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Gherkin

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  1. Gherkin

    Das Hanghuhn Lygia

    Das Hanghuhn ist sehr exponiert, und hat sich schräg am Hang platziert. Jedoch dort mittig ausgerichtet, das kurze Bein exakt gewichtet. Die Lygia, meist fabelhaft, meistert Schrägen meisterhaft! Sie scheitert nie so richtig gern, und bleibt den Ebenen oft fern. Unruhige Kurven, seltsame Schlenker, schräge Typen, tiefsinnigste Denker - Chaos liebend und trefflich am Rand: Bietet den wohl schärfsten Verstand! Denn Lygia, die Zauberhafte, 1000 kleine Wunder schaffte. Dieses Hanghuhn – einzigartig, immer einzig, doch nie artig! Ein kürzeres, ein langes Bein, der beste Freund: Ein Warzenschwein! Dieses Huhn kann jeder leiden, der den Mittelweg will meiden. „Ungewöhnlich ist mein Anspruch, Spießertum war stets mein Fluch! Du willst mein Gefährte werden? Wandele stets schräg auf Erden!“ Besonders ist es, dieses Mädchen, nicht eines von Milliarden Rädchen. Sie macht mir Freude, ungelogen, denn sie ist herrlich ungezogen! Bleib doch bitte, wie du bist! Lass den Gockel auf dem Mist, lass alle anderen laut motzen, Wirst dem Mob für immer trotzen!
  2. Wundervoll, liebe Uschi! Humorig und feinsinnig. Vielen Dank. Herzliche Grüße von Gerd
  3. Gherkin

    Der Dschinn

    DER DSCHINN.mp3 Diese alte Kiste. Ich hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr bemerkt. Sie war vom Großvater. Was man doch nicht alles auf dem Speicher findet. Mit dem Ärmel meines Pullovers rieb ich an der alten Öllampe. Ein merkwürdiges Geräusch ließ mich jäh auffahren. Durch eine Art Wolkennebel tauchte eine Figur auf. Schwebend. Ich konnte kaum glauben, was ich da sah. Im Schneidersitz. Ein dicker Typ. Sieht mich ruhig und nicht unfreundlich an. Etwa 1,50 m über dem Boden. Sanft schwingend. Auf einer Art Teppich hockend. Ein Kerl mit Turban. Nun heftig zahnend. Ich ließ die Öllampe fallen. Staunte ungläubig. „Bist du eine Art Flaschengeist?“ fragte ich unsicher. „Was sonst?“ Ich musste schlucken. „Du hast mich eben befreit! Meinen besten Dank dafür. 3 Wünsche will ich dir dafür gern erfüllen…“ Wow! Jetzt kam die Sache richtig in Fahrt. Mein Herz pumpte wild vor Freude. „Dann wünsche ich mir pro Wunsch 12.000 weitere Wünsche, Lampengeist!“ „Ach, come on, Trübnickel… Das ist ja nun wirklich so etwas von Mittelalter, so abgenudelt, so vorhersehbar und völlig abgedroschen, Tumbbeutel! Das ist peinlich für uns beide, öde und sinnfrei. Vergiss diesen Stumpfsinn! Das ist vielleicht in ollen Spielfilmen möglich, aber im wahren Leben totaler Schwachsinn. 3 Wünsche! Nicht mehr, aber auch nicht weniger…“ Der Lampengeist schien verärgert. Ich beeilte mich zu sagen: „Okay dann. Klaro. Nun, ich mache hiermit die komplette Schöpfungsgeschichte rückgängig! Yep!“ War ich durchgedreht? Hatte mich die Aufregung total übermannt? Was war denn da nur in mich gefahren? Unser aller Schöpfer würde aus dem Wams springen. Herrje, was hatte ich mir dabei nur gedacht. Aber ausgesprochen war´s nun mal, es ließ sich wohl nicht mehr rückgängig machen, denn der Lampengeist, von mir liebevoll „Lampi“ genannt, schnippte kurz mit den Fingern – und schwupps… Ein leicht schabendes, dann saugendes Geräusch war da zu hören. Und im nächsten Moment – nichts mehr. Ruhe! Absolute Stille! Das totale Nichts! Kein Straßenlärm mehr, weder Hundegebell noch Vogelgezwitscher. Ich frage in dieses Nichts hinein, und das durchaus etwas verängstigt: „Ähem… Was liegt an? [Räusper] Hallooo? Bist du noch da, Dschinnie-jupwI'?“ (Das war klingonisch, das ich ganz hervorragend sprach und verstand, und bedeutete, so in etwa ‚Mein Freundchen‘ – damit wollte ich testen, ob der Dschinn auch klingonisch sprach und verstand, und zugegeben, ich wollte damit auch ein wenig angeben!) „Na klar“, kam prompt die Antwort aus dem leeren Raum, „ich bin hier, wohin sollte ich denn auch verschwinden, Dämlack?“ „Gibt es die Welt noch? Den Planeten? Die Milchstraße? Das komplette Universum? In der unerreichbaren Ferne – Epsilon Reticuli?