garten, dem „Damenhaus“, wie es damals hieß, um dem König so nahe wie möglich zu sein, der im von ihm gebauten Marmorpalais seine letzten Tage verbringt. Sie pflegt ihn selbstlos und fürsorglich. Sie meidet nun jede Anspielung auf Geistergeschichten, schimpft über das üble Treiben der Minister aus seinem Geheimbund. Der König ist viel zu schwach, um sich noch einmal deren Kreise und Rituale zu nähern. In seinem Inneren fallen alle diese Geschichten in ein tiefes Loch des Leidens. Die Gräfin ist gesundheitlich angeschlagen. Im Sommer 1797 fährt sie zur Kur nach Bad Pyrmont. Als sie immer noch stark erschöpft im Herbst zurückkommt, steht dem König der Tod bereits ins Gesicht geschrieben. Die Gräfin bleibt die Einzige, die ihn in seinen letzten Tagen mit menschlicher Wärme pflegt. Selbst die Königin, enttäuscht von ihrem Gatten und erbittert über das Geschöpf der Gräfin(?), kommt nicht umhin, der Gräfin für ihren vollständigen Einsatz zu danken. Am späten Abend des 16. November 1796 stirbt der König, wenige Stunden, nachdem man die Gräfin aus dem Zimmer verwiesen hatte. Bereits am nächsten Morgen wird der neue Herrscher die Gräfin verhaften und unter Anklage stellen. Sie soll geheime Staatspapiere entwendet und sich unrechtmäßig bereichert haben. Sie soll den verstorbenen König mit falschen Einflüsterungen politisch beeinflusst haben. Das wurde in langen Prozessen alles widerlegt. Aber das Leben der Gräfin unter der Sonne war mit dem Tod des Königs beendet. Die Wahrsagerin weiß, dass M nur bedingt zugehört hat, dennoch im vollen Genuss des Sommeraugenblicks mit ihr auf der Bank ihrer einschmeichelnden Stimme gerne gelauscht hat. Die vielschichtigen Zusammenhänge hatte er nicht weiter verfolgt. Familienklatsch aus den Königshäusern interessierte ihn eigentlich nicht. Die Preußische Geschichte war aus seiner Sicht Vergangenheit. Seine Zuneigung zu diesem König hat andere Gründe. Das weiß die Wahrsagerin. Sie schaut M von der Seite an, der mit halbgeschlossenen Augen in die sonnendurchfluteten Baumkronen blinzelt. Sie wartet, völlig sicher, dass M die eine Frage stellen wird. Das dauert eine Zeitlang, in der die Wahrsagerin langsam die Picknickreste wie zum Aufbruch von diesem Ausflug einsammelt. Sie will sich schon erheben, als sie M mit dem Arm sanft zurück auf die Bank drückt und er langsam und sehr leise fragt: „Welchen Trunk haben die beiden dem König verpasst?“ Die Wahrsagerin hatte ihn. Sie spielte, tat überrascht, als müsse sie um viele Ecken denken: „Genau wissen wir es nicht. Aber diese Unterstützung der Traumwelt kam oft zum Einsatz bei Seancen in gehobenen Kreisen und wurde ganz besonders bei den mystischen Sitzungen der Rosenkreuzer gerne verteilt. Sie nannten das Gebräu Diavolino. Neben uns unbekannten Kräutern waren in ihm auch geriebene Pilze der berauschenden Art.“ Sie macht eine kurze Pause, und bevor sie aufstand, sagt sie bestimmend: „Komm am Freitagabend um 19 Uhr zu mir und bring viel Zeit mit.“
  3. Danke Josina. Du wendest die Geschichte in die Praxis des Alltags. Das ist das Größte, was man mit dem Erzählen erreichen kann, Echnaton
  4. Ulrich Pätzold Hasan – ein Fremder bleibt ein Fremder Hasan war 1990 nach Deutschland gekommen. Als Kurde lebte er vor der Flucht mit seiner Frau, einem sechsjährigen Jungen und einem vierjährigen Mädchen in einem kleinen Haus im Nordwesten des Iran nahe an der irakischen Grenze. Er baute Musikinstrumente. Seine Frau nähte. Von ihren Berufen konnten sie einigermaßen gut leben, weil ihre Arbeitsprodukte bei der persischen Bevölkerung sehr gefragt waren. Es gab in ihrer Gegend viele kurdische Bewohner. Hasan gehörte zu den wenigen alevitischen Kurden, die in dieser Region zu Hause waren. Auf der Straße und in ihren Häusern sprachen sie den soranischen Dialekt, der im Staat offiziell verboten war. Die südlichen Hänge des Kardilgebirges im Norden waren von seinem Haus aus noch gut zu erkennen. Dort in den steilen und schroffen Bergen gab es viele Nester aufständischer Kurdenmilizen, die gegen Türken, gegen den Diktator Hussein aus dem Irak und gegen die Revolutionären Garden des schiitischen Gottesstaat im Iran kämpften. Hasan hatte nie Kontakte zu ihnen gesucht und war von der Aussichtslosigkeit ihrer Kämpfe überzeugt. Sein Leben lang hatte er versucht, abseits der ständigen militärischen Wellenbewegungen in seiner Region sein privates Leben in Ordnung zu halten, ohne sich den Anwerbungen von irgendeiner Seite zu ergeben. Er war ein Meister im Lavieren. Das war ein anstrengendes, stets Wachheit beanspruchendes Leben. Die Mehrheit seiner kurdischen Nachbarn waren Sunniten. Ihre Imane forderten Abstand zu den wenigen Aleviten, weil sie in ihnen das Teufelswerk des Zaoismus wirken sahen, dessen Urkraft aus dem frühen persischen Reich bis in die Gegenwart reichte. Es gab aber auch einige sunnitische Kurden, die sich von solchen mittelalterlichen und dogmatischen Religionsdeutungen nicht beeinflussen ließen, über die Imame lächelten und sich für eine multikulturelle Vielfalt in ihrem kurdischen Nationalismus einsetzten. Sie träumten von einem kurdischen Staat aus Teilen des Irans, des Iraks, der Türkei und Syriens, der ihnen von den Großen dieser Welt stets vorenthalten worden war. Diesen Traum träumte auch Hasan gerne, ohne ihn öffentlich in Worte zu fassen. Ausdruck seines Traumes war die Musik. Hasan baute nicht nur wunderschöne Musikinstrumente. Er schrieb auch Lieder aus seinen Träumen, die er seiner Frau an einem kühlen Abend im Innenhof seines Hauses vorsang. Das Haus lag an einem steinigen Berghang, der nach Westen in ein Tal fiel, durch den die tödliche Grenze zum Irak führte. Seit den Kriegen des irakischen Diktators Saddam Hussein gegen den Iran hatte sich die Lage der Kurden diesseits und jenseits der Grenze immer weiter verschlechtert. Ihre Dörfer und Städte standen den weitflächigen Aufmarschbefestigungen im Wege und man beschuldigte sie der Kollaboration und Sabotage im Auftrag des Feindes, wer immer das war. Türken, Iraker, Iraner und Syrer einte die Vorstellung, dass ihre Reiche umso reiner und stärker wären, je freier sie von widerständischen Minderheiten mit abweichenden Religionen oder ethnischen Abstammungen würden. Also versuchte man - wenn auch mit unterschiedlichen Methoden – sich der Kurden zu entledigen, wo immer die in Siedlungsgebieten zusammenlebten. Besonders brutal ging dabei der irakische Staat unter Saddam Hussein im Norden seines Landes vor. Husseins bombte sich seine Schneisen für den Krieg mit Giftgas frei. Von seinem Haus aus konnte Hasan auf die Stadt Halabdscha in die fruchtbare, landwirtschaftlich genutzte Ebene schauen, die auf der anderen Seite der Grenze im Irak liegt. Am 16. März 1988 bombardierten tieffliegende irakische Flugzeuge die 60.000 Einwohner starke Stadt mit Giftgas. 5.000 Menschen starben qualvoll. Das Senfgas verbrannte und verätzte die Haut, die Augen, drang in die Lungen. Wenigen gelang mit feuchten Tüchern vor Mund und Nase die Flucht über die Grenze in den rettenden Iran. Viele erlitten genetische Schäden, was zu Krebserkrankungen und Missbildungen führte, so dass in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren weitere Abertausende starben, die zunächst die Hölle überlebt hatten. Vor allem deutsche Firmen hatten am Aufbau der irakischen Giftgasproduktion mitgewirkt. Über 3.300 Tonnen Giftgas konnten bis 1988 auf 110.000 irakische Flugkörper montiert werden, von denen gut 100.000 über die kurdischen Städte und Dörfer abgefeuert wurden. Halabdscha wurde das größte militärische Giftgasfanal in den Golfkriegen. Die Stadt und das Grenzgebiet lag auf keinem Radar, der das grausame Geschehen an jenem sonnigen Märztag hätte beobachten können. Der Diktator war überzeugt, niemand könne Nachricht machen, was er hier verbrachte. Die zufällige Anwesenheit eines schwedischen, eines französischen und eines türkischen Fotografen haben es an den Tag gebracht. In Bild, Ton und Wort verbreitete sich das Dokument dieses größten Al-Anfalmordes in kürzester Zeit weltweit. Noch heute ist das Denkmal des Geschehens in Halabdscha eines der eindrucksvollsten Zeugnisse gegen die Kriegstechnik der Chemie. Vier Halabdschaflüchtlinge, stark vom Gift gezeichnet, hatten sich bis in das Haus von Hasan durchgeschlagen, der sie bei sich aufnahm und sie mit seiner Familie pflegte und ihr Überleben rettete. Es waren die quälendsten Wochen im Leben von Hasan. Anfangs gab es noch öffentliche Anteilnahme und offizielle Unterstützung. Sogar ein Kamerateam vom iranischen Fernsehen kam am zweiten Tag in sein Haus. Man wollte der Weltöffentlichkeit beweisen, dass nicht der Iran, wie vom irakischen Diktator in der ersten Reaktion behauptete, den Giftkrieg gegen die Kurden führe, sondern dass allein der „Schlächter von Bagdad“ in der Lage sei, so unmenschlich gegen die eigene Bevölkerung im Irak zu rasen, wie in Halabdscha geschehen. Doch schon bald änderte sich die Lage für Hasan und seine Familie. Der Sohn wurde nach der Einschulung sogleich wieder aus der Schule ausgeschlossen, weil er ohne Segen der Mullahs sei, die im Land herrschten. Hasans Frau wurde massiv bedrängt, die Ganzverschleierung zu tragen, wolle sie ihren Beruf weiterführen. Hasan bekam immer häufiger Besuche der Polizei und des Militärs. Jedes Mal beschlagnahmte man irgendetwas und behauptete, belastende Anzeigen seien gegen ihn vorgetragen worden. Die Flüchtlinge aus Halabdscha wurden als kurdische Krüppel verhöhnt, für die nicht einmal mehr die verhassten Amerikaner eine Verwendung hätten. Eines Tages war vor dem Haus ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift: „Seht her, so sehen Menschen aus, in denen die Seele des Teufels wohnt.“ Die Kunden für die Näherei wurden weniger, und Hasan konnte kaum noch eines seiner sorgfältig gebauten Musikinstrumente verkaufen. Eine üble Razzia am 24. Dezember 1989 brachte eine Fünfliterflasche Autobenzin zu Tage. Über die Berge schmuggelte man damals diese kleinen Behälter, weil anders die Menschen in dieser ölreichen Region nicht den Treibstoff für ihre klapprigen Autos bekommen konnten. Das machten die Kurden genauso wie die Iraker und Iraner auf beiden Seiten der Grenze. Aber dem Kurde Hasan war dieser Schwarzhandel Sabotage, bei den anderen war es eine zu vernachlässigende Ordnungswidrigkeit, die mit einer kleinen Zuwendung beglichen werden konnte. Hasan wurde für 48 Stunden verhaftet und saß in einer dunklen Militärgefängniszelle fest. Seine Frau wurde mit den Kindern in ein Bergdorf verfrachtet, etwa 100 Kilometer entfernt von ihrem Haus. Es wohnten dort nur Frauen und Kinder, und man nannte diese Dörfer Witwendörfer. Was aus den Flüchtlingen geworden ist, weiß keiner, auch die Nachbarn nicht, die Hasan fragte. Als er am dritten Tag wieder zurück in sein Haus kam, war es leer, und alle Einrichtungen waren zerstört und verwüstet. Seine Werkstatt und die Näherei war niedergebrannt. An einigen Stellen quälte sich noch stinkender Rauch in die Luft. Hasan erzählte später, es habe 14 Tage gedauert, bis er zum ersten Mal in Tränen ausgebrochen sei. Was ihm widerfahren war, was er erlebt hatte, brach da in einer vollständigen Erschütterung seines Körpers und seiner Seele aus ihm heraus. Da war er bereits in einer abenteuerlichen Odyssee über die Grenze bis in das noch nicht autonome Kurdengebiet im Irak gekommen, hatte Brüder und Schwestern gefunden, die sich um ihn gekümmert und ihn in eine Station einer Menschenrechtsorganisation in Erbil gebracht hatten. Er weiß noch, wie die jungen Menschen, die ihn pflegten, eines Tages sagten: „Hasan, hör zu, wir bringen dich hier heraus. Wir bringen dich nach Deutschland.“ Damals konnte er mit Deutschland fast nichts anfangen, ein Land irgendwo weit fort in der Ferne. Er kannte niemanden, kannte die Stadt nicht, in der er versteckt war und hatte nur seine Frau und die Kinder im Kopf. Auch weiß er nicht, warum seine Betreuer, für die er ein zartes Gefühl tiefer Dankbarkeit empfand, ausgerechnet Deutschland ausgewählt hatten, wo angeblich viele Kurden lebten. Er wollte weg, weit weg, das wusste er. Ob Deutschland oder nicht, Deutschland, war ihm damals völlig gleichgültig. So machte er den Willen seiner Freunde in der Hilfsorganisation zu seinem eigenen Willen, zumal ihm zugesichert wurde, dass im fernen Deutschland am ehesten die Gelegenheit bestehe, auch seine Frau und die Kinder dorthin zu bringen, sofern man sie finden könne. Hasan hatte zu seinem Glück alle für ihn und die Familie wichtigen Papiere bei sich. Im Gefängnis hatte man sie ihm nicht abgenommen, und auf der Flucht hatte er sie nicht verloren. Zum ersten Mal in seinem Leben hörte er das Wort Asyl und erfuhr, wie wichtig dafür Papiere sind. Schon in der Organisation in Erbil wurde für ihn eine Akte angelegt, auf die später die Behörden zugreifen konnten. Hasan übersetzte für sich Asyl mit Gastfreundschaft und Freundlichkeit und kam aus dem Staunen nicht heraus, dass es dafür eine eigene Behörde gibt, in der in erster Linie die Qualität von Dokumenten entscheidend für das weitere Leben ist, Am dritten Mai 1990 landet Hasan mit einem Rucksack und einer kleinen Hängetasche leidlich gekleidet in einem karierten Hemd und einem etwas zu großen Anzug auf dem riesigen Flughafen in Frankfurt. Aus Lautsprechern schallen in kurzen Abständen knappe Sprechansagen, von denen er kein Wort versteht. Um ihn wimmelt es von Menschen in zauberhaften Verkleidungen, kühlen Blicken und zielstrebigen Bewegungsabläufen. Wie Ameisen in einem Labyrinth bunter paradiesischer Verkaufsstände bewegen sich hastige Menschen. Er wird an Läden und Restaurants entlangeschoben, sieht von innen beleuchtete Bilder an den Wänden, taucht in eine völlig neue Welt voller energischer Geschäftigkeit. Das hat er noch nie erlebt und macht ihn fast schwindelig. Was für eine Zauberwelt, in die er weich und geräuschlos, aber ohne klare Ziele eintaucht. Was soll er tun? Wohin soll er gehen? Was geschieht mit ihm? Er kommt an eine Schranke, hinter der viele Menschen warten. Kaum hat er sie passiert, umarmt ihn ein Mann, den er nicht kennt, ein Kurde, wie sich herausstellt, der ihn nun begleiten wird. Er wird wie ein kleines Kind an einer starken Hand geführt. Schon in dem Flughafen von Erbil hatte ihn ein Begleiter an die Hand genommen, hat ihn durch die unzähligen Checks geschleust und während der langen Wartezeiten in seiner ihm vertrauten kurdischen Sprache über Deutschland erzählt. Er hatte ihn ermahnt: „Die deutsch Sprache musst du lernen, schnell und gründlich. Ohne sie bist du nichts, wirst du in dem Land nichts werden. Sie ist nicht alles für das Überleben. Aber sie ist der Schlüssel für alles in dem fremden Land.