“ Doch ich ahnte die Antwort des Lampengeistes bereits. „Mann, du hast ALLES gelöscht. Nicht einmal Gott existiert noch. Es gibt nur noch dich und mich, Du Vollpfosten. Format C:// - herzlichen Glückwunsch! Diese sorgsam gespeicherte Festplatte wurde gelöscht, nichts existiert, nichts umgibt uns! Du hast die komplette Einheit formatiert!“ Der deutlich übergewichtige Dschinn tauchte, wie die Grinsekatz aus „Alice im Wunderland“, langsam Konturen annehmend, wieder auf. Er sah mich irgendwie sehr streng an, jedoch auch mit in keiner Weise besorgter Miene. Doch sein Blick ließ mich wissen, dass er mir ein generelles Wunsch-Potenzial rigoros absprach. Ich hatte die Matrix vernichtet. Das ist so peinlich wie ein Furz im vollbesetzten Fahrstuhl, und alle schauen DICH an, vorwurfsvoll, die Nase rümpfend. Und obschon der 7. Stock gar nicht dein Stockwerk ist, schlüpfst du dennoch rasch aus der Kabine. Gestank zurücklassend. Und schimpfende Menschen. „Tja, und nun? Was liegt an? Ausblick? Optionen? Vorschläge?“ Ich versuchte, tapfer zu wirken und brachte ein mühsames Lächeln zustande. „Null Zukunft! Das, was du als Punk in Deiner beschissenen Jugend, mit Sicherheitsnadel im Ohr, so gern gebrüllt hast, nämlich NO FUTURE, anklagend und aggressiv, das hast du jetzt, keine 40 Jahre später, realiter vor dir, echt und unverfälscht: Keine Zukunft! Es gibt keine Vergangenheit, keinerlei Aussicht auf Veränderung, ganz einfach Nichts und Null und Nada, verstehst du, Doppel-Nerd und Vierfach-Geek? N-O-T-H-I-N-G! Und das ändert sich auch nicht mehr, lo capisci??“ Hmm, ein italienischer Lampengeist? Merkwürdig, kommen diese Typen nicht eigentlich stets aus dem Orient? So hatte ich es jedenfalls einst gelernt. Fragte mich allerdings, woher ich das wusste. Klingonisch konnte ich bei dem Typ vergessen. Der Geist fuhr fort: „Nichts, was für euch Menschen auch nur im Ansatz eine bedingte Art von Nutzen darzustellen in der Lage wäre, rein gar nichts mehr existiert. Ich frage mich ja sowieso, was ihr euch bei mancher Sache, bei manchem Produkt gedacht habt. Wozu, in aller Welt, gibt es Back-Camembert, einen Teepinguin oder den Schokolade-Tisch-Springbrunnen? Es gibt eine heilige Käse-Reibe mit dem Konterfei von Jesus vorne drauf. Ihr nennt diesen Blödsinn „Cheesus Christ“. Hallooo? Geht´s noch? Ich sah Rentier Auto Deko-Sets, Cute Dust Mop Slippers, einen Mini Anti Stress Kombination Desktop Speed Punching Ball, I love Bacon 2023 Kalender, sogar Gras Flip Flops Zehentrenner Strandschuhe mit Kunstrasen, und, unfassbar: Einen Glatzenkamm, den du bei Amazon bestellen kannst, für sagenhafte € 8,95, versandfertig in 2-3 Tagen… Habt ihr Menschen sie denn noch alle beisammen? Wozu braucht ihr denn Waschmaschinenimpressionen-DVDs? Kaminfeuer-DVDs? Einhorn-Kopfbänder? Surf Max Nasenstifte? Bugle Boy Bettwäsche? Notfall-Unterhosenspender oder bunte Banana Slicer? Wozu, frage ich dich? Ernsthaft jetzt. Habt ihr noch alle Heftklammern in der Curriculum Vitae? Oha, nicht, dass ihr Menschen jemals etwas erschaffen hättet, was für das Überdauern irgendeine Art von Wert darstellen könnte. Und nun – ein für uns beide kaum rational zu fassendes Nichts mit einer durch uns beiden personifizierten Form von… äh… Anwesenheit. Begreife es, wir stehen nicht einmal vor dem Beginn allen Seins. Wir befinden uns weder vor noch nach irgendeinem Ereignis in der Abfolge aller Zeiten und aller Existenzen. Es gibt nur noch dich und mich. Ohne einen Raum. Und ohne eine Art von Zeitablauf. Wir haben nur noch uns! Und ich langweile mich jetzt schon mit dir. Zur Initialzündung braucht es einen Schöpfer. Ohne Gott keinen Knall, du weißt schon, diesen Urknall meine ich, 14 Milliarden Jahre zurückreichend. Also... Nur so ein Tipp: Vielleicht solltest du Wunsch 2 und 3 ein ganz klein wenig besser bedenken, Luschenkopf! Ja? Kopf einschalten, dann losplappern. Kriegst du das hin, alterndes Hamsterbäckchen?“ Der Lampengeist hatte durchaus Recht. Sowohl mit dem Altern, mit den Hamsterbacken und mit dem besseren Überblick. Dieser Einstieg schien suboptimal verlaufen zu sein. Mit all meinem Mut setzte ich jetzt neu an: „Stimmt! Ich mache diesen tja äh Zustand wieder rückgängig. Gehen wir in die Zeit von etwa vor zwanzig Minuten zurück. Als noch alles in Ordnung war!“ Schnippen, und Zzzwuuusch, da war es wieder, dieses schabende Geräusch! Plopp. Totale Amnesie. Alles weg. Und… …plötzlich fand ich mich auf dem Speicher wieder. Kurz davor, eine alte Kiste zu öffnen. Ich hob den Deckel an. Obenauf lag eine alte, mir völlig unbekannte Öllampe. Ich nahm sie in die Hand. Konnte mich beim besten Willen nicht an dieses uralte Teil erinnern. Woher habe ich diese Lampe bloß? Sie muss meinem Großvater gehört haben, denn dies ist seine Kiste. Sie lagerte wohl schon gute vierzig Jahre hier oben, auf dem Speicher meines alten Elternhauses. Mit dem Ärmel meines Pullovers rieb ich ein wenig an der Lampe. Ein saugendes, seltsam schabend-zischendes Geräusch drang an mein Ohr. Zu meiner großen Verwunderung erschien da, wie aus dem Nichts, eine Figur. Schwebend. Mitten im Raum. Orientalisch aussehend. Mit Turban auf dem Kopf. Oberkörper nackt. Pumphosen, merkwürdige Pantoffel, stark müffelnd. Im Schneidersitz. Auf einem Teppich. Ich fragte mutig, denn ich mag überhaupt keine dieser peinlichen Pausen, wenn sich zwei Personen in einem Raum befinden: „Schalömchen… Bist du vielleicht ein Lampengeist??“ Die Antwort kam prompt: „Ja doch, Mann… Bin ich. Und du, du hast einen Wunsch frei!“ „Wie jetzt… EINEN? Werden nicht üblicherweise drei Wünsche offeriert?“ hörte ich mich, mit durchaus anklagendem Unterton, jetzt fragen. Der Dschinn schien genervt. Und tat doch prompt so, als würden wir uns schon eine gute Weile kennen. Frechheit. „Nein, Thaddädl. Zwei davon hast du nämlich bereits reichlich sinnlos vergeigt, vergeudet, vertan, verjuxt! (Verfällt plötzlich in den englischen Sprachgebrauch) You´re not my sharpest tool in the shed, aren´t you, Rüsselgumpen?“ (Den Thaddädl nahm ich ihm wirklich übel - und da ich Englisch nicht verstand, konnte er mir mit diesem Satz auch nicht wehtun; sicher ist es etwas Abschätziges gewesen) Na, der Typ hatte ja Manieren. Etwas pikiert meinte ich: „Nun, ich bin dir doch nie zuvor begegnet. Davon müsste ich ja wohl wissen, Ali. An so etwas erinnert man sich doch…“ Barsch unterbrach mich der Geist: „Ich heiße nicht Ali! Und wir hatten eben erst miteinander zu tun. Echt jetzt. Glaub mir das gefälligst. Denn wir Lampengeister können und dürfen nicht lügen… Und mittlerweile bereue ich diese unsere erste Begegnung bereits sehr, Trichterohr. Aber wer auch immer mich aus dieser misslichen Lage befreit (der Dschinn deutete auf die Öllampe), der hat das Recht, von mir 3 Wünsche erfüllt zu bekommen. In deinem Fall geht es allerdings nur mehr um einen Wunsch, Habib! (Aha, also doch ein Orientale! Wusste ich es doch!) Also, leg schon los, Glupschauge, damit wir hier mal endlich vorankommen…“ „Na gut, ich wünsche mir also für diesen einen Wunsch 3 weitere Wünsche!“ Keck kamen die Worte. Ich war zuversichtlich. So trickst man einen Lampengeist aus. Well done. „Ach, hör auf mit dieser Kacke… Das ist nun wirklich nicht mehr lustig, Schiefhals… Und es war schon beim ersten Mal nicht lustig. Ich sage es dir nicht noch einmal, ja? Ich erfülle dir hiermit EINEN EINZIGEN WUNSCH, ist das jetzt kapiert worden, ja? Und nun mach hinne, Mann. Butter bei die Fische! Ich habe noch was vor heute, Du Minus-IQ-Loser! Und danach, darauf kannst du aber literweise Gift saufen gehen, trennen sich unsere Wege SOFORT. Echt jetzt, ich habe noch Pläne für heute… Eine Verabredung, Eimerschädel, und ich meine ganz sicher nicht Barbara Eden… Die wäre mir viel zu alt...“ Na, dieser Lampengeist, den ich jetzt gerade mal drei, vier Minuten kannte, war ganz schön gewöhnungsbedürftig. Einen Ton hatte der am Leib… Und er müffelte auch wirklich heftig. Ein starker Hecht wehte zu mir herüber. Und der kam vom Besitzer des Teppichs. Eindeutig. Ich hatte extra links und rechts unter meinen Armen geschnuppert. Ich war das nicht. Ich dachte: Duschen vielleicht? Duschen wäre vielleicht die vornehmste Hygiene-Option eines befreiten Lampengeistes! Aber ich sprach es nicht aus. Dieser Typ sah genervt, sogar ein wenig aggressiv drein. Man sollte so einen Dschinn lieber nicht noch zusätzlich verärgern, wenn er denn schon so deutlich gestresst dreinblickte. Sicher stand das in irgendeinem Handbuch. Dennoch, egal jetzt, für diesen „Minus-IQ-Loser“ wollte ich ihm schon einen vor den Bug knallen. Yep! „Du stinkst ja wie ein nasses Frettchen, Master Dschinn!