“ Er hatte ihm ein dünnes Heft in die Hände gedrückt mit ersten Worten und Redewendungen in der neuen Sprache. „Am besten ist es, du fängst noch im Flugzeug an.“ Das Asylverfahren ist zäh. So ausgeprägte Bürokratien hatte Hasan noch nicht kennengelernt. Was man alles von ihm wollte, wozu so viel Papier gefüllt wurde, blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Bisher hatte er Lautstärke, oft auch Gewalt von ihm böse gesinnten Menschen in kleinen dunklen Räumen erlebt. Die Menschen, mit denen er es jetzt zu tun hat, sind höflich, viele sind Frauen. Sie scheinen sich für ihn überhaupt nicht zu interessieren. Er ist ein Fall, füllt eine Akte. Sechs Monate dauert das Verfahren. Er hat viel Zeit und lebt nun in einem „Flüchtlingsheim“, das einen komplizierten langen Namen hat, am Rande einer Kreisstadt. Keiner der Deutschen trägt Waffen oder eine Uniform. In seinem Zimmer wohnen drei weitere Asylbewerber, die aus Afghanistan, Syrien und Nigeria kommen. Die Verständigung ist schwierig. Hasan merkt sehr schnell, dass ihn die drei Mitbewohner ablehnen, ihn schneiden, ihm misstrauen. Das scheint das Einzige, was sie eint, denn untereinander streiten sie heftig und sehr emotional. Gemeinsam verrichten die drei täglich ihre Gebete. Hasan wird dabei ostentativ ausgeschlossen. Sie bezeichnen ihn unrein und ungläubig. Es dauert nicht lange, dann verlässt Hasan jedes Mal das Zimmer, wenn die drei beten wollen. Hasan merkt, unter den Flüchtlingen gibt es wenig Solidarität. Alle schimpfen über die Deutschen, verfluchen das Essen. Aber untereinander gibt es viel Misstrauen, oft explodierende Aggressivität, Ringen um Macht und Stärke. In der fremden Umgebung und in der unklaren Situation der Staatsregelungen ist sich jeder der Nächste. Hasan erschrickt, wie im Flüchtlingsheim die Frauen behandelt werden. Darüber kann er mit niemanden reden. Rituale der Gemeinsamkeit pflegen nur die religiös Engagierten. Viele Flüchtlinge nutzen sie und leiten aus dieser Gemeinsamkeit harte Forderungen ab, die clanartige Hierarchien im Heim begründen. Hasan bleibt Einzelgänger. Kurden, gar Aleviten findet er im Wohnheim nicht. Aus deutscher Perspektive wird der Asylbewerber Hasan schnell zu einem Kandidaten für eine glückende Integration. Schneller und erfolgreicher als die Anderen lernt er die Sprache. Kooperativer und zuverlässiger arbeitet er in dem amtlichen Verfahren mit. Höflicher ist er in der Entgegennahme der Anweisungen der Heimleitung, auch bei der Entgegennahme der materiellen und sozialen Unterstützungsleistungen. Ihn beeindruckt, was der Staat für die neuen Fremden im Land tut. Er gehört zu den Wenigen, die glaubhaft interessiert sind, das Land kennenzulernen, in das er gekommen ist. Er nimmt an allen angebotenen Kursen und Veranstaltungen teil, in denen das Leben in Deutschland erklärt werden soll. Fasziniert ist er vom Gedankengebäude der Demokratie. Darüber zu lesen, zieht ihn in eine Gedankenwelt, die er als Glück empfindet. Das Lesen macht ihm Spaß. Motivation und Neugierde fördern seinen Wunsch, Teil einer Demokratie zu werden, der Fremdheit zum Trotz für sich Perspektiven zu suchen. Wer mit ihm zu tun hat, ist von seinem Enthusiasmus begeistert, registriert sein Bemühen und seinen Fleiß, ist bereit, ihm nachhaltiger zu unterstützen als andere Flüchtlinge. Die neuen deutschen Menschen um ihn herum empfindet Hasan nicht gerade als herzlich, aber auch nicht als unfreundlich. Er weiß, dass sie im amtlichen Auftrag nur berufsmäßig mit ihm zu tun haben. Sie sind eingespannt in ein enges Netz unzähliger Paragrafen. Diese Gängelung durch Paragraphen erscheint ihm das innere Geheimnis des neuen Staates, in dem er jetzt lebt. Er fühlt sich befreit von der Willkür, die er personifiziert in Menschen in seinem Herkunftsland so bitter erfahren musste. Was diese neuen Menschen jenseits ihrer Arbeit denken und fühlen, bleibt ihm verschlossen. Er glaubt, Emotionalität in dem neuen Land gibt es nicht, wie er sie kennt. Für ihn muss sie eine Restgröße im privaten Leben dieser Menschen sein, für ihn nicht zugänglich. Zwischen ihm und ihnen ist immer irgendetwas zwischengeschaltet, sei es Geld, sei es Zeit, seien es Organisationen oder die vielen Gesetze, Regelungen und Vorschriften. Insgesamt möchte er dem neuen Land und ihren Menschen ehrlich jeden Dank und jedes Dankesgebet widmen. Oft rechnet er im Kopf, was alles für ihn getan wird, was das alles kostet, welche Ansprüche ihm zustehen. Da kommt viel Geld für die Flüchtlinge zusammen. Er weiß, das ist das Geld derer, die ihm das Aufenthaltsrecht in Deutschland gewähren. Andererseits fühlt er sich nicht als Gast aufgenommen, spürt bei vielen Widerwillen, Ablehnung, inneren Widerstand, wenn sich die Wege auf den Straßen kreuzen. Nach sechs Monaten ist Hasans Asylantrag positiv beschieden. Er darf sich jetzt wie ein Deutscher im Land bewegen, der arbeiten kann. Er darf sich eine Wohnung suchen, einen eigenen Hausstand gründen und sich in der Demokratie bewähren. Wirklich glücklich fühlt er sich in seinem neuen Leben, als er wenige Zeit später erfährt, dass seine Frau und seine Kinder im Irak gefunden wurden und im kommenden März nach Deutschland nachreisen dürfen. Hasan beginnt, Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben, die er unter der Überschrift „Das neue Leben“ in einer Mappe sammelt, die der deutsche Bundesadler ziert, eine Mappe, die ihm vor kurzer Zeitt mit der Bestätigung seines Asylrechts feierlich überreicht worden war. Mit Frau und Kinder zieht Hasan noch im Frühjahr in eine Wohnung im ausgebauten Keller in einem Dorf nahe der Kreisstadt. Die Frau beginnt mit Näharbeiten, er selbst widmet sich wieder dem Bau von Musikinstrumenten, die bei türkischen und arabischen Lokalbesitzern weit im Land begehrt sind. Die Einkünfte reichen, die Miete zu bezahlen, in die Versicherungen einzuzahlen und einen ausreichenden Lebensunterhalt zu finanzieren. Hasan ist nun Steuerbürger, benötigt keine öffentlichen Unterstützung. Ein Computer kommt ins Haus, der Fernseher läuft, ein Auto steht im Carport. Das hatten die Hasans nie in ihrem Leben vorher gehabt. Ihre Kinder gehen zur Schule, lernen sehr schnell Deutsch, das auch in der Wohnung privat gepflegt wird. Die Kinder finden zwar keine richtigen Freunde, aber ihre Leistungsbewertungen von ihren Lehrerinnen und Lehrern sind hervorragend. Allerdings bleibt der Ball flach gehalten. Vom Besuch des Gymnasiums wird trotz der guten Noten abgeraten. Die Kinder würden das Abitur sicher schaffen, es sei in Deutschland nicht sonderlich schwer. Aber zur Bildung, zum Erfolg im Leben gehöre mehr. Das könne man in der höheren Schule nicht lernen. Besser sei es, den Weg über die Mittlere Reife in eine solide Berufsausbildung zu gehen. Hasan widerspricht dieser Empfehlung nicht. Einige Jahre später erwerben Hasan und seine Frau im neuen Dorf am Ende der Hauptstraße ein kleines Haus. Sie sind nun schon fast zehn Jahre in Deutschland, und in ihren Papieren sind sie nun als stolze Hausbesitzer registriert. Die Kinder beenden die Schule, verlassen das Dorf. Der Sohn geht in die Lehre und will Koch werden. Die Tochter geht zu einer großen Versicherungsfirma und lernt Kunden mit Migrationshintergrund anzuwerben und zu betreuen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, die Integration der Familie von Hasan in Deutschland sei nicht gelungen. Vielmehr kann sie erzählt werden als ein Beispiel, wie gut alles werden kann, wenn sich jeder an seinem Platz und im Rahmen seiner Möglichkeiten genügend Mühe gibt. Hasan kann diese offizielle Lesart nicht bezeugen. Er betont zwar immer wieder, dass es ihm wirtschaftlich besser als je in seinem Leben gehe. Das habe er Deutschland zu verdanken. Auch habe er den Deutschen zu danken, dass er immer noch lebe, auch seine Frau und seine Kinder. Er empfinde es als Pflicht, den Deutschen und dem Land so viel wie möglich von dem erworbenen Geld zurückzugeben. Auf dieser Ebene sei die Integration tatsächlich gelungen. Aber angekommen in der deutschen Gesellschaft? Das sei eher nicht möglich, da machten sich die Deutschen etwas vor. Er sitzt mit seiner Familie zwischen den Stühlen, und das sei der Platz, dem man nicht entkommen könne. Über die lange Zeit seien keine Freundschaften im Dorf gewachsen, so offen ihr Haus auch immer gewesen sei. Die tolle Demokratie reiche nicht in den Alltag der Menschen, in dem viele unsichtbare Mauern Grenzen markierten. Versuche der Hasans, Bekanntschaften zu pflegen, die Feste mit den Dorfbewohnern gemeinsam zu feiern, in ihren Vereinen und Organisationen mitzuarbeiten sind gescheitert. Toleriert, so Hasan, werde man nur, wenn man sich nicht einmischt, sich unsichtbar macht. Als der Sohn mit 14 Jahren, ausgestattet mit einer fetten Spende des Vaters, in der Jugendgruppe der Freiwilligen Feuerwehr mitmachen will, wird ihm erklärt, das gehe nicht, weil Ausländer nicht genügend zuverlässig seien, wenn die Scheune eines deutschen Bauers brenne. Ähnlich geht es der Tochter, die nicht in der örtlichen Tanzgruppe aufgenommen wird, weil ihre schwarzen Haare und braunen Augen und das Gesicht einer Fremden nicht zur Harmonie und zum Ansehen der deutschen Reigen und Trachten passe. Hasan ist inzwischen überzeugt, auf der Hut sein zu müssen, wenn der ewig vorgetragene Satz fällt: „Wir haben nichts gegen Ausländer.“ Tatsächlich hat sich die Mutter bei vielen Kundinnen großes Ansehen mit ihrer Näharbeit erworben. Sie kommen überwiegend aus der Ferne, denn die Ergebnisse sind fantastisch und die Preise günstig. Im Dorf jedoch schicke es sich für die meisten Frauen nicht, zu ihr zu gehen. Der zweite Satz im Dorf oder auch von den Kunden lautet stets: „Wo kommst du her?“ Andere Fragen bleiben jedoch aus. Freundinnen hat sie selbst unter ihren freundlichsten Kunden nicht gefunden. Hasans Begeisterung für die Demokratie ist das Fundament für seinen Seelenfrieden im neuen Land geblieben. Alle Versuche jedoch, durch ein Mitgliederaufnahmeverfahren, Fuß in ihren Organisationen zu fassen, sind gescheitert. Es gab nur eine nicht einmal ernst gemeinte Anfrage aus den Kreisen des örtlichen Schützenvereins im Dorfwirtshaus, ob er nicht beim nächsten Schießen und dem anschließenden feuchten Männerabend mitmachen wolle. Hasan wollte nicht und wurde auch nie wieder von irgendwem gefragt. Das Dorf ist im Laufe der vielen Jahre ihm und der Familie gegenüber immer verschlossener geworden. Sich in irgendwelchen Mulikultigruppen zu wärmen, ist nicht möglich. Die gibt es weit und breit nicht. Hasan macht sich viele Gedanken, wie es möglich ist, einen demokratischen Staat zu unterhalten ohne demokratische Grundsätze in der Gesellschaft zu verankern. Im Dorf ist Hasan der einzige Bewohner, der neben der örtlichen Zeitung eine überregionale „große“ Zeitung abonniert hat. Aufmerksam verfolgt er ab dem Jahr 2005, wie sich ein Wandel gegenüber den zugewanderten Ausländern und ihren Kindern abzuzeichnen scheint. Halb verstört, halb stolz, so scheint es Hasan, entdecken die Deutschen, dass inzwischen etwa ein Viertel der Landesbevölkerung einen Migrationshintergrund hat. Hasan übersetzt die großen Aktivitäten der Bundesregierung, einen breit angelegten Nationalen Migrationsplan auszuarbeiten, als späte Entdeckung. Mit dem Zauberwort Migrationshintergrund erkennen sie gleichsam eine neue Klasse der Gesellschaft an. Die Debatten werden lebhafter, polarisieren. Hasan hofft einerseits, dass sich Ghettos öffnen, dass nun Strukturen entstehen können, in die er sich wie auch viele anderen Eingewanderten einbringen können. Auf der anderen Seite fürchtet er sich vor den vielen stillen Menschen, die sich nun den Lautstarken anschließen werden, um ihren Hass gegen die Fremden offen herauszuschreien. Er kennt die einfachen Gefühle dieser Menschen, Kriminalität, soziale Verwerfungen, Gewalttätigkeiten und Unfrieden vorzüglich den Ausländern in der Gesellschaft zuzuordnen und marodierend mit dem Schlachtruf „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ durch die Straßen zu ziehen. „Wir haben nichts gegen Ausländer, aber die Schreihälse haben auch Recht.“ So hört Hasan die Stummen in seinem Dorf und im weiten Land. Vor ihnen hat er Angst. Die Migranten sind für Hasan keine Klasse. Wie er vor vielen Deutschen Angst hat, hat er auch vor vielen Eingewanderten Angst, die sich nun ihren Hintergrund sanktionieren und auf den Weg machen, der Gesellschaft zu zeigen, um welchen Hintergrund es sich tatsächlich handelt. Hasan ist ein gläubiger Mensch und er gesteht jedem seinen Glauben zu, solange er damit nicht die Ernsthaftigkeit anderer Glaubenden in Frage stellt oder gar verdammt. Was ihn erschreckt, ist die Intoleranz mancher Einwanderer, die ihren islamischen Glauben instrumentalisieren zum Kampf gegen die westliche Zivilisation. Für ihn darf es keine Gotteskrieger geben. Sie hatten schon das Leben seiner Kurden zerstört und würden es immer wieder tun, wo immer sie einen Grund für Terror und Krieg finden. Dass Gotteskrieger nun auch in Deutschland als notwendiges Schlachtfeld ausrufen, ist für ihn eine Herausforderung. Gegen sie zu sein, ist für ihn ebenso klar wie für die Deutschen, zu denen er aber nicht gehört, weil er ja wie die Gotteskrieger zum Teil der Eingewanderten gehört. Hasans Bild von den radikalen Islamisten ist stark von seinem Leben und seiner Geschichte geprägt. Seine Angst, sein neues Haus könne wieder in Flammen untergehen wie sein altes Haus, war umso verzweifelter, weil es letztlich nicht erheblich ist, ob die Brandstifter üble Islamisten oder marodierende deutsche Ausländerhasser sein können. Dabei liebt er den Islam, der nicht seine Religion ist. Er ist die Quelle seiner Lyrik, sanft, voller weicher Berührungen, lebensfroh und voller paradiesischer Zukunft. Er hat im Islam so viel Poesie in seiner früheren Heimat gefunden. Tiefer Respekt begleitet ihn in seinen literarischen Begegnungen mit Menschen, die sich in der Mystik religiöserer Erleuchtungen und Gedanken versenken können. Er versucht, die sanfte Schönheit ihrer Worte nachzuahmen, denkt an manche Menschen, die er mit seiner Flucht verloren hat. Nicht der Islam hatte ihn aus seinen Bergen vertrieben. Es waren die fürchterlichen Männer, die Mohamed das Schwert aus den Händen gerissen hatten, das der Prophet mit den Suren zu zähmen versucht hatte. Hasan war sicher, alle historischen Religionen waren mächtig geworden, weil sie sich an die Mächtigen verkauft hatten. Ach der Diktator aus Bagdad hatte seine Hand auf den Koran gelegt, bevor er die Vergasungen in Halabdscha befahl. In seinem neuen Haus im neuen Dorf in dem neuen Land ist er immer einsamer geworden, so erfolgreich die Hasans ihr Leben auch abgesichert hatten. In Deutschland ist die Poesie des Islam nicht zu Hause. Er hat sich von den islamischen Gemeinden getäuscht gefühlt, die ihn auch im neuen Land als Verräter und Verbündeten des Teufels brandmarkten. Migrantenvereine, die er kennengelernt hatte, sind für ihn Gefäße, in denen Terror und Töten, Diskriminierung und Verfolgung als die höchsten Formen des menschlichen Kampfes im Namen Allahs verherrlicht werden, in denen es um Macht und Herrschaft geht, wenn der Prophet als Führer vereinnahmt wird. Sie verherrlichten eine Geschichte des Islam, in der sich religiöse Handlungsanweisungen, soziale Normen und politische Ansprüche zur Wiege arabischer Reiche und großfamiliärer Clans zimmern lassen. Die Geschichte gibt ihnen immer Recht, und ein Gemisch aus ein paar herausgefilterte Sprüche und Gerüchte des großen Propheten verleihen ihnen absoluten Wahrheitsanspruch. Das konnte nie seine Religion sein, und sein Leben mit seiner Frau und den Kindern hütete er als menschlichen Widerspruch gegen das explosive Gemisch religiös vorgetragener Glaubensüberzeugungen und Männerphantasien, mit denen kriegerische Schlachten und blutige Aktionen zum Arsenal gehören, mit denen Allahs Wille auf dieser Erde verwirklicht werden sollte. Hasan verdächtigt viele Migranten, dieses Gepäck aus dem Islam in sich zu tragen, auch wenn sie sich friedfertig in ihr Schicksal in Deutschland zu fügen scheinen. Er beobachtet, wie sich aus der Klasse der Migrationshintergründigen zunehmend junge und alte Menschen in Gruppen zusammenschließen, um sich als Wölfe, als Gotteskrieger für einen Islamischen Staat der verkommenen Welt des Westens entgegenzustellen. Er registriert, wie gerade von seinem am besten zahlenden Kunden in den letzten Jahren der Druck auf ihn gewachsen ist, gegen die Entrechtung der muslimischen Migranten einzutreten, für ihm unbekannte Organisationen zu spenden und zu zahlen. Pamphlete sind ihm in den Briefkasten gesteckt worden, in denen er als Hasan al Kurdi bezeichnet wird. Er weiß, welches Signal ihm da gesendet wird. Starke Männer haben vor seiner Tür gestanden und ihn aufgefordert, Schutzgeld für türkische und arabische Organisationen freiwillig zu zahlen, wenn er in Ruhe weiterleben wolle. Und ein Freund von ihm, ebenfalls ein Kurde, der weit entfernt in einer großen Stadt lebt, empfiehlt ihm, das Geld an zwei oder drei Gruppen zu zahlen. Es sei für ihn besser so. Hasan lehnt das Begehren entschieden ab. Das wäre gegen seine Ehre, gegen sein anständiges Leben in Deutschland gewesen. Aber diese Standfestigkeit bringt keine Ruhe. Sie vergrößert seine Angst. Es kommen Drohungen in rüder Sprache. Aber er macht bei der Polizei keine Anzeigen. Tief verletzen ihn Verschmähungen seiner Frau. Sie trägt kein Kopftuch, gibt den Ungläubigen die Hand. Schlampe schimpft man sie und ihn einen Hurensohn. Schon so lange in Deutschland bilanziert Hasan, dass er keine Integration erreichen kann, die er einst erhofft hatte. Es bleibt sein Schicksal, zwischen den Stühlen festzuklemmen. Bilder aus seinem Leben in den iranischen Bergen kleben vor seinen Augen. Fotografien gibt es keine, und er wollte nie wieder dorthin zurück. Hier ist er angekommen aber nicht zu Hause. Respekt ist das Höchste, was er erwarten darf, wenn sie ihn nicht anfeinden. Und sowohl bei den Deutschen wie auch bei den Zugewanderten gibt es zu viele, bei denen es nicht einmal zum Respekt reicht. Die Integration fängt vielleicht erst in der nächsten Generation mit den Kindern an? Hasan und seine Frau hofften das lange und taten alles dafür. Auch die Kinder geben sich redlich Mühe und sind erfolgreiche Akteure in der deutschen Leistungsgesellschaft. Aber die beiden Alten fühlen von Jahr zu Jahr mehr, wie einsam auch die Kinder bleiben. Sie wissen nicht, wer sie sind, wohin sie wirklich gehören, wo die Mitte ihres Lebens liegt. Sie singen die Lieder ihrer Eltern, spielen auf den Instrumenten ihres Vaters, kochen die Köstlichkeiten ihrer Mutter. Die Kinder besuchen ihre Eltern nur selten. Aber sie besuchen auch andere Menschen nur selten. Nur das kurdische Neujahrsfest feiern sie gemeinsam in großer Gesellschaft, fröhlich, melancholisch. Dann klingen vertraut und strahlend die Musikinstrumente, die Hasan gebaut hat.
  5. Ulrich Pätzold Helden unter und über der Erde – Im Berliner Polizeimuseum Der Winter im ersten Monat des Jahres 1929 bot den Berlinern ein grandioses Schauspiel. Vor ihren Augen spielte sich ein Krimi ab, der in die Geschichte eingegangen ist. Ein paar Fragmente dieses Krimis sind im Museum des Berliner Polizeipräsidenten am Platz der Luftbrücke zu besichtigen. Im Winter 1929 geschah einer der größten Coups im Leben der legendären Brüder Franz und Erich Sass, von der Öffentlichkeit fast sehnsuchtsvoll erwartet und nun tatsächlich schaurige Wirklichkeit geworden. Fotos und Berichte im Museum können die Emotionen nur erahnen lassen, die mit dem spektakulärsten Raub in Berlin die Öffentlichkeit erregte. Am 30. Januar 1929 wächst vor einer Absperrung einer Zweigstelle der Discontobank am Wittenbergplatz, Ecke Kleiststraße eine Traube von Männern und Frauen. Hälse strecken sich, als könne man irgendetwas Geheimnisvolles oder Schauerliches in der Bank erblicken. Das Raunen in der angespannten Menge ist förmlich zu hören, mit dem ungeheuerliche Nachrichten weiter gereicht werden. Es ist ein kühler und trüber Tag. Schneematsch liegt an den Straßenrändern. Die Männer tragen Hüte, Frauen dicke Mäntel und Kopftücher. Auf einigen Mündern ist ein zartes, zaghaftes Lächeln zu erkennen, Neugier steht den Menschen ins Gesicht geschrieben. Die Augen sind fest auf die Tür der Bank gerichtet, vor der Ordnungshüter Wache stehen. Nichts Genaues weiß man nicht, Gerüchte werden ausgetauscht, Vermutungen als gesicherte Informationen weiter getragen. Schier unglaubliche Sätze geistern von einem zum anderen und werden, kaum ausgesprochen und gelauscht, erregend gruselig gefühlt. Die Tat liegt schon drei Tage zurück, keiner hatte sie zunächst bemerkt. Erst an diesem Morgen ist sie Gewissheit geworden und wird nun erlebt, als dampfe noch eine heiße Spur. Was die Menschen elektrisiert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Brüder Sass wieder zugeschlagen haben. Tatsächlich waren drei Tage vorher Franz und Erich in den hoch gesicherten Stahlraum im Keller der Bank eingestiegen und hatten 179 der 181 Schließfächer geknackt und leer geräumt. Als man schließlich drei Tage später das Deliktum in Augenschein nehmen konnte, fand man außer dem Chaos der leeren Fächer nur zwei leere Weinflaschen. Geschätzte zwei Millionen Reichsmark waren geraubt. Vielleicht waren es auch mehr. Denn in den Fächern wurde viel Geld gebunkert und gelagert, das aus zwielichtigen Quellen stammte oder unterschlagen war. Keiner sollte von diesen Schätzen wissen, schon gar nicht das Finanzamt oder die Polizei. So haben sich sehr viele der Geprellten nach dem Raub sicherheitshalber gar nicht erst gemeldet, um ihre Schäden im Einzelnen nachzuweisen. Die Sass-Brüder, so wurde in den späteren Prozessen klar, wollten nicht einfach nur Geld. Sie wollten es vor allem von denen, so behaupteten sie, die es der Allgemeinheit vorenthalten hatten. Aber von Prozessen kann noch lange keine Rede sein. Noch gibt es in den Köpfen der Schaulustigen kaum mehr, als ihnen die Fantasie vorspielt, die sich mit dem Namen Sass in wunderlicher Weise sofort regt. Das Gedränge vor der Bank wird immer größer. Keinerlei Einbruchspuren sind zu sehen, nur das rotweiße Absperrband vor der Eingangstür. Hinter den hohen Fenstern leuchtet das Licht in dem vollständig intakten Kassenraum. Noch zwei Tage lang nach dem Raub sind die Bankgeschäfte ganz normal weiter gelaufen. Keiner der Angestellten hat etwas gemerkt, was sich da im Keller im Hochsicherheitstrakt abgespielt hat. Erst Tage später stellt ein Bediensteter fest, dass die dicke Tür zum Stahlraum nicht zu öffnen ist. Sie scheint von innen blockiert zu sein. Der Bedienstete macht Mitteilung. Man rechnet mit einem technischen Defekt in der Verschlussanlage, denn es sind keine Spuren zu erkennen, die auf ein gewaltsames Einwirken auf die Stahltür hinweisen. Selbst die Spezialisten der zur Hilfe gerufenen Firma Arnheim&Tresor sind schnell am Ende mit ihrem Latein. Nichts geht, nichts ist zu machen. Die Tür ist nicht zu bewegen. Es dauert noch einmal Stunden, bis zwei Maurer einen Durchbruch der starken Betonaußenwand geschafft haben. Was sich ihren Blicken dargeboten hatte, sei unbeschreiblich, erzählte man sich draußen auf der Straße. Die Ermittlungen später ergaben, dass die Täter einen Schacht genutzt hatten, der den Raum künstlich mit Luft, also mit Sauerstoff versorgte und sich schräg nach oben schlängelte und auf dem Hinterhof der Bank endete. Die Täter hatten einen Tunnel vom Nachbarhaus in die Tiefe gegraben, der just in diesem Schacht endete. Wochenlange Arbeit war dazu notwendig. Sie hatten ihre Arbeit so perfekt gemacht, dass selbst dieses Tunnelkunststück den Ermittlern erst nach längerer Zeit der Inspektionen aufgefallen war. Um in den Schacht zu gelangen, war lediglich ein 50 mal 70 Zentimeter großes Loch gestemmt, durch das dann die Täter ihre Beute über einen relativ langen Zeitraum entsorgen konnten, gewissermaßen bei laufendem Geschäftsbetrieb. Unter den polizeilichen Ermittlern war auch der Kriminalsekretär Max Fabich. Als Sekretär war seine Stellung in der polizeilichen Hierarchie nicht gerade hoch. Aber er durfte sich als der eigentliche Spezialist in Sachen Sass empfinden, weil er gelernt hatte, deren Handschrift bei der Spurenbewertung zu lesen. Er hatte bereits über mehrere Jahre Untersuchungsergebnisse ausgewertet, die aus seiner Sicht eindeutig auf das Wirken von Franz und Erich Sass hinwiesen. Und auch jetzt am 30. Januar war sich Max Fabich sicher, dieses Husarenstück der Einbruchskunst könnten nur die Brüder Sass zustande gebracht haben. Dieses tat er auch sofort und gleichen Tages dienstlich wie öffentlich kund. So war die fiebernde Neugier der Menschen vor der Bank an diesem kalten Januarmittag als Frage zu verstehen, ob man dieses Mal nun endlich die Helden einer fantastischen Raubkriminalität fassen und dingfest machen würde. Max Fabich hatte seine Akte Sass bei der neuen Untersuchung im Keller der Discontobank am Wittenbergplatz fest im Griff und alle Indizien im Kopf, die er aus früheren Fällen dem Täterprofil der Sass-Brüder zugeordnet hatte. Seit 1927 hatte es in Berlin in kurzer Folge spektakuläre Einbrüche gegeben, deren Methoden auf gleiche Vorgehensweisen hinwiesen, obgleich am Tatort nie irgendwelche Fingerabdrücke gefunden wurden. Stets ging es um Banktresore, und stets war als Werkzeug ein Schneidbrenner der Firma Fernholz im Spiel. Der erste Einbruch geschah in der Berliner Bank in Moabit, in direkter Nachbarschaft der Wohnung der beiden Sass-Brüder. Da waren die Brüder bereits bis zu den Tresoren gelangt, mussten aber lernen, dass ihr Schneidbrenner erlahmte, wenn der Sauerstoff im Raum zu knapp wurde. Immerhin waren sie die Pioniere für dieses Instrument, das vorher noch keiner auf einem Raubzug eingesetzt hatte. Fabich war ihnen auf der Spur, weil er sie als Käufer dieses Gerätes festgestellt hatte. Aber er konnte nicht beweisen, dass sie tatsächlich mit eben diesem Instrument in der Bank hantiert hatten. Beweise fehlten ihm auch nach dem zweiten großen Versuch der Sass-Brüder, der nachts zum 4. Dezember 1927 gestartet wurde. Da hatten sie einen Tunnel zum Keller der Dresdner Bankfiliale am Savignyplatz in Charlottenburg gegraben. Die Arbeit war überaus sauber. Keine Fingerabdrücke, keine lauten Wanddurchbrüche, sorgfältiges Aufpulen der Ziegel, nicht mehr als unbedingt nötig. Doch das Werk konnte auch hier nicht abgeschlossen werden. Die Brüder beobachteten die Polizei, die sich versteckt auf die Lauer gelegt hatte. Bevor die Beamten zuschlagen konnten, hatten sie ihre Arbeit abgebrochen und waren spurlos verschwunden. Tagelang hatten die Vorarbeiten zum nächsten Bruch am 28. März 1928 im Reichsbahngebäude am Schöneberger Ufer nahe dem Gleisdreieck gedauert. Dieses Mal gruben sie sich von einem Raum im Erdgeschoss nach oben in den ersten Stock, wo der Tresor stand. Sie bohrten nachts das quadratische