“ „Ja, was für ein Wunder auch… Immerhin fast gute 400 Jahre verbringe ich jetzt schon in dieser ollen Öllampe, ohne Deo-Spray. Bis du mich endlich befreit hast, zum zweiten Male übrigens. Also, eine gewisse Dankbarkeit darfst du schon von mir erwarten. Wie nun lautet dein Wunsch, tumber Bursche?“ „Bursche?“ „Ja, Bursche…“ (Kundenservice: Mau, Freundlichkeit: Suboptimal, Kleidung: Nachlässig, Körper-Odeur: Penetrant, im Englischen würde man wohl von Pungent Stench sprechen, aber ich spreche ja leider kein Englisch!) Ich dachte nur kurz nach, dann verkündete ich locker: „Gut denn. Ich wünsche mich exakt in die Zeit zurück, da ich noch 3 Wünsche frei gehabt hätte, also kurz bevor ich dich, Freundchen und Dschinni-Baby, aus dem Öllampen-Gefängnis erstmalig befreite, obschon ich mich ja daran null erinnern kann. Ja, das ist mein Wunsch! Jetzt und sofort!“ Der Geist schnippte. Zwusch… Ich befinde mich auf dem Speicher. Was will ich hier? Ich sehe mich um. Da steht eine alte Kiste. Ich erinnere mich dunkel. Die gehörte einst meinem längst verstorbenen Großvater. Da steigt meine Frau zu mir hoch, ächzt sich die Leiter hinauf. „Das ist so lieb von dir, dass du hier endlich einmal aufräumen willst. Hier sieht es jämmerlich aus. Weißt du was…? Fang gleich mal mit dieser alten Kiste hier an (und sie deutete auf eben jenen klobig wirkenden Kasten meines Opas), weg damit! Und vielen Dank dafür, mein liebster Schatz.“ Sie kam zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich liebe sie so sehr. Sie hat und behält stets den Überblick. Sie ist der Motor unserer Beziehung. Mein liebster Mensch auf Erden. „Wenn du dich beeilst, dann bist du sie jetzt gleich los. Die Sperrmüll-Abfuhr ist beim Nachbarn. Du gibst den Männern 10 Euro – und schon ist dieser unförmige olle Kasten da Geschichte. Was meinst Du, hm, mein Bärchen?“ Wenn sie mich „mein Bärchen“ nannte, dann hatte sie schon gewonnen. Eigentlich wollte ich ja noch in die Kiste schauen, aber dazu war keine Zeit mehr. Was mochte sie an Schätzen, an Kostbarem bergen? Na ja, wenn ich all die Jahrzehnte nicht daran interessiert war, dann dürfte es auch jetzt nicht gar so umwerfend sein, was sich da alles an altem Krempel in der Kiste befindet… Ich wuchtete das kantige Teil nach unten, hastete zum Nachbarn. Tatsächlich. Gut. Da war der Containerwagen noch. Ich händigte einem der Männer den 10er aus: „Können Sie dieses Teil noch mitnehmen, bitte?“ – „Klar doch, Chef, kein Problem…“ Und schon wanderte die Kiste in das Müllfahrzeug der hiesigen Stadtreinigung. Ab dafür, dachte ich. Nur wech mit Schaden. Ein kaum bemerkbar mulmiges Gefühl bemächtigte sich meiner Seele. Hätte ich vielleicht doch noch mal dort reinschauen sollen? Mit einer nur halb ausgeführten Bewegung in den leeren Raum hinein wischte ich meine letzten Zweifel selbst beiseite. Ach was… Die alte Uniform vom Spielmannszug wird drin gewesen sein, das eine oder andere Porno-Heft, aber sonst… Nicht das geringste Bisschen, worüber es jetzt nachzudenken lohnen könnte. Dennoch... ...eine gewisse Bedrückung blieb. Und sie haftete mir den gesamten Tag über an. Auch ein seltsam modriger Geruch, den sogar meine Frau monierte: „Aber jetzt mal flott unter die Dusche, mein großer Stinker…“ Ein Kuss auf die Nasenspitze. Ich liebe sie so sehr. Ein gutes Gefühl, Altlasten entsorgt und den Dachboden ein wenig entrümpelt zu haben. Am Abend sah ich mir mit meiner Frau einige alte Folgen „Bezaubernde Jeannie“ mit dem damals blutjungen Larry Hagman an. Eine durch nichts zu begründende, innere Erregung ergriff von mir Besitz, wann immer Jeannie die Arme verschränkte und blinzelte. Warum?? Was