Loch so geschickt, dass sie es mit einer Attrappe zudecken konnten, die tagsüber bei den Mitarbeitern keinerlei Aufsehen erregte. Allerdings wurde diese Aktion durch einen Nachtwächter verdorben. Der hielt die Bohrgeräusche für Katzengeschrei und machte Licht, um die Tiere zu verscheuchen. Da waren die Brüder bereits schon wieder verschwunden. Max Fabich fand den Schneidbrenner, die Seriennummer ausgefeilt. Da wusste er, es können nur die Sass-Brüder gewesen sein. Wenige Wochen später war sich die Polizei sicher, die Brüder bei einem Einbruch in der Budapester Straße in flagranti erwischen zu können. Es gab wieder Bohrgeräusche, Bewohner waren aufmerksam geworden, die Polizei kam. Man fand wieder die typischen Wanddurchbrüche und es roch noch nach dem Brenner. Wie ein Labyrinth waren Attrappen aufgestellt. Die Sass-Brüder indessen hatten sich in Luft aufgelöst. Wenige Wochen später am 20. Mai 1928 dann ihre bis dahin spektakulärste Tat. Sie hatten sich den Tresor im Landesfinanzamt Alt-Moabit ausgesucht. In ihm ruhte im Keller ein Millionenschatz der Reichfinanzkasse als nächste Rate, die an Frankreich als Reparationskosten für den ersten Weltkrieg auszuzahlen war. Die Sass-Brüder mussten sich an zwei Wachleuten mit zentnerschwerem Gerät vorbeischmuggeln, um sich an ihre Arbeit machen zu können. Die Wachleute merkten nichts. Alles lief nach Plan, und die beiden Sass hatten den Tresor bereits aufgeschweißt. Im Wachzimmer war die Alarmanlage. Erich hatte die notwendige Aufgabe zu lösen, den Draht der Anlage durchzuschneiden. Das sollte während eines Rundgangs der Wächter geschehen. Doch unvermutet kam ein Wächter zurück. Erich konnte sich gerade noch weg ducken und die Brüder mussten wieder einmal ohne Beute fliehen. Werkzeuge, die sie zurücklassen mussten, waren für Max Fabich Beweise für seine Täterhypothese. Die reichten aber auch in diesem Fall nicht für eine Anklage aus. Auch Max Fabich hatte im Laufe der Zeit immer mehr Achtung vor der Qualität und Professionalität dieser zwei Verbrecher gewonnen. Es hatte ihn nicht überrascht, dass endlich einmal wie jetzt am Wittenbergplatz ein Raubzug mit einem ganz großen Erfolg der beiden Verbrecher enden würde. Mit innerer Bewunderung und voll Staunen registriert Fabich nun die Spuren, drei Tage nach der Tat. Dieses Mal ist alles perfekt gelaufen. Logistik und Ausführung sind noch beeindruckender als alles, was er früher zu Protokoll nehmen musste. Schnell ist sich Fabich sicher, ein solches Meisterwerk können nur Franz und Erich Sass zustande bringen. Und er ahnt, dass sie sich dieses Ruhmes auf ihre Weise brüsten werden. Denn es gibt keine Beweise, obgleich er sich seiner Vermutungen sicher ist. Keine Werkzeuge werden gefunden, keine Fingerabdrücke nicht einmal an den leeren Weinflaschen, die im Tresorraum gefunden werden. Er hat nichts in den Händen außer seiner Täterhypothese im Kopf. Mag diese auch noch so wahrscheinlich sein, der Staatsanwaltschaft reicht das nicht. Die Zeitungen schreiben fast begeistert über dieses Räuberstück genialer Krimineller. Sass ist längst ein öffentlich hoch gehandelter Name. Die Brüder sind Stars, und eigentlich sind alle der Meinung, es können nur die Brüder gewesen sein, die nun auf einer dicken Beute sitzen. Die Schaulustigen raunen sich bereits zu, man habe die Brüder fest genommen. Aber ob es dieses Mal reichen würde? Sie hatten ihre Zweifel. Im Museum ist die Geschichte Sass und die Polizei ausgestellt. Der Kriminalsekretär Max Fabich hatte alles richtig gemacht, was ein intelligenter Kriminalpolizist machen kann. Er war den Tätern auf der Spur, weil er sich in die Gedanken und Methoden versetzen konnte, mit denen die Täter ihr Handwerk ausüben. Er war sich auch sicher, dass die Täter Insiderwissen über die Anlagen ihrer Einbruchsorte haben mussten, was ohne Verbündete in den Gebäuden kaum zu erlangen war. Fabich empfand Respekt und Bewunderung für die Intelligenz und die handwerklichen Fähigkeiten der von ihm Gejagten. Sie entzogen sich ihm nicht, und er hätte sie leicht für ein Gespräch von Experte zu Experte besuchen können. Er konnte sie auch immer mal wieder für Tage festsetzen lassen. Aber er konnte nichts beweisen, was der Prüfung der Juristen mit ihren Paragraphen standhielt. So waren auch dieses Mal die beiden Brüder schnell wieder freie Männer. Zur Geschichtsschau des Sass-Falles im Polizeimuseum gehören auch zahlreiche Zeitungsartikel aus jenen Tagen. Die Gebrüder Sass erfreuten sich bester Kontakte zur Presse, gaben gerne exklusive Interviews und spielten ihre Rolle als Volkshelden perfekt. Millionen Menschen in Deutschland waren arbeitslos, Kleinkriminalität war an der Tagesordnung. Da passte ein Krimi, in dem Täter ihre Raubzüge wie Possen inszenierten, die zur Theaterbühne der großen Krise wie Märchen vom Robin Hood passten. Die im Dunklen sieht man nicht, war die Botschaft. Und man kann sie nicht fassen, war die nüchterne Realität. Es war gerade ein halbes Jahr her, dass am 31. August 1928 am Schiffbauer Damm die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht uraufgeführt worden war. Sofort wurde sie im märchensüchtigen Berlin der 20er Jahre ein Renner. Einen Jonathan Peachum erdichteten sich die Brüder für das Publikum und schlüpften in seine Rolle. Die Dreigroschenoper wurde in wenigen Monaten zum erfolgreichsten Theaterstück der Weimarer Republik. Die Brüder Sass waren die erfolgreichsten realen Ganoven in der gleichen Zeit. Aufsehen und Aufmerksamkeit von Theater und Realität flossen in der Berichterstattung ineinander. Die Helden ließen es sich nach der Räumung des Tresorraums in der Discontobank nicht nehmen, Glamour und Selbstsicherheit in der ruchlosen Geschichte zu zeigen. Auf Zeitungsbildern sieht man sie als elegante Herren, die in den besten Etablissements der Stadt als Entertainer hätten auftreten können. Jung und bestens gekleidet schienen sie ihren Starkult genüsslich öffentlich auszuschlachten. Die Helden geben nach ihrer schnellen Freilassung mangels Beweise schon am 6. April 1929 eine rauschende Pressekonferenz, zu der sie ins vornehme Lutter&Wegner am Gendarmenmarkt einladen. Umhegt von ihrem Anwalt, der sich später das Leben nehmen wird, lassen sie all ihren Charme spielen und kredenzen den Journalisten Sekt und wohl bereitete Speisen, durch und durch Gentlemen, die eloquent die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu beklagen wissen und von anstehenden Verträgen für fantastische Filmverpflichtungen berichten. Max Fabich sitzt dagegen in seinem eher grauen Büro. Das Polizeipräsidium von Berlin ist mitten in den 20er Jahren eine mächtige Behörde. Die brodelnde Weltstadt beflügelt die Tüchtigkeit ihrer großen Kriminalapparate. Nach Reformen und mit neuen Strukturen gilt sie als eine der modernsten Polizeiorganisationen in der damaligen Welt. Die strikte Trennung zwischen den Ermittlern, der Kripo und der Staatsanwaltschaft, sowie den Gerichten, die über die mögliche Bestrafung entscheiden, ist erst in der neueren Zeit der Geschichte Schritt für Schritt vollzogen worden. Im Museum des Polizeipräsidenten in den Gebäuden des ehemaligen Flughafens Tempelhof ist zu erfahren, dass es erst seit 1885 einen eigenen polizeilichen Erkennungsdienst gibt, in dessen Folge sich die polizeilichen Spezialabteilungen für Mord, Raub oder Einbruch entwickelt haben. Im Museum agiert die Polizei in einer ständigen Bewegung ihrer Organisationsstrukturen. Ständig ändern sich die gesetzlichen Grundlagen ihrer Arbeit. In kurzen zeitlichen Abständen muss sich die Organisation einem anderen politischen System anpassen. Immer wieder werden die Aktionsräume für die professionelle Polizeiarbeit verändert. Ein Landeskriminalamt gibt es für Max Fabich noch nicht. Schlussfolgerungen aus den Ermittlungen muss der Sekretär für sich allein ziehen. Er fühlt sich in der Polizei zwar als Einziger den Sass-Brüdern ebenbürtig. Aber er war kein Held für die Öffentlichkeit und er wird von den Medien in ihren Krimis kaum erwähnt. Max Fabich wartet auf seine Chance. Ein Kriminalsekretär hat innerhalb der Polizeihierarchie nicht viele Möglichkeiten, seine Strategien durchzusetzen, wenn sich seine Vorgesetzten sein Ermittlungswissen nicht zueigen machen. Im Falle der Sass-Brüder hat er wenig Rückendeckung in der Behörde. Die große Polizeiorganisation will nicht als Verlierer dastehen. Sie hält es für richtig, zu Protokoll zu geben, dass noch ermittelt und jeder Spur nachgegangen wird. Der selbstsichere Max Fabich ist also kein starker Mann. Als strenger Katholik weiß er zudem, dass ihm Karriere und Aufstieg verwehrt bleiben werden. Die Konfession spielt für die Personalpolitik noch eine erhebliche Rolle. Sein Ehrgeiz ist also uneigennützig, einzig in der Verstrickung in die Einbruchsfälle begründet. Aber als Einzelkämpfer schwärmt er für einen anderen Polizisten, der mit der Aura eines großen Einzelkämpfers ausgestattet ist. Für seine Arbeit hat er im Polizeipräsidium einen ranghohen Kollegen als Vorbild, der Ernst August Ferdinand Gennat heißt. Gennat ist der Star in der zentralen Mordinspektion der Stadt. Gennats Abteilung erzielt die traumhafte Aufklärungsquote von 95 Prozent, mehr als die 87 Prozent, die heute mit ungleich differenzierteren Methoden erreicht werden. Dagegen bleibt die Inspektion Raub, in der Fabich arbeitet, mit 52 Prozent weit zurück. Dieser ungleiche Erfolg wurmt ihn und spornt ihn an. Er möchte der Gennat der Aufklärung großer Raubzüge werden. Gennat genießt den Ruf, einer der begabtesten und erfolgreichsten Kriminalisten in Deutschland zu sein. Er ist ein Meister des Profiling, verfügt über ein hervorragendes Gedächtnis und hat ein ausgeprägtes psychologisches Einfühlungsvermögen. Das sind genau die Fähigkeiten, über die auch zu verfügen Max Fabich für sich in Anspruch nimmt. Max Fabich ist von sich überzeugt. Es gibt Kollegen, die empört über das provozierende Auftreten der Sass-Brüder sind und die Höflinge in den Zeitschriften und Zeitungen nicht verstehen können. „Ich könnte denen bei solchen Sektfrühstücken rechts und links in die Fresse schlagen“, hört er sie in seinem Büro wüten, wenn sie Neues aus der Presse erfahren müssen. Dann lächelt Fabich und antwortet ihnen mit einem Gennat-Satz: „Wer mir einen Beschuldigten anfasst, fliegt! Unsere Waffen sind Gehirn und Nerven!“ Er ist sich sicher, mit seinen Waffen die Täter noch zur Strecke zu bringen. Das Polizeimuseum gab es schon 1931, als Charlie Chaplin in Berlin weilt und dem Polizeipräsidium einen Besucht abstattet. Da ist der Fall der Brüder Sass noch nicht entschieden und Max Fabich wird von Chaplin sicher nicht befragt. Aber an den Besuch des Museums erinnerte sich Charlie Chaplin mit schauderndem Grausen: „Ich war dankbar, als ich das Haus verlassen konnte,“ notierte er, nachdem er die „Photographien von Ermordeten, Selbstmördern und menschlichen Entartungen und Abnormalitäten jeder erdenklichen Art“ erkundet hatte. Chaplin war zur Premiere seines Films „City Lights“ nach Berlin gekommen. Er ist ein Meister der psychologischen Dramaturgie, mit der er, durchaus ähnlich wie Bertolt Brecht, die dunklen Abgründe der Gesellschaft in den Spielstätten von Armut und Verbrechen ausleuchtet. Er ist aber auch ein großer Bewunderer der Berliner Polizei, von der er sich zu seinen Filmgeschichten inspirieren lässt. Die Geschichte von Franz und Erich Sass wäre für ihn eine hervorragende Filmgeschichte gewesen. Aber die Großen des Präsidiums reden mit ihm lieber über die Erfolge als über nicht aufgeklärte Fälle. Die Brüder Sass wären ein Chaplinthema gewesen. Der Komiker hätte lebhaft in einem solchen Film über die Wohnung der beiden Jungens erzählt, die 1904 und 1906 auf die Welt gekommen waren. Der Lohnschneider Andreas Sass und seine Frau, die Wäscherin Marie Sass hatten fünf Kinder. Die große Familie lebte auf 40 Quadratmetern im Hinterhof des Hauses Birkenstraße 57 in Moabit nahe am Kriminalgericht und dem angrenzenden riesigen Untersuchungsgefängnis. Es gab ständig kleinere und größere Delikte von Franz und Erich. Polizei und Fürsorge gehen als ständige Besucher in der Wohnung Sass ein und aus. Einbruch, das lernen die beiden Brüder sehr schnell, ist ein Handwerk, das gelernt sein will. Chaplin hätte sich viel Mühe gegeben, hinter dem rauen Kern des Alltagslebens und der schroffen Sprache der Akteure die Achtung in der Familie und in der Nachbarschaft nachvollziehbar auszumalen, derer sich die beiden Jungen in zunehmendem Maße erfreuen dürfen, je perfekter sie ihr Handwerk zu beherrschen lernen. Er hätte gezeigt, wie der soziale Respekt mit den klaren Wertentscheidungen der beiden Ganoven korrespondiert: Nimm von keinem, der zu wenig hat und teile deine Beute mit denen, die sie genauso bitter brauchen wie wir selbst. Chaplin hätte eine soziale Geschichte erzählt und nicht einfach die Figuren von Gelegenheitsverbrechern vorgeführt, die mit komischen Kunsttücken das staunende Publikum zum Lächeln verführen konnten. Er hätte auch nicht einfach einen Krimi gedreht, an dem die Spannung reizt, wie am Ende der Täter zur Strecke gebracht wird. Er hätte in eine patriarchalische Welt geführt, in der die strengen Regeln auch ganz weit unten im Miljöh gelten. Er hätte gezeigt, wie da jemand zum Helden werden kann, der Kriminalität beherrscht und sein Standesbewusstsein offen zeigen kann, weil er einen klaren Ehrenkodex als soziale Verbindung zu seinen Bewunderern aufrecht erhält. Täter einer Legende konnten die Brüder Sass nur werden, weil sie ihren Verstand und ihr Können für solche Raubzüge gebrauchten, mit denen keine Menschen physisch oder psychisch geschädigt wurden. Wenn dabei Geld verschwand, so durfte man darüber hämisch lachen, solange es nicht das eigene war. Franz und Erich Sass haben sich feiern und bewundern lassen, weil sie nichts zu verstecken hatten außer das erbeutete Geld. Sie wurden von ihresgleichen angebetet, weil die Polizei keine Beweisstücke für eine Verurteilung fand. Für alle gab es das sichere Einverständnis, dass die Sass-Brüder gerissene Raubdiebe sind. Das wusste die Polizei, das wussten die Zeitungen, das wussten die Hinterhofbewohner in Moabit, im Wedding oder in Neukölln. Aber ihnen dennoch nicht richtig auf die Schliche gekommen zu sein, das wurmte die Einen, während es die Anderen stolz machte. So konnten Franz und Erich nach dem Raub in der Discontobank am Wittenbergplatz wie Operettenkönige bei Lutter&Wegner auftreten, Meister eines räuberischen Handwerks, vor dessen Effizienz sich keiner fürchten müsse, der es mit seinem wenigen Hab und Gut nie zu einem Schließfach oder Tresor bringen würde. Charlie Chaplin verließ die Stadt ohne Filmstory der Sass-Brüder. Die aber präsentierte 2001 der Regisseur Carlo Rola, mit den starken Schauspielern Jürgen Vogel und Ben Becker in den Rollen der Brüder und Henry Hübchen in der Gegenrolle des Max Fabich. Es ist ein wunderbarer Film, der inzwischen selbst im Archiv, in einem Museum liegt. Charaktere der Geschichte sind nicht im Spiel der Leinwandakteure identisch. Aber Schauspieler wie diese drei können blendend und einfühlsam ein Gefühl für die Charaktere derer schaffen, die sie spielen. Der Kriminalsekretär Max Fabich wäre beinahe doch noch ein Polizeiheld geworden. Ganz nahe einem spektakulären Triumph muss er dann doch wieder eingestehen, verloren zu haben, ein tragischer Held. In den Weihnachtstagen 1929 spielen sich auf dem Charlottenburger Luisenfriedhof in der Nacht seltsame Dinge ab. Wieder geht es unter die Erde. Zwei Männergestalten, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, werden von Anwohnern beobachtet, die Polizei wird benachrichtigt. Fabich bekommt die Sache auf den Schreibtisch und denkt sofort an seinen Fall. Sein Gefühl sagt ihm fast sicher, jetzt kannst du endlich zuschlagen. Vor sich sieht er schon die Schlagzeilen, dass es ihm nicht nur gelingt, die Sass-Brüder auf frischer Tat geschnappt zu haben, er würde nun endlich auch gleich noch das Versteck für das Raubgut aus der Discontobank finden. Am nächsten Tag observiert er die Stelle auf dem Friedhof, präpariert seinen Einsatz für die kommende Nacht. Für Fabich ist klar, er hat den Einstieg ganz nach der Handschrift der Brüder gefunden. Jetzt heißt es nur noch Abwarten und Zuschlagen, am besten gleich in der nächsten Nacht. Tatsächlich kommen die beiden, als seien sie mit Fabich verabredet. Der hat seine Leute hinter der Remise am Friedhofseingang versteckt. Franz schleicht sich auf den Friedhof. Nichts verrät ihm die nahen Polizisten. Aber Franz wittert sie mit einem siebten Sinn in ihrem Versteck und entdeckt die Falle. Mit wenigen Sprüngen ist er über der Friedhofsmauer und verschwindet mit Erich im undurchdringlichen Dunkel der Nacht. Fabich ist mal wieder nur zweiter Sieger. Ihm bleibt nur, das bereits weit fortgeschrittne Loch in der Erde zu bewundern. Die Wände sind säuberlich mit Holz ausgeschlagen, der Einstieg unerkennbar getarnt. Aber das Loch ist leer Die Brüder fliehen vom Friedhof geradewegs in das Büro ihres Anwalts, wo nach zwei Stunden auch Fabich mit seinen Helfern eintrifft. Der Anwalt erdichtet den Brüdern ein so perfektes falsches Alibi, dass die Polizei unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen muss. Nicht einmal eine Untersuchungshaft wegen Verdunklungsgefahr kommt in Frage. Ab diesem nächtlichen Treffen werden die Brüder eine Zeitlang nicht mehr in Berlin gesehen. Sie verschwinden im nun wirklichen Untergrund der Stadt, weil ihnen die Luft zu heiß geworden ist und sie erkennen müssen, dass Max Fabich nicht locker lassen wird, wenn er erstmal heraus gefunden hat, welch falsches Alibi sie ihm aufgetischt haben. Dann kommen die Nazis an die Macht und Fabich wird von ihnen kalt gestellt, nicht entlassen zwar, aber aus der Inspektion Raub in den Wachdienst abgeschoben. Franz und Erich Sass setzen sich aus Berlin ab, meiden die neuen Gauner. Sie siedeln nach Kopenhagen über. Dort versuchten sie das alte Spiel in neuer Umgebung. 1934 knacken sie den Tresor einer Zigarettenfabrik und kurze Zeit später den Tresor einer Bankfiliale. Beide Male sind sie erfolgreich. Zum Verhängnis wird ihnen etwas anderes. Sie werden wegen falscher Ausweispapiere erwischt. Man kommt ihren Raubzügen auf die Spur, kann ihnen die beiden Einbrüche anhängen. Sie wandern für vier Jahre ins dänische Gefängnis. Nach der Verbüßung ihrer Strafe werden sie 1938 nach Deutschland abgeschoben. Max Fabich hat sich nicht mehr in das Verfahren der Gebrüder Sass eingemischt. Auch als Zeuge taucht er nicht mehr in den Akten auf. Wahrscheinlich ahnt er, welchen Weg seine beiden Gegenspieler vor sich haben. Dieser Weg ist mit seinem polizeilichen Ethos nicht mehr zu vereinbaren. Am 27. Januar 1940 wird über die Sass-Brüder das Urteil verhängt: 11 und 13 Jahre Zuchthaus. Zwei Monate später werden sie der Gestapo übergeben und von Berlin ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Dort wartet der spätere Auschwitzkommandant Rudolf Höss auf die Delinquenten und lässt sie aus kurzer Hand abknallen. In das Sterbebuch des zuständigen Standesamtes Oranienburg wird eingetragen: „Auf Befehl des Führers erschossen.“
  6. 1 Ulrich Pätzold DIE SCHÖNHEIT DER NOFRETETE I. Lächelt sie noch? Schaut sie in die Ferne des großen Reiches oder gehören der Blick der unendlichen Zeit des absichtslosen Daseins? Sie erklärt sich nicht von alleine. Ihre Schönheit leuchtet in warmen Farben und vornehmen Formen, ist gegenwärtig, jenseits von Zeit und Mode, geheimnisvoll schwebend. Nein, sie lächelt eigentlich nicht. Ihre Lippen sind hart geschnitten modelliert. Das Gesicht zeigt sogar kleine Falten in der Haut unter den Augen. Das Rätsel der Schönheit teilt die Nofretete in Berlin mit der Mona Lisa in Paris. Wenn es denn ein Lächeln gibt, ist es das Lächeln der Schönheit als wahre Königin. Das zieht an und fordert Distanz. Es lässt Nähe zu, macht sich aber nicht mit dem Geschmack des einzelnen Betrachters gemein. In der Distanz aus Nähe strahlt die Macht der Königin Nofretete. Für die Berliner Museumsinsel gilt der Grundsatz: Raumgestaltung und Kunstwerke bilden eine Einheit, und diese Einheit schafft wieder ein Kunstwerk. Besonderen Ehrgeiz verbanden die Archäologen mit der 1898 gegründeten Deutschen Orient-Gesellschaft. Engländer und Franzosen hatten bereits ihren großen Musen spektakuläre Ausgrabungsfunde aus Ägypten und Mesopotamien einverleibt, und das Publikum strömte in Vorträge und Ausstellungen, in denen aus fernen Ländern und alten Zeiten anschaulich berichtet wurde, vielen nur aus der Bibel bekannt. Auch der Kaiser in Deutschland war begeistert und wollte seine Weltgeltung durch eigene Ausgrabungen glänzen lassen. Dazu fand er den genialen Mäzen, den Kunstliebhaber und Textilhändler James Simon. Simon scharte in der Orient-Gesellschaft Bankiers, Unternehmer und andere reiche Patrioten um sich und investierte vor allem sehr viel eigenes Geld. Großartige Funde kamen nach Berlin, die Prozessionsstraße und das Ischtartor aus Babylon , der Altar aus Pergamon. 1902 begannen die Grabungen des Teams um Ludwig Borchardt in Ägypten und verschlangen nie gekannte Summen Geld, 1911 fand Borchardt die Wüstenhügel, unter denen die Schätze von Amarna verborgen waren. Eine wunderbare Welt der Kunst öffnete sich. In der 18.Dynastie der ägyptischen Reichsrechnung hatten hier der Pharao Echnaton und seine Frau Nofretete ihre Hauptstadt aufgebaut. Die Grabungen mussten abgebrochen werden, als der 1. Weltkrieg ausbrach. Da waren bereits Züge voller Schätze aus dem Tell-el-Armana nach Berlin gerollt. Sie schmückten lange Jahre nicht die Museen, sondern lagerten, gut beaufsichtigt von James Simon, in den Depots oder sogar in den Wohnzimmern der Mitglieder der Orient-Gesellschaft. Man weiß über Nofretete immer noch sehr wenig und wusste vor ihrer Bergung als Kunstwerk fast gar nichts über sie. Im Neuen Museum hat sie jetzt ihr Heiligtum gefunden. Es gibt neben dieser majestätischen Büste aber noch zahlreiche weitere Funde aus Amarna, die in Beziehung zu dieser Frau stehen und über sie berichten. Die Königin war 1,58 Meter groß und zierlich. Sie hatte einen markanten langen Hals, der aus 2 den kräftigen Jochbeinen ihrer zarten Schultern wuchs. Sie hatte mandelförmige Augen, und ihre Ohren waren ziemlich klein. Ihre Lippen waren voll und elegant über dem weich gegliederten Kinn geschwungen. Ägyptisch gradlinig und dünn war der Nasenrücken, der vor allem die vielen Reliefs prägte. Sie hatte langgliedrige Finger. Und, so war das damals, sie war kahl geschoren, hatte eine Glatze, um sich vor Läusen zu schützen. Für ihr Äußeres verwendet die erhabene Königin viel Zeit. Schönheit ist ihr wichtig. Bäder, Salben, Schminken gehören zu ihrem Alltag. Sie trägt bei offiziellen Anlässen die gewaltige hochhütige Krone. Sonst trägt sie schwarze Perücken. Ihr König verehrt sie als eine außerordentlich schöne Frau. Sie verkörpert das neue Reich, stolz, selbstbewusst, charismatisch, majestätisch, erotisch. Echnaton schmückt sein Reich mit ihr. Auf den Säulen, die den nördlichsten und den südlichsten der neuen Stadt Achet-Aton markieren, lässt er über sie schreiben, damit es alle wissen sollen: „Schön von Angesicht, Besitzerin des Glücks, ausgestattet mit der Gunst zu hören, deren Stimme einen erfreut, Königin der Anmut, erfüllt von Liebe, Beglückerin des Herrschers der beiden Länder.“ Diese Beglückerin des Herrschers hatte ursprünglich einen anderen Namen. Erst als Amenophis IV., der die neue Sonnenreligion des „Aton“ gründete und sich den Namen Echnaton gab, sie heiratet, heißt sie Nofretete, was in etwa bedeutet: „Die Schöne, die da kommt“. Genau genommen heißt sie in Verbindung mit Aton „die Schöne, die da kommt, ist die Schönheit des Aton“. Sie ist die Sonnenkönigin gewesen, und jenseits der komplizierten Windungen der Sonnenreligion des Echnaton ist das heute die einfachste Vorstellung dieser Frau: Sonnenkönigin von Ägypten. Der Ausstellungsbereich im ersten Obergeschoss ist das ägyptische Herz des Museums. Hier liegen und stehen die Schätze aus Amarna. Die die in Kunst getriebenen Lichtfiguren einer kurzen Epoche der langen Geschichte des alten Ägypten leben nun wie in einem Schattenreich. Nofretete und ihr Gemahl Echnaton sind seine überragenden Protagonisten. Sie verkörpern das Reich des Aton. Verehrt wird der Sonnengott Aton, dessen einziger Sohn auf Erden der Pharao ist. Das war damals eine Dynastie der Revolution, mit der die gesamte Beamtenkaste Ägyptens im neuen Staat entmachtet worden war. Es herrschten nur noch der Gott Aton und sein Stellvertreter auf Erden, der Pharao Echnaton. Das war Im 14. vorchristlichen Jahrhundert geschehen. Doch das Sonnenkönigtum dauerte nicht lange. Nofretete überlebte wahrscheinlich ihren Mann – man weiß es nicht genau. Sie war vielleicht sogar seine Nachfolgerin, konnte aber die Macht im ägyptischen Reich nicht sichern. In ihrem neuen Museumsreich sind Echnaton und Nofretete in verschiedenen Szenen zu entdecken. Sie verstanden sich als Popstars ihrer Zeit und verkörperten den von ihnen geschaffenen Religionskult. Bereits als Amenophis IV. den Thron in Karnack bestiegen hatte, steht ihm Nofretete zu Seite. Doch dann kommt es zum Bruch mit der alten Amun-Religion der vielen Götter. Nun wird Aton als Gott der Sonne der oberste Weltenlenker, der den Ägyptern die Pharaonenfamilie geschenkt hat. Echnaton und Nofretete bauen sich eine neue Hauptstadt, die Achet-Aton im Amarnatal, Sie haben sechs Töchter, deren Namen mit -aton zusammengesetzt sind. Familienszenen voller Frohsinn und Liebe werden in Stein gehauen, und stets umhüllen die Strahlen Atons die neue Herrscherfamilie Ägyptens. Diese kurze Zeit der religiösen Erneuerung nennt man die Amarna-Epoche, und das neue Museum ist das Schaufenster und Archiv ihrer Geschichte. 3 Die auffallend hohe Position, die Frauen in der gesellschaftlichen Hierarchie im alten Ägypten eingenommen haben, ist in der Amarna-Epoche noch gestiegen. Nofretete ziert alle Symbole der Pharaonenmacht. Die blaue hohe Krone auf der Büste im Museum scheint eigens für sie geschaffen worden zu sein, ein Symbol der Regentschaft. In Kriegsszenen taucht sie als Führerin auf, sogar kultische und religiöse Zeremonien leitet sie ohne ihren Mann. Man sieht sie auf einem eigenen Thron, den die Zeichen der Vereinigung der beiden Länder Ober- und Unterägypten zieren. Soviel Macht hatte es vorher nie für die Gemahlin eines Pharaos gegeben. Dokumente überliefern, dass die beiden sechzehn Regierungsjahre zusammen verbracht haben. Wer von beiden mächtiger war, hätte Nofretete vielleicht mit dem Anflug eines Lächelns beantwortet. Was nach der offensichtlich glücklichen Herrscherzeit geschah, bleibt im Dunklen. Die Beamten betreten wieder die Bühne, die alte Religion wird wieder Staatsreligion, und alle Hinweise auf Echnaton und Nofretete mussten aus der Öffentlichkeit beseitigt werden. Selbst das Grab bleibt unbekannt, in dem die Sonnenkönigin bestattet wurde. Thutmosis, ihr künsterlischer Erschaffer, durfte ihr näher als jeder andere ihrer vielen Verehrer kommen, ganz nah, so dass er die kleinen Fältchen ihrer Augen, die Schminke und Makeup so sorgfältig zu überspielen wussten, am Ende ihrer Herrschaft gegen 1340 v.Chr. erkennen konnte. Sie hatte ihm vertraut, ihre Nähe zu seinem größten Kunstwerk zu verwandeln, mit der er ihre Unsterblichkeit sichern sollte, die durch das Wüten der Gegenrevolution in Ägypten in Gefahr war. Sie hatte Thutmosis den Atem eingehaucht, damit Atons Geist in die geschickten Hände und in die tiefste Seele dieses großen Künstlers fahre. Sie hatte ihm den Bergkristall für die Gestaltung des einen Auges in die warme Hand gelegt. Auf seine Frage, wo der zweite Kristall für das andere Auge bleibe, hatte sie ihm geantwortet: Du schaffst die Schönste für die Zeit dieser Welt. Mit diesem einen Auge bleibe ich, was ich hier gewesen bin. Aber wisse, mein Freund, wenn diese Schönheit auf Erden bleibt, geht die vollkommen Schöne in Atons Reich ein. Dort wird auch das andere Auge leuchten. Nimm dieses als Auge für die ewige Schönheit auf Erden. Mit mir nehme das andere Auge für die Liebe in aller Ewigkeit. Thutmosis ist Bildhauer. Er ist der oberste Bildhauer der königlichen Familie in Achet-Aton. Er hat Dutzende der herrlichsten Büsten und Reliefs der Aton-Erwählten geschaffen. Und er weiß, diese Nofretete wird sein Meisterwerk. Mit diesem Werk wird er selbst einen Teil ihrer Unsterblichkeit gewinnen. Wie in Trance hat er Tag und Nacht an der Büste gearbeitet, hat auf das Genaueste Berechnungen zu den Symmetrien angestellt, hat hart an den Details gearbeitet, wo er sich sonst aufs Gefühl verlassen hat, weiß sich unter der ständigen Beobachtung und Inspiration seiner großen Königin, wenn er mit spitzen Nadeln den harten Kalkstein formt und mit seinen Fingern die dünnen Stuckschichten darüber ebnet. Wie von ihrem Geist besessen arbeitet er Tag und Nacht an seiner Verehrten, hört die Ahnungen in sich und liest die Zeichen der Zeit, dass schon bald von ihr nichts auf Erden bleiben wird als diese eine von ihm zu schaffende Gestalt. Fertig sind alle gehauenen, modellierten und geglätteten Arbeiten, perfekt und makellos ist das Werk. Die Augenhöhlen hat er auf ihr Geheiß im nackten Stein gelassen. Von der Königin hat er sich die kostbarsten Schätze ihrer an Farbsubstanzen so reichen Sammlung geben lassen. Er hat mit ihnen Experimente auf dem Stein und auf dem Gips gemacht. 