war der Grund? Schauder durchströmten meinen Körper, ich konnte nicht herausfinden, woran das lag oder weshalb ich so reagierte. War es, weil die Erinnerung an längst vergangene Jugendzeiten ambivalente Gefühle in mir erzeugten? Für nichts in der Welt wollte ich wieder ein Teenager sein – all die Wirrungen und Verirrungen, all dieses Gefühlschaos und all die vielen zerstörten Hoffnungen… Andererseits wieder: Da sitzt du auf der Couch und alterst und alterst und jede verdammte Minute wird ein wenig mehr gestorben. Wie also kam dieses Kribbeln im Körper zustande? Woher kam dieses merkwürdige Gefühl nur, undefinierbar und diffus? Ach, wen kümmert es schon? Ich hab mein Mädel im Arm, einen Mango-Smoothie direkt vor mir, die Nostalgie-Show vor Augen – es ist schon alles in Ordnung so. Exakt so, wie es sich darstellt. Gerade verschränkte Barbara Eden die Arme, nickte mit dem hübschen Kopf und blinzelte. Wie schön wäre das doch, mal eben drei Wünsche frei zu haben. Ich würde mir wohl sofort zwölf Dutzend weiterer Wünsche wünschen. Das geht doch, oder? Bin ja Laie auf diesem Gebiet. Wie ja wohl so ziemlich alle Menschen auf diesem Planeten. Was in aller Welt roch hier nur so streng? Ich hatte doch gerade eben erst geduscht… („WIE-GEWO-SO-ZERRO“) Aber eigentlich hab ich ja schon 3 Wünsche erfüllt bekommen. Meine süße Frau, den Mango-Smoothie und die komplette Serie „Bezaubernde Jeannie“ aus dem Jahr 2014, für 48,99 EUR, bei Otto gekauft. Nostalgie olé!
  4. Längst vergessene Schätze der Weltliteratur Versuch einer vorsichtigen Annäherung Heute: Pedro Junghans „Nichts ist eine Menge“ („Nada es una cantidad“, Cervantes, 1971, Paraguay) Das Buch mit dem fast mathematisch anmutenden Titel „Nichts ist eine Menge“ von Pedro Junghans erschien 1971 im Cervantes Verlag der Freien Autoren Paraguays, ist 481 Seiten dick und birgt eine Menge an Feinsinn, Beobachtungsgabe und latenter Gesellschaftskritik. Ein wunderbares, ein unerhörtes Buch, ein Meisterwerk. Ich las das Buch wohl zum Ende der 80er Jahre, in 4 aufeinander folgenden Tagen/Nächten erstmalig. Die Hauptperson heißt Pedro. Das kann darauf schließen lassen, dass dieses Buch autobiografische Züge trägt, aber natürlich mag es auch die narzisstisch-egozentrische Welt des Autors vor Augen führen. Aber wer von allen Schriftstellern dieses Planeten ist denn nicht eitel und ein wenig selbstverliebt? Wer? In die eigenen Satzstrukturen, in das mühsam Erarbeitete, in die sorgsam zu Papier gebrachte Gedankenflut?? Es gibt wohl keinen Schreibenden, dem Narzissmus fremd ist. Es dürfte sogar eine Form der Voraussetzung sein, überhaupt eine Idee zu einem Roman zu Papier zu bringen, Gestalt werden zu lassen, letztlich niederzuschreiben. Nach Prof. Borwin Bandelow kann es nicht schaden, um Erfolg als Autor haben zu können, wenn sich eine Borderline-Störung mit Narzissmus paart, um dann psychische Instabilität zu gebären. Leid und Tragik im Leben eines Schriftstellers sind also das Fundament für wirklich gute Arbeiten und wahrhaft geniale Ergüsse. In Pedro Junghans haben wir einen Vertreter exakt dieser Zunft. Ein Prototyp. „Nichts ist eine Menge“ heißt: Wer gar nichts hat, hat dennoch immer wenigstens etwas. Wer so gut wie am Boden ist, oder bereits schon liegt, wer die letzte Sprosse der sozialen Leiter hinab geklettert ist und mit dem linken Fuß bereits Bodenkontakt hat, der kann doch immerhin noch Würde, Zorn, Ehre, Verbitterung, Mut oder Trotz vorweisen. Das Werk soll uns aufzeigen, was der alte Bettler im abgerissenen Mantel fühlt, der mit einem einstmals entwendeten „Norma“-Einkaufswagen, in dem seine vier Beutel, all sein Hab und Gut, lagern, gemächlich über die Seitenstraßen schlurft, wobei eines der Räder leicht quietschende Geräusche von sich gibt. Der Normalbürger würde wohl behaupten, der Bettler sei völlig mittellos. Pedro Junghans schreibt gegen dieses Vorurteils belastete Denken an und gibt zu beDENKEN: In den 4 Beuteln schlummern Kostbarkeiten und Raritäten, der Wagen ist reiner Luxus, im Kopf des Bettlers – tausend farbenfrohe Fantasien, melancholisch untermalt, wie bei dem „Mädchen mit den Zündhölzern“, das nichts anderes als Wärme und Schutz sucht. Die Würde im absoluten Scheitern, das ist Junghans´ Thema. Er lässt seinen Pedro durch Asunción schlendern, es könnte aber auch jede andere südamerikanische Stadt sein, Mitte Februar, es ist drückend schwül, und dabei Philosophieren, Betrachten und Reflektieren. Halblaute Selbstgespräche, mitunter auch Dialoge, die bisweilen ermüdend wirken können in dieser Häufung, begleiten seinen langen Marsch. Er ist völlig verarmt, hat wahrlich keinerlei Weggefährten, kennt anscheinend nur diesen mysteriösen Uhrmacher Carlos Benjamin, der immer und immer wieder, oft zur Unzeit, an allen Ecken und Enden in Asunción auftaucht. Am Ende des Buches fragt sich der Leser: Kann der Uhrmacher wirklich fliegen? Hat der geheimnisvolle alte Mann die Gabe, die Zeit vorübergehend anzuhalten? Oder ist dies nur Traum-, Sinnbild einer gepeinigten Seele, die aufschreit? „Haltet ein! Verharret! So verharret doch endlich!“ So steht es auf Seite 120. Diese manchmal komische, dann wieder bedrückende, schließlich auch tragische Reise ist nicht nur hervorragend beobachtet, sie ist auch eine stilistische Meisterleistung des Autors. Wer einmal total in sein Genre, sein Sujet, eingetaucht ist, es vollinhaltlich begriffen und verstanden hat, der kann ja quasi „aus dem Vollen schöpfen“. Junghans hat am eigenen Leib erfahren, wie es ist, ohne Geld und ohne Zukunft in einer Stadt zu leben, die von Hyänen wimmelt, die keine Gnade kennt, in der die so berühmte Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander klafft wie einst Babylons Schenkel. Begegnungen all überall, doch entsteht keine Freundschaft, nichts ist von Dauer. Man begrüßt sich, man kennt sich, flüchtige Berührungen, unverbindliche kurze und reichlich oberflächliche Bekanntschaften, durchaus ernst in manch derber Heiterkeit, gespielt von grandiosen Schauspielern in erbärmlicher Kulisse. Der Schriftsteller P. Junghans ist Sohn eines deutschen Vaters, der 1946 auf verschlungenen Pfaden in Peru landet (Nazivergangenheit? Flucht? Fernweh?), dort auf Emilia Rosetta Gonzales de Marco trifft, einer bildschönen Mexikanerin, wie erhaltene Bilder zu belegen wissen, feurig und glutäugig, sie heiratet und mit ihr nach Paraguay zieht, um dort von einer versteckten Hanfplantage zu leben, angeblich von den Behörden gegen sehr hohe Bakschisch-Zahlungen geduldet. Diese Emilia gebiert an einem Tag im Mai, Pedro Junghans verschweigt uns den Tag beharrlich, ihren einzigen Sohn. Wir schreiben das Jahr 1949. Friedrich Junghans stirbt unter bis heute ungeklärten Umständen bei einem Brand, dem nicht nur das feudale Haus „Carpa de Buena Esperanza Junghans“ („Zelt der Guten Hoffnung“) zum Opfer fiel, sondern auch die komplette, großflächige Hanfplantage. Da der Hanfanbau wohl die einzige Einnahmequelle für die Familie Junghans gewesen ist, fanden sich Emilia und Sohn Pedro auf der Straße wieder. An Rücklagen hatte man nicht gedacht, mit dem Haus war auch alles Bargeld und die Schuldscheine/Aktien/Anteilsurkunden verbrannt. Emilia gab sich der Prostitution hin, nach dem stets unbestätigten Gerücht war der eigene Sohn auch ihr Zuhälter. Schließlich starb diese Emilia, da ist ihr Sohn erst 20 Jahre alt. Auch hier: Die Umstände des (offensichtlich gewaltsamen) Todes sind nie völlig aufgeklärt worden. Strangulationsunterblutungen konnten festgestellt werden, jedoch ist nach dem Totenschein eine von den Behörden tolerierte „natürliche Todesursache“ dokumentiert. Emilia Rosetta Gonzales de Marco Junghans wurde lediglich 41 Jahre alt. Sie wurde anonym bestattet. Pedro Junghans schlug sich mittellos und wohl auch eine Zeitlang als Stricher, wacker zwar, doch psychisch sehr labil, einigermaßen durch. Eine alte Wahrsagerin namens, wie kann es anders sein, „Esmeralda“, soll ihm dann gegen Aushändigung seines Amuletts, das ihm seine Mutter als einzigen wirklich erwähnenswerten Besitz hinterließ, es zeigte einen Skarabäus, geraten haben, JETZT und sofort einen Roman zu schreiben. Dieser würde bekannt werden und den jungen Schriftsteller quasi über Nacht berühmt machen. Auch würde der Stoff dann, jedoch viele Jahre später, verfilmt. Nun, bis heute warten wir auf die Verfilmung, aber wir wissen sicher, dass Pedro Junghans sich noch in dieser Nacht daran begab, die ersten Absätze zu schreiben. „Nichts ist eine Menge“ stand als Titel bereits fest. Junghans beteuerte stets: „Den Titel gab es vor dem Buch“. 