4 Nun ist in der Werkstatt nur noch Stille und Konzentration. Seine Helfer hat er nach Hause geschickt. Öllampen werfen ein weiches Licht. Alles liegt in seiner Hand. Vorsichtig stellt Thutmosis die zwanzig Kilogramm schwere Büste auf seinen Tisch in der Mitte der Werkstatt, gleichmäßig ausgeleuchtet von allen Seiten. Langsam und mit äußerster Vorsicht trägt er nun die Farben auf, schminkt seine Königin wie eine Geliebte. Als erstes malt er mit blau und weiß. Dann mischt er mit weiß auf blau. Als dritte Schicht verwendet er gelb. Dann kommt das Blau für ihre Krone und als Grundton für die herausgehobenen Teile des Gesichts. Am Ende und als fünfte Schichte färbt er das Rot über den Stein und den Gips. Den Bergkristall nimmt er, in den er eine feine Iris eingeritzt hat. Die Einlegstelle im rechten Auge hat er mit schwarzer Farbe unterlegt. An ihr befestigt er den Kristall mit Bienenwachs. Während der langen Arbeit hat er peinlich genau darauf geachtet, die linke leere Augenhöhle nicht zu berühren. Sie ist tabu für ihn und gehört einzig der Sonnenkönigin für ihre Reise außerhalb dieser Welt. Als nun alles vollendet war, kommt die Königin in seine Werkstatt und sieht, dass alles gelungen ist. Da fragt Thutmosis seine Herrscherin: Wohin soll ich die Schönheit stellen, damit alle Menschen in ehrfürchtiger Bewunderung stehen bleiben, gebannt von der Königin? Da überfällt das Gesicht der Nofretete tiefe Traurigkeit. Sie stellt sich hinter ihr Abbild und sagt: Sie werden mich nicht dulden und werden versuchen, alle Spuren meines Lebens zu vernichten. Doch wie Aton ewig ist, wird auch dieser Stein ewig sein. Verbirg ihn, dass kein Unheil ihn zerstören kann. Du wirst aus Liebe zu mir den Weg für meine irdische Unsterblichkeit finden. Die Königin ist gegangen, und er wird sie nie wieder sehen. Thutmosis hat so viele Arbeiten in seiner Werkstatt. Er zweifelt nicht, dass seine Zeit bald vorbei sein wird. Ein Sturm wird ausbrechen, doch seiner kleinen Hütte wird nur die geringste Achtsamkeit gelten. Er bedenkt, wie Sturm und Sand über seine Werkstatt einbrechen werden, um die Wände und Regale mitsamt allen seinen Werken zu begraben. Er baut ein Brett auf halber Höhe der Wand, die sich schon jetzt ein wenig neigt. Darunter bereitete er wie ein Nest aus weichem Reisig ein Lager. Er berechnet den Sturz der Büste in der zusammenbrechenden Werkstatt und ist sicher, dass seiner Sonnenkönigin nichts geschehen kann, wenn sie vom Brett in die weiche Nestmulde fällt und dann von den Sandwogen zugedeckt werden wird. Er verneigt sich noch einmal vor ihr und verlässt seine Hütte, bevor die großen Verwüstungen beginnen. Die dritte Grabung von Ludwig Borchardt im Tell-el-Amarna fand vom November 1912 bis zum März 1913 statt. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stand ein bisher übersehener kleiner Hügel, unter dem offensichtlich ein Haus gelegen haben musste. Der Hügel erhält die Markierung P 47,2. Borchardt findet heraus, dass es die Werkstatt des legendären Bildhauers Thutmosis sein muss. Am 6. Dezember, Nikolaustag 1912, gelingt der Einstieg in den Raum 19 der Grabung. Dort findet Borchardt im Schummerlicht auf dem Boden im Sand liegend unversehrt die Büste der Nofretete. Borchardt führt über die Grabungen gewissenhaft Protokoll. Ihm stockt der Atem, und der erste Blick überwältigt ihn. Er reibt sich die Augen und notiert kurz: „Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.“ Er findet sie in der Position 7, eine „lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 cm hoch.“ Finanziert wurden die Grabungen durch James Simon. Er hatte einen Vertrag mit der Orient-Gesellschaft abgeschlossen, nach dem er Besitzer aller Funde des deutschen Anteils der Grabungen werden solle. Die Regelungen in Ägypten sahen vor, dass eine Kommission, in der vor allem Engländer und Franzosen das Sagen hatten, die gefundenen Gegenstände zu 5 taxieren hatten, bevor sie zu gleichen Teilen der ägyptischen Altertumsverwaltung und dem Ausgräberland zugesprochen wurden. Borchardts Geschick vor der Kommission bestand darin, den Wert der Büste runter zu reden und die anderen Funde, die er gemacht hatte, hoch zu jubeln. Tatsächlich kam es zur ordnungsgemäßen Teilung, und Nofretete konnte eingepackt und nach Deutschland verfrachtet werden. Der Streit um den rechtmäßigen Besitz, Ägypten oder Deutschland, begann mit ihrer Ausstellung 1924 im Neuen Museum. Der Streit hält politisch in diplomatisch immer neuen Gewändern bis heute an. Rechtlich ist die Lage eindeutig. Die Verhältnisse damals bestimmte allerdings die europäische Kolonialpolitik. Entführt oder ausgeführt: Die ägyptische Nofretete wurde Berlinerin. In ihre neue Gastbehausung ist sie erst spät gekommen und hat in ihrer neuen Zeit schon wieder viel erlebt. II. 2250 Jahre ruhte die Schöne im Sand von Amarna, bevor sie 1913 nach Berlin reiste, wo sie für ein bewegtes Leben in immer neue Machtspiele verwickelt wurde. Erst am 16. Oktober 2009 bezog sie wieder ihren angestammten Sitz im Neuen Museum und schaut nun voller Selbstbewusstsein weit hinüber bis ans Ende der Bibliothek zum griechischen Sonnengott, der 1500 Jahre jünger ist als sie. Ins Museum kam sie 1913 noch lange nicht. Sie zierte zunächst die Villa von James Simon, die er im Tiergarten auf einem weiten Grundstück hatte, auf dem heute die Landesregierung von Baden-Württemberg residiert. Erst 1920 übergab er die Sonnenkönigin als Schenkung an den Freistaat Preußen für die Ägyptische Abteilung des Museums, wo sie allerdings erst ab 1924 öffentlich ausgestellt worden ist Schnell wird die Schöne zum Idol der neuen Zeit in der Weimarer Republik nach dem verheerenden Krieg. Frauen eifern ihr mit Schminke und Makeup nach. Die Presse gewöhnt sich an, sie als die schönste Berlinerin zu titulieren. Berlin ist jedenfalls nach dem Sturz des Kaiserreichs entzückt von ihrer neuen Königin. Sie kommt gerade zur rechten Zeit in das Licht der Öffentlichkeit. So zart, so kühl, so schmal und ein wenig androgyn – das ideale Vorbild für die neue Mode. Auch in den Theatern und in der Malerei steht sie Pate. Greta Garbo wird Nofreteteikone. Man hat eine ägyptische Königin, steinalt und doch jenseits von Raum und Zeit supermodern. Die Herrschaft der neuen Königin dauert nicht lange. Schon zu Beginn des zerstörerischen zweiten großen Kriegs des Jahrhunderts verschwindet sie in einer Kiste in den Tresor der Reichsbank am Gendarmenmarkt. 1941 wird es auch dort zu heiß, und die Kiste wird in einen Flakbunker am Zoo gebracht. Im März 1945 wandert sie dann tief in den Salzstollen im thüringischen Merkers. Da holen sie die Amerikaner bereits nach zwei Wochen wieder raus und schleppen die Kiste in die Reichsbank nach Frankfurt. Die Kiste hat nun die Aufschrift „Die bunte Königin.“ So kommt sie als bunte Königin in die Kunstsammelstelle, die in Wiesbaden von der US-Armee eingerichtet worden war. Dem Kunstschutz-Offizier Walter Farmer ist es zu verdanken, dass sie nicht die Fahrt über den Ozean in die Vereinigten Staaten antreten muss. Stattdessen schickt sie der Amerikaner Farmer ins Landesmuseum Wiesbaden. Erst im Juni 1956 darf sie ihre Heimreise nach Berlin antreten, ein Triumphzug. In den Osten auf die alte Museumsinselsoll kann sie nicht ziehen. Sie findet einen Platz in der Gemäldegalerie in Dahlem, die damals noch an der Fabeckstraße in Dahlem residierte. 6 Im Oktober 1967 wird das Ägyptische Museum in Charlottenburg mit den westlichen Restbeständen des ehemaligen Neuen Museums eröffnet, nun wieder mit Nofretete in der Mitte. 1992 kommt die alte Schöne in die Klinik zur Generalüberholung, danach geht es wieder zurück nach Charlottenburg. Ein paar Tage ist sie dann 2005 Star der Ausstellung Hieroglyphen um Nofretete im Kulturforum hinter dem Potsdamer Platz. Auch ein kurzes Gastspiel im Alten Museum darf die Sonnengöttin noch absolvieren, bis sich endlich der Reigen wieder schließt und sie mit neuer Kraft ihren alten ruhigen Platz der Zeitlosigkeit im Neuen Museum einnehmen darf. Die Geschichte als Vergangenheit birgt eine Unendlichkeit an Beziehungen zwischen Orient und Okzident. Über solche Spielereien der Gedanken mit Blick auf die Menschen in ihrem Gesichtsfeld mag die Sonnenkönigin nicht einmal müde lächeln. Kopf und Hals hat sie nicht nach vorne geneigt, um dem Raunen und Flüstern ihrer vielen Verehrer zu lauschen. Diese Haltung der Zuwendung ist vielmehr der Tribut an die Ewigkeit, mit der sie, die perfekt symmetrisch erschaffene Kunstfrau, Gewicht und Ausdruck statisch am Leichtesten erhalten kann. Für diese Statik ist sie ihrem Schöpfer immer wieder dankbar. Wie hätte sie sonst die Jahrhunderte im Sand überleben können, wie die strapaziösen Reisen, ihre Versenkung in Kisten und ihre stets neuen Sockelbetten und Audienzen bewältigen sollen? Nein, ihrem Thutmosis bleibt sie ewig und immer aufs Neue dankbar. Er hatte verstanden, was Echnaton meinte, als er sie die Beglückerin des Herrschers nannte und schön von Angesicht. III. 1913 hat es in der Museumsgeschichte einen spektakulären Fall gegeben. Vierhundert Jahre ist das 77 mal 53 Zentimeter große Bild alt, das als das größte Museumswerk aller Zeiten bis Dezember 1911 im Pariser Louvre zu besichtigen war, die Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Es wurde geklaut, war plötzlich verschwunden. Jede Spur von Mona Lisa oder ihrem Dieb fehlte. Der dreiste Einbruch schien perfekt gelaufen zu sein. Im Herbst 1913 spitzte sich die fieberhafte Suche zu, und die Zeitungen waren voller Spekulationen über das Räuberstück. In dieser hektischen und nervösen Vorkriegszeit tauchte der spektakuläre Fall der Nofretete fast unter. Von der Königin in Ägypten redete kaum jemand, als im Dezember 1913 in Florenz ein Brief auftauchte. In ihm meldete sich der neue Besitzer mit der Bemerkung, das Bild gehöre nach Italien, da es von einem Italiener geschaffen worden sei. Er wolle diese Mona Lisa seinem Land wieder zurückgeben. Der Mann suchte Kontakte, und bald flog die ganze Geschichte auf. Sie war die Tat eines glühenden Nationalisten. Im italienischen Parlament kam es zu opernreifen Szenen, und erst am Ende des Monats überquerte Mona Lisa unbeschädigt die französische Grenze, um wieder im Louvre zu residieren. Diese Aufregungen beherrschten die Öffentlichkeit gerade zu dem Zeitpunkt, als in Ägypten der spektakuläre Fund gemacht wurde. James Simon ist ein weitsichtiger Mann. Er weiß einzuschätzen, was die Bergung der Nofretete bedeuten kann. Er hat ein Gespür für die heraufziehenden Muskelspiele der europäischen Großmächte, die geradewegs in den Krieg führen, auch in den Orient. Eingedenk der Verwicklungen, die der Fall der Mona Lisa nach sich gezogen hat, hält er es für angebracht, die Nofretete nicht in das grelle Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Das, so glaubt er, gelingt am besten, wenn er die 7 Büste auf seinen häuslichen Schreibtisch stellt. Keiner soll lauthals die Frage stellen, wie die schöne Königin nach Berlin kommen konnte. „Beschreiben nützt nichts, ansehen“, hatte Borchardt ausgerufen. Simons Wohnung ist ihr bestes Versteck. Ab Januar 1914 steht sie nun da und verbirgt sich unter dem Kanonendonner des Krieges. Borchardt hatte gewarnt, die Verhandlungen über die Aufteilung der Schätze in Ägypten seien derartig schwierig geworden, „dass jede überflüssige Demonstration von Funden schädlich wirken kann.“ Der Kaiser schwärmt zwar über diese Kostbarkeit. Am liebsten hätte Seine Majestät die Königin an seiner Seite. Doch er erhält 1913 nur eine Kopie und kümmert sich im Übrigen lieber um das Säbelrasseln gegen Frankreich. Der 1. Weltkrieg kommt, und es wird still um die Nofretete im Haus von James Simon. Mit Grabungen in Ägypten ist für die Deutschen Schluss, und nach dem Krieg gibt es andere Sorgen. James Simon schenkt 1920 seine große Renaissancesammlung und alle Amarnaschätze dem preußischen Staat in der neuen deutschen Republik. Wenige Jahre später ist dieser große Mäzen und ebenso große Menschenfreund, der riesige Geldbeträge für soziale Projekte gespendet hat, ein armer Mann. In der großen Inflation von 1923 hat er jeden Besitz verloren. Die Liebe seiner Königin ist ihm geblieben.