1970 begann Pedro Junghans zu schreiben, er war knapp 21 Jahre alt. Seine Schriftstellerkarriere sollte lediglich 14 Jahre umfassen, insgesamt schrieb Pedro Junghans vier Bücher, doch keines erreichte auch nur im Ansatz diese Klasse, die Berühmtheit und die Anerkennung seines Werkes „Nichts ist eine Menge“. Orson Welles interessiert sich 1971 für dieses Buch, will es unbedingt verfilmen. Sein Film „The Deep“ (1967–1970) war fast fertig, als Welles das Geld ausging und die Dreharbeiten verschoben werden mussten. Kurz darauf starb der Hauptdarsteller Laurence Harvey, so dass die fehlenden Szenen nicht mehr nachgedreht werden konnten. Nach dieser sehr tragischen Entwicklung, 3 Jahre vergeblicher Arbeit, die viel Geld und Nerven gekostet hatte, stieß Orson Welles auf „Nichts ist eine Menge“ dieses jungen, unbekannten Autors. Er wollte die Rechte erwerben, doch Junghans sagte: „No, Señor“. Und Orson Welles schmollte…. Eine enge Mitarbeiterin, die damals zum Mitarbeiter-Stab rund um die Produktion des Films „The Deep“ gehörte, hat den Wortlaut des Ablehnungsschreibens per Fax übermittelt. Es bestand nur aus oben angeführtem „No, Señor!“ und dem Zusatz „Caballero, tiene que entender esto de una vez por todas“ (frei übersetzt etwa: „Das sollten Sie jetzt aber ein für alle Mal verstanden haben“). Welles empfand dies als eine persönliche Kränkung und fragte nie wieder nach. Andere Regisseure wie Pedro Almodóvar Caballero (* 24. September 1949 in Calzada de Calatrava, Ciudad Real) oder Carlos Saura (* 4. Januar 1932 in Huesca/Aragón) fragten ebenfalls an, erfuhren aber ebenso eine Absage. Für einen solch jungen Schriftsteller ist es mehr als bemerkenswert, wie prägend seine Figuren, wie tief philosophisch seine Gedankengänge, wie exakt die Charaktere gezeichnet sind, und wie genau sie beobachtet wurden. Ich kann es mir anders nicht vorstellen: Jede prägende Begegnung in Junghans´ Leben findet hier ihren Niederschlag. Vor allem jener mysteriöse Uhrmacher Carlos Benjamin ist sehr liebevoll gezeichnet, möglicherweise eine Metapher für den schwer zu kompensierenden Verlust des geliebten, früh verstorbenen Vaters. Wie kann ein 20jähriger so präzise, so unbestechlich klar, sicher hie und da verspielt, aber niemals ins Schwafeln abtrudelnder Autor solch herrliche Sätze erschaffen? „Siehst du heimlich, kurz nur, von der Seite in des alten Mannes Antlitz, so wunderbar das Profil zu schauen, so mächtig wirkt der knorrige Eindruck jener imposanten Persönlichkeit, siehst du wissend, Wahrheit erblickend, in dieses Gesicht voller Runzeln, Narben und tausend Krater, weißt du um die Erhabenheit der Natur, um die Weisheit des Alters, erkennst im verglühenden, glanzlosen Auge gar die Herrlichkeit des Zeitenstromes, der unaufhörlich voran strebt, alles vergessend und dennoch alles bewahrend. Pedro beschlich ein mulmiges Gefühl. Ihm deuchte, er habe nicht das Recht, dies Antlitz solchermaßen zu ergründen. Die Schuld lag in seiner unbekümmerten Jugend. Schauen darf sie zwar, doch bereits wissen? Tiefe Blicke sind den Liebenden der Nacht erlaubt, um gegenseitig in der Augen Teiche zu ertrinken, jämmerlich zu ersaufen. Der Weisheit Größe, in jeder Pore erkennbar, scheint für eines jungen Mannes Auge zu gewaltig, er hat sich mit einem brennenden Dornbusch zu begnügen!“ Die Figur des „Ezechiel“, einem immigrierten Juden aus Lettland, hat so viel Wärme, dass mir die eine oder andere Träne, von mir unbemerkt während der Lektüre, über die Wange rann. Erwähnenswert ist die Detailtreue der Schilderungen des damaligen Asunción. Ich selbst war dort, in Paraguay, habe die Wege, Gassen und Straßen aufgesucht, in denen der Roman spielt. Tiefe Wehmut überkam mich im Historischen Zentrum der Hauptstadt Paraguays. Ein Elendsgürtel umschließt die wunderschönen Bauten, in denen zu Pedros Zeiten gelacht, geliebt und schlicht gelebt wurde. Der Anblick all dieses Elends ist nur schwer zu ertragen. Ähnlich mag es all den Estebans, Ezechiels und Ellys ergangen sein, in den frühen 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Doch wer von uns kann „Elend im Elend“ erfassen? Wer hat wirklich auf der Straße gelebt, gehungert, Zorn verspürend, Ohnmacht stärker noch? Pedro Junghans! Er kennt, wovon er schreibt, er weiß, was er seine Hauptfigur P. denken lässt. „Wehmut, Wermut und Wut sind schwer ertragbare, recht skurrile Bettgenossen“, spricht Junghans weise durch den Uhrmacher Carlos Benjamin. Bildgewaltig, deutungsstark, ironisch und provokant, stimmungsvoll und niemals allzu lässig – ein gelungener Debüt-Roman eines bis dahin (1971) völlig unbekannten Autors. Ein wichtiges Buch. Lesens- und Bewahrens wert, Cervantes sei bedankt. Facettenreich, wortgewaltig, mit keck-dreistem Humor ausgestattet, manchmal sogar süffisant und sardonisch, so lässt uns Junghans in die Nacht der liebenswerten Spinner, der eloquenten bierseligen Philosophen und freundlichen Chaoten eintauchen, er bringt uns all die Kaputten, die Verlierer und Geknechteten einer unwissentlich bereits besiegten Gesellschaftsstruktur näher. Diese Weitsicht – ich muss es immer wieder betonen: Ein 20jähriger schrieb diesen Roman! – all diese Wucht dieser immens starken Charaktere, erfreulich stressfrei trotz immanenter Probleme und Sorgen, nahezu unaufgeregt geschildert. Manchmal dringt etwas zu viel Pathos durch, mitunter kommen all diese Nachtgespenster ein wenig zu pomadig, zu behäbig daher, die Figur des „Esteban“ z. B. verquast, schon fast durchgeistigt (trennt sich selbst einen Finger ab, um wieder einmal Ekstase erleben zu dürfen; das nimmt man dieser Figur in dieser Art und Weise einfach nicht ab!), öfter kommt es vor, wie bereits erwähnt, dass die inneren Dialoge zu lange währen. Die Monologe dagegen sind reines Meisterwerk, erinnern phasenweise an Ken Keseys „One flew east, one flew west, one flew over the cuckoo´s nest“, wenn der „stumme“ Indianerhäuptling seinen innersten Gefühlen Ausdruck verleiht. Das Buch ist gelungen, rundum. Keine Seite zu lang, man möchte aber auch keine einzige Seite darin missen. Fabulierfreudig kommt uns Pedro J. daher, er ist ein glänzender Erzähler. Das Werk liest sich flüssig, die Dramaturgie scheint mir sehr gelungen. Aufbau, Struktur und Klimax sind folgerichtig und „mathematisch genau“, das Timing hat mich fast erschlagen. So exakt sitzt das Aha-Erlebnis, wuchtig prügelt dir diese Weisheiten-Maschine einen Vorschlaghammer in die Weichteile, mächtig brettern vielfältige Eindrücke durchs aufnahmebereite Hirn, du befindest dich mitten in Asunción, es ist Nacht, die Nacht im Februar, und du triffst tausend Menschen. Habgierige, böse und gute, leidenschaftliche wie auch offensichtlich längst verstorbene Persönlichkeiten, selten vergilbt die Sprache des Autors, immer jedoch wach, sicheren Auges, klaren Wortes. Mit 39 € ist dies, mit erhabenem Skarabäus auf dem Kunstledereinband, wiederentdeckte und neu aufgelegte Buch nicht gerade billig. Aber man wird es auch niemals nur einmal lesen und dann nicht wieder zur Hand nehmen. Ich lese, je nach Stimmung, gerne die Passagen mit dem Uhrmacher, die sich wie eine eigene Geschichte durch das ganze Buch ziehen, wenn ich schwermütig, traurig, melancholisch und fernab heiteren Gemütes bin; möchte ich fröhlich sein und lachen, dann fesseln mich die Geschichten rund um die „deutsche Elly“ und den gestrandeten Seebären „Frost“, die sich unablässig streiten und versöhnen. Auch die Story über den Versuch, einen Tapir zu zerlegen und schließlich zu essen, ist ungewöhnlich erheiternd. Möchte man am „Festmahl“ teilnehmen? Nein, eher nicht. Aber doch wenigstens mit am Feuer sitzen. Der Uhrmacher gerät dem jungen Autoren etwas zu geheimnisvoll. Die Allegorie für die Allmacht Gottes und die Weisheit unserer Mutter Natur, vom Leben