  7. Eine Geschichte über eine bekannte Frau im Museum

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    Ulrich Pätzold
    DIE SCHÖNHEIT DER NOFRETETE
    I.
    Lächelt sie noch? Schaut sie in die Ferne des großen Reiches oder gehören der Blick der unendlichen Zeit des absichtslosen Daseins? Sie erklärt sich nicht von alleine. Ihre Schönheit leuchtet in warmen Farben und vornehmen Formen, ist gegenwärtig, jenseits von Zeit und Mode, geheimnisvoll schwebend.
    Nein, sie lächelt eigentlich nicht. Ihre Lippen sind hart geschnitten modelliert. Das Gesicht zeigt sogar kleine Falten in der Haut unter den Augen. Das Rätsel der Schönheit teilt die Nofretete in Berlin mit der Mona Lisa in Paris. Wenn es denn ein Lächeln gibt, ist es das Lächeln der Schönheit als wahre Königin. Das zieht an und fordert Distanz. Es lässt Nähe zu, macht sich aber nicht mit dem Geschmack des einzelnen Betrachters gemein. In der Distanz aus Nähe strahlt die Macht der Königin Nofretete.
    Für die Berliner Museumsinsel gilt der Grundsatz: Raumgestaltung und Kunstwerke bilden eine Einheit, und diese Einheit schafft wieder ein Kunstwerk.
    Besonderen Ehrgeiz verbanden die Archäologen mit der 1898 gegründeten Deutschen Orient-Gesellschaft. Engländer und Franzosen hatten bereits ihren großen Musen spektakuläre Ausgrabungsfunde aus Ägypten und Mesopotamien einverleibt, und das Publikum strömte in Vorträge und Ausstellungen, in denen aus fernen Ländern und alten Zeiten anschaulich berichtet wurde, vielen nur aus der Bibel bekannt. Auch der Kaiser in Deutschland war begeistert und wollte seine Weltgeltung durch eigene Ausgrabungen glänzen lassen. Dazu fand er den genialen Mäzen, den Kunstliebhaber und Textilhändler James Simon. Simon scharte in der Orient-Gesellschaft Bankiers, Unternehmer und andere reiche Patrioten um sich und investierte vor allem sehr viel eigenes Geld. Großartige Funde kamen nach Berlin, die Prozessionsstraße und das Ischtartor aus Babylon , der Altar aus Pergamon.
    1902 begannen die Grabungen des Teams um Ludwig Borchardt in Ägypten und verschlangen nie gekannte Summen Geld, 1911 fand Borchardt die Wüstenhügel, unter
    denen die Schätze von Amarna verborgen waren. Eine wunderbare Welt der Kunst öffnete sich. In der 18.Dynastie der ägyptischen Reichsrechnung hatten hier der Pharao Echnaton und seine Frau Nofretete ihre Hauptstadt aufgebaut.
    Die Grabungen mussten abgebrochen werden, als der 1. Weltkrieg ausbrach. Da waren bereits Züge voller Schätze aus dem Tell-el-Armana nach Berlin gerollt. Sie schmückten lange Jahre nicht die Museen, sondern lagerten, gut beaufsichtigt von James Simon, in den Depots oder sogar in den Wohnzimmern der Mitglieder der Orient-Gesellschaft.
    Man weiß über Nofretete immer noch sehr wenig und wusste vor ihrer Bergung als Kunstwerk fast gar nichts über sie. Im Neuen Museum hat sie jetzt ihr Heiligtum gefunden. Es gibt neben dieser majestätischen Büste aber noch zahlreiche weitere Funde aus Amarna, die in Beziehung zu dieser Frau stehen und über sie berichten.
    Die Königin war 1,58 Meter groß und zierlich. Sie hatte einen markanten langen Hals, der aus
    2
    den kräftigen Jochbeinen ihrer zarten Schultern wuchs. Sie hatte mandelförmige Augen, und ihre Ohren waren ziemlich klein. Ihre Lippen waren voll und elegant über dem weich gegliederten Kinn geschwungen. Ägyptisch gradlinig und dünn war der Nasenrücken, der vor allem die vielen Reliefs prägte. Sie hatte langgliedrige Finger. Und, so war das damals, sie war kahl geschoren, hatte eine Glatze, um sich vor Läusen zu schützen.
    Für ihr Äußeres verwendet die erhabene Königin viel Zeit. Schönheit ist ihr wichtig. Bäder, Salben, Schminken gehören zu ihrem Alltag. Sie trägt bei offiziellen Anlässen die gewaltige hochhütige Krone. Sonst trägt sie schwarze Perücken. Ihr König verehrt sie als eine
    außerordentlich schöne Frau. Sie verkörpert das neue Reich, stolz, selbstbewusst, charismatisch, majestätisch, erotisch.
    Echnaton schmückt sein Reich mit ihr. Auf den Säulen, die den nördlichsten und den südlichsten der neuen Stadt Achet-Aton markieren, lässt er über sie schreiben, damit es alle wissen sollen: „Schön von Angesicht, Besitzerin des Glücks, ausgestattet mit der Gunst zu hören, deren Stimme einen erfreut, Königin der Anmut, erfüllt von Liebe, Beglückerin des Herrschers der beiden Länder.“
    Diese Beglückerin des Herrschers hatte ursprünglich einen anderen Namen. Erst als Amenophis IV., der die neue Sonnenreligion des „Aton“ gründete und sich den Namen Echnaton gab, sie heiratet, heißt sie Nofretete, was in etwa bedeutet: „Die Schöne, die da kommt“. Genau genommen heißt sie in Verbindung mit Aton „die Schöne, die da kommt, ist die Schönheit des Aton“.
    Sie ist die Sonnenkönigin gewesen, und jenseits der komplizierten Windungen der Sonnenreligion des Echnaton ist das heute die einfachste Vorstellung dieser Frau: Sonnenkönigin von Ägypten. Der Ausstellungsbereich im ersten Obergeschoss ist das ägyptische Herz des Museums. Hier liegen und stehen die Schätze aus Amarna. Die die in Kunst getriebenen Lichtfiguren einer kurzen Epoche der langen Geschichte des alten Ägypten leben nun wie in einem Schattenreich. Nofretete und ihr Gemahl Echnaton sind seine überragenden Protagonisten.
    Sie verkörpern das Reich des Aton. Verehrt wird der Sonnengott Aton, dessen einziger Sohn auf Erden der Pharao ist. Das war damals eine Dynastie der Revolution, mit der die gesamte Beamtenkaste Ägyptens im neuen Staat entmachtet worden war. Es herrschten nur noch der
    Gott Aton und sein Stellvertreter auf Erden, der Pharao Echnaton. Das war Im 14. vorchristlichen Jahrhundert geschehen. Doch das Sonnenkönigtum dauerte nicht lange. Nofretete überlebte wahrscheinlich ihren Mann – man weiß es nicht genau. Sie war vielleicht sogar seine Nachfolgerin, konnte aber die Macht im ägyptischen Reich nicht sichern.
    In ihrem neuen Museumsreich sind Echnaton und Nofretete in verschiedenen Szenen zu entdecken. Sie verstanden sich als Popstars ihrer Zeit und verkörperten den von ihnen geschaffenen Religionskult. Bereits als Amenophis IV. den Thron in Karnack bestiegen hatte, steht ihm Nofretete zu Seite. Doch dann kommt es zum Bruch mit der alten Amun-Religion der vielen Götter. Nun wird Aton als Gott der Sonne der oberste Weltenlenker, der den Ägyptern die Pharaonenfamilie geschenkt hat. Echnaton und Nofretete bauen sich eine neue Hauptstadt, die Achet-Aton im Amarnatal, Sie haben sechs Töchter, deren Namen mit -aton zusammengesetzt sind. Familienszenen voller Frohsinn und Liebe werden in Stein gehauen,
    und stets umhüllen die Strahlen Atons die neue Herrscherfamilie Ägyptens. Diese kurze Zeit der religiösen Erneuerung nennt man die Amarna-Epoche, und das neue Museum ist das
    Schaufenster und Archiv ihrer Geschichte.
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    Die auffallend hohe Position, die Frauen in der gesellschaftlichen Hierarchie im alten Ägypten eingenommen haben, ist in der Amarna-Epoche noch gestiegen. Nofretete ziert alle Symbole der Pharaonenmacht. Die blaue hohe Krone auf der Büste im Museum scheint eigens für sie geschaffen worden zu sein, ein Symbol der Regentschaft. In Kriegsszenen taucht sie als Führerin auf, sogar kultische und religiöse Zeremonien leitet sie ohne ihren Mann. Man sieht sie auf einem eigenen Thron, den die Zeichen der Vereinigung der beiden Länder Ober- und Unterägypten zieren. Soviel Macht hatte es vorher nie für die Gemahlin eines Pharaos gegeben. Dokumente überliefern, dass die beiden sechzehn Regierungsjahre zusammen verbracht haben. Wer von beiden mächtiger war, hätte Nofretete vielleicht mit dem Anflug eines Lächelns beantwortet.
    Was nach der offensichtlich glücklichen Herrscherzeit geschah, bleibt im Dunklen. Die Beamten betreten wieder die Bühne, die alte Religion wird wieder Staatsreligion, und alle Hinweise auf Echnaton und Nofretete mussten aus der Öffentlichkeit beseitigt werden. Selbst das Grab bleibt unbekannt, in dem die Sonnenkönigin bestattet wurde.
    Thutmosis, ihr künsterlischer Erschaffer, durfte ihr näher als jeder andere ihrer vielen Verehrer kommen, ganz nah, so dass er die kleinen Fältchen ihrer Augen, die Schminke und Makeup so sorgfältig zu überspielen wussten, am Ende ihrer Herrschaft gegen 1340 v.Chr. erkennen konnte. Sie hatte ihm vertraut, ihre Nähe zu seinem größten Kunstwerk zu verwandeln, mit der er ihre Unsterblichkeit sichern sollte, die durch das Wüten der Gegenrevolution in Ägypten in Gefahr war.
    Sie hatte Thutmosis den Atem eingehaucht, damit Atons Geist in die geschickten Hände und in die tiefste Seele dieses großen Künstlers fahre. Sie hatte ihm den Bergkristall für die Gestaltung des einen Auges in die warme Hand gelegt. Auf seine Frage, wo der zweite Kristall für das andere Auge bleibe, hatte sie ihm geantwortet: Du schaffst die Schönste für die Zeit dieser Welt. Mit diesem einen Auge bleibe ich, was ich hier gewesen bin. Aber wisse, mein Freund, wenn diese Schönheit auf Erden bleibt, geht die vollkommen Schöne in Atons Reich ein. Dort wird auch das andere Auge leuchten. Nimm dieses als Auge für die ewige Schönheit auf Erden. Mit mir nehme das andere Auge für die Liebe in aller Ewigkeit.
    Thutmosis ist Bildhauer. Er ist der oberste Bildhauer der königlichen Familie in Achet-Aton. Er hat Dutzende der herrlichsten Büsten und Reliefs der Aton-Erwählten geschaffen. Und er weiß, diese Nofretete wird sein Meisterwerk. Mit diesem Werk wird er selbst einen Teil ihrer Unsterblichkeit gewinnen. Wie in Trance hat er Tag und Nacht an der Büste gearbeitet, hat auf das Genaueste Berechnungen zu den Symmetrien angestellt, hat hart an den Details gearbeitet, wo er sich sonst aufs Gefühl verlassen hat, weiß sich unter der ständigen Beobachtung und Inspiration seiner großen Königin, wenn er mit spitzen Nadeln den harten
    Kalkstein formt und mit seinen Fingern die dünnen Stuckschichten darüber ebnet.
    Wie von ihrem Geist besessen arbeitet er Tag und Nacht an seiner Verehrten, hört die Ahnungen in sich und liest die Zeichen der Zeit, dass schon bald von ihr nichts auf Erden
    bleiben wird als diese eine von ihm zu schaffende Gestalt. Fertig sind alle gehauenen, modellierten und geglätteten Arbeiten, perfekt und makellos ist das Werk. Die Augenhöhlen hat er auf ihr Geheiß im nackten Stein gelassen. Von der Königin hat er sich die kostbarsten Schätze ihrer an Farbsubstanzen so reichen Sammlung geben lassen. Er hat mit ihnen Experimente auf dem Stein und auf dem Gips gemacht.
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    Nun ist in der Werkstatt nur noch Stille und Konzentration. Seine Helfer hat er nach Hause
    geschickt. Öllampen werfen ein weiches Licht. Alles liegt in seiner Hand. Vorsichtig stellt Thutmosis die zwanzig Kilogramm schwere Büste auf seinen Tisch in der Mitte der Werkstatt, gleichmäßig ausgeleuchtet von allen Seiten. Langsam und mit äußerster Vorsicht trägt er nun die Farben auf, schminkt seine Königin wie eine Geliebte. Als erstes malt er mit blau und weiß. Dann mischt er mit weiß auf blau. Als dritte Schicht verwendet er gelb. Dann kommt das Blau für ihre Krone und als Grundton für die herausgehobenen Teile des Gesichts. Am Ende und als fünfte Schichte färbt er das Rot über den Stein und den Gips. Den Bergkristall nimmt er, in den er eine feine Iris eingeritzt hat. Die Einlegstelle im rechten Auge hat er mit schwarzer Farbe unterlegt. An ihr befestigt er den Kristall mit Bienenwachs. Während der langen Arbeit hat er peinlich genau darauf geachtet, die linke leere Augenhöhle nicht zu berühren. Sie ist tabu für ihn und gehört einzig der Sonnenkönigin für ihre Reise außerhalb dieser Welt.
    Als nun alles vollendet war, kommt die Königin in seine Werkstatt und sieht, dass alles gelungen ist. Da fragt Thutmosis seine Herrscherin: Wohin soll ich die Schönheit stellen, damit alle Menschen in ehrfürchtiger Bewunderung stehen bleiben, gebannt
    von der Königin? Da überfällt das Gesicht der Nofretete tiefe Traurigkeit. Sie stellt sich hinter ihr Abbild und sagt: Sie werden mich nicht dulden und werden versuchen, alle Spuren meines Lebens zu vernichten. Doch wie Aton ewig ist, wird auch dieser Stein ewig sein. Verbirg ihn, dass kein Unheil ihn zerstören kann. Du wirst aus Liebe zu mir den Weg für meine irdische Unsterblichkeit finden.
    Die Königin ist gegangen, und er wird sie nie wieder sehen. Thutmosis hat so viele Arbeiten in seiner Werkstatt. Er zweifelt nicht, dass seine Zeit bald vorbei sein wird. Ein Sturm wird ausbrechen, doch seiner kleinen Hütte wird nur die geringste Achtsamkeit gelten. Er bedenkt, wie Sturm und Sand über seine Werkstatt einbrechen werden, um die Wände und Regale mitsamt allen seinen Werken zu begraben. Er baut ein Brett auf halber Höhe der Wand, die sich schon jetzt ein wenig neigt. Darunter bereitete er wie ein Nest aus weichem Reisig ein Lager. Er berechnet den Sturz der Büste in der zusammenbrechenden Werkstatt und ist sicher, dass seiner Sonnenkönigin nichts geschehen kann, wenn sie vom Brett in die weiche Nestmulde fällt und dann von den Sandwogen zugedeckt werden wird. Er verneigt sich noch einmal vor ihr und verlässt seine Hütte, bevor die großen Verwüstungen beginnen.
    Die dritte Grabung von Ludwig Borchardt im Tell-el-Amarna fand vom November 1912 bis zum März 1913 statt. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stand ein bisher übersehener
    kleiner Hügel, unter dem offensichtlich ein Haus gelegen haben musste. Der Hügel erhält die Markierung P 47,2. Borchardt findet heraus, dass es die Werkstatt des legendären
    Bildhauers Thutmosis sein muss. Am 6. Dezember, Nikolaustag 1912, gelingt der Einstieg in den Raum 19 der Grabung. Dort findet Borchardt im Schummerlicht auf dem Boden im Sand liegend unversehrt die Büste der Nofretete.
    Borchardt führt über die Grabungen gewissenhaft Protokoll. Ihm stockt der Atem, und
    der erste Blick überwältigt ihn. Er reibt sich die Augen und notiert kurz: „Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.“ Er findet sie in der Position 7, eine „lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 cm hoch.“
    Finanziert wurden die Grabungen durch James Simon. Er hatte einen Vertrag mit der Orient-Gesellschaft abgeschlossen, nach dem er Besitzer aller Funde des deutschen Anteils der Grabungen werden solle. Die Regelungen in Ägypten sahen vor, dass eine Kommission, in der vor allem Engländer und Franzosen das Sagen hatten, die gefundenen Gegenstände zu
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    taxieren hatten, bevor sie zu gleichen Teilen der ägyptischen Altertumsverwaltung und dem Ausgräberland zugesprochen wurden.
    Borchardts Geschick vor der Kommission bestand darin, den Wert der Büste runter zu reden und die anderen Funde, die er gemacht hatte, hoch zu jubeln. Tatsächlich kam es zur ordnungsgemäßen Teilung, und Nofretete konnte eingepackt und nach Deutschland verfrachtet werden. Der Streit um den rechtmäßigen Besitz, Ägypten oder Deutschland, begann mit ihrer Ausstellung 1924 im Neuen Museum. Der Streit hält politisch in diplomatisch immer neuen Gewändern bis heute an. Rechtlich ist die Lage eindeutig. Die Verhältnisse damals bestimmte allerdings die europäische Kolonialpolitik. Entführt oder ausgeführt: Die ägyptische Nofretete wurde Berlinerin. In ihre neue Gastbehausung ist sie erst spät gekommen und hat in ihrer neuen Zeit schon wieder viel erlebt.
    II.
    2250 Jahre ruhte die Schöne im Sand von Amarna, bevor sie 1913 nach Berlin reiste, wo sie für ein bewegtes Leben in immer neue Machtspiele verwickelt wurde. Erst am 16. Oktober 2009 bezog sie wieder ihren angestammten Sitz im Neuen Museum und schaut nun voller Selbstbewusstsein weit hinüber bis ans Ende der Bibliothek zum griechischen Sonnengott, der 1500 Jahre jünger ist als sie. Ins Museum kam sie 1913 noch lange nicht. Sie zierte zunächst die Villa von James Simon, die er im Tiergarten auf einem weiten Grundstück hatte, auf dem heute die Landesregierung von Baden-Württemberg residiert. Erst 1920 übergab er die Sonnenkönigin als Schenkung an den Freistaat Preußen für die Ägyptische Abteilung des Museums, wo sie allerdings erst ab 1924 öffentlich ausgestellt worden ist
    Schnell wird die Schöne zum Idol der neuen Zeit in der Weimarer Republik nach dem verheerenden Krieg. Frauen eifern ihr mit Schminke und Makeup nach. Die Presse gewöhnt sich an, sie als die schönste Berlinerin zu titulieren. Berlin ist jedenfalls nach dem Sturz des Kaiserreichs entzückt von ihrer neuen Königin. Sie kommt gerade zur rechten Zeit in das Licht der Öffentlichkeit. So zart, so kühl, so schmal und ein wenig androgyn – das ideale Vorbild für die neue Mode.
    Auch in den Theatern und in der Malerei steht sie Pate. Greta Garbo wird Nofreteteikone. Man hat eine ägyptische Königin, steinalt und doch jenseits von Raum und Zeit supermodern.
    Die Herrschaft der neuen Königin dauert nicht lange. Schon zu Beginn des zerstörerischen zweiten großen Kriegs des Jahrhunderts verschwindet sie in einer Kiste in den Tresor der Reichsbank am Gendarmenmarkt. 1941 wird es auch dort zu heiß, und die Kiste wird in einen Flakbunker am Zoo gebracht. Im März 1945 wandert sie dann tief in den Salzstollen im thüringischen Merkers. Da holen sie die Amerikaner bereits nach zwei Wochen wieder raus und schleppen die Kiste in die Reichsbank nach Frankfurt. Die Kiste hat nun die Aufschrift „Die bunte Königin.“
    So kommt sie als bunte Königin in die Kunstsammelstelle, die in Wiesbaden von der US-Armee eingerichtet worden war. Dem Kunstschutz-Offizier Walter Farmer ist es zu verdanken, dass sie nicht die Fahrt über den Ozean in die Vereinigten Staaten antreten
    muss. Stattdessen schickt sie der Amerikaner Farmer ins Landesmuseum Wiesbaden. Erst im Juni 1956 darf sie ihre Heimreise nach Berlin antreten, ein Triumphzug. In den Osten auf die alte Museumsinselsoll kann sie nicht ziehen. Sie findet einen Platz in der Gemäldegalerie in Dahlem, die damals noch an der Fabeckstraße in Dahlem residierte.
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    Im Oktober 1967 wird das Ägyptische Museum in Charlottenburg mit den westlichen Restbeständen des ehemaligen Neuen Museums eröffnet, nun wieder mit Nofretete in der Mitte. 1992 kommt die alte Schöne in die Klinik zur Generalüberholung, danach geht es wieder zurück nach Charlottenburg. Ein paar Tage ist sie dann 2005 Star der Ausstellung Hieroglyphen um Nofretete im Kulturforum hinter dem Potsdamer Platz. Auch ein kurzes Gastspiel im Alten Museum darf die Sonnengöttin noch absolvieren, bis sich endlich der Reigen wieder schließt und sie mit neuer Kraft ihren alten ruhigen Platz der Zeitlosigkeit im Neuen Museum einnehmen darf.
    Die Geschichte als Vergangenheit birgt eine Unendlichkeit an Beziehungen zwischen Orient und Okzident. Über solche Spielereien der Gedanken mit Blick auf die Menschen in ihrem Gesichtsfeld mag die Sonnenkönigin nicht einmal müde lächeln. Kopf und Hals hat sie nicht nach vorne geneigt, um dem Raunen und Flüstern ihrer vielen Verehrer zu lauschen. Diese Haltung der Zuwendung ist vielmehr der Tribut an die Ewigkeit, mit der sie, die perfekt symmetrisch erschaffene Kunstfrau, Gewicht und Ausdruck statisch am Leichtesten erhalten kann.
    Für diese Statik ist sie ihrem Schöpfer immer wieder dankbar. Wie hätte sie sonst die Jahrhunderte im Sand überleben können, wie die strapaziösen Reisen, ihre Versenkung in Kisten und ihre stets neuen Sockelbetten und Audienzen bewältigen sollen? Nein, ihrem Thutmosis bleibt sie ewig und immer aufs Neue dankbar. Er hatte verstanden, was Echnaton meinte, als er sie die Beglückerin des Herrschers nannte und schön von Angesicht.
    III.
    1913 hat es in der Museumsgeschichte einen spektakulären Fall gegeben. Vierhundert Jahre ist das 77 mal 53 Zentimeter große Bild alt, das als das größte Museumswerk aller Zeiten bis Dezember 1911 im Pariser Louvre zu besichtigen war, die Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Es wurde geklaut, war plötzlich verschwunden.
    Jede Spur von Mona Lisa oder ihrem Dieb fehlte. Der dreiste Einbruch schien perfekt gelaufen zu sein. Im Herbst 1913 spitzte sich die fieberhafte Suche zu, und die Zeitungen waren voller Spekulationen über das Räuberstück. In dieser hektischen und nervösen Vorkriegszeit tauchte der spektakuläre Fall der Nofretete fast unter. Von der Königin in Ägypten redete kaum jemand, als im Dezember 1913 in Florenz ein Brief auftauchte. In ihm meldete sich der neue Besitzer mit der Bemerkung, das Bild gehöre nach Italien, da es von einem Italiener geschaffen worden sei. Er wolle diese Mona Lisa seinem Land wieder zurückgeben.
    Der Mann suchte Kontakte, und bald flog die ganze Geschichte auf. Sie war die Tat eines glühenden Nationalisten. Im italienischen Parlament kam es zu opernreifen Szenen, und erst am Ende des Monats überquerte Mona Lisa unbeschädigt die französische Grenze, um wieder im Louvre zu residieren.
    Diese Aufregungen beherrschten die Öffentlichkeit gerade zu dem Zeitpunkt, als in Ägypten der spektakuläre Fund gemacht wurde. James Simon ist ein weitsichtiger Mann. Er weiß einzuschätzen, was die Bergung der Nofretete bedeuten kann. Er hat ein Gespür für die heraufziehenden Muskelspiele der europäischen Großmächte, die geradewegs in den Krieg führen, auch in den Orient. Eingedenk der Verwicklungen, die der Fall der Mona Lisa nach sich gezogen hat, hält er es für angebracht, die Nofretete nicht in das grelle Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Das, so glaubt er, gelingt am besten, wenn er die
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    Büste auf seinen häuslichen Schreibtisch stellt. Keiner soll lauthals die Frage stellen, wie die schöne Königin nach Berlin kommen konnte. „Beschreiben nützt nichts, ansehen“, hatte Borchardt ausgerufen. Simons Wohnung ist ihr bestes Versteck.
    Ab Januar 1914 steht sie nun da und verbirgt sich unter dem Kanonendonner des Krieges. Borchardt hatte gewarnt, die Verhandlungen über die Aufteilung der Schätze in Ägypten seien derartig schwierig geworden, „dass jede überflüssige Demonstration von Funden schädlich wirken kann.“
    Der Kaiser schwärmt zwar über diese Kostbarkeit. Am liebsten hätte Seine Majestät die Königin an seiner Seite. Doch er erhält 1913 nur eine Kopie und kümmert sich im Übrigen lieber um das Säbelrasseln gegen Frankreich. Der 1. Weltkrieg kommt, und es wird still um die Nofretete im Haus von James Simon. Mit Grabungen in Ägypten ist für die Deutschen Schluss, und nach dem Krieg gibt es andere Sorgen.
    James Simon schenkt 1920 seine große Renaissancesammlung und alle Amarnaschätze dem preußischen Staat in der neuen deutschen Republik. Wenige Jahre später ist dieser große Mäzen und ebenso große Menschenfreund, der riesige Geldbeträge für soziale Projekte gespendet hat, ein armer Mann. In der großen Inflation von 1923 hat er jeden Besitz verloren. Die Liebe seiner Königin ist ihm geblieben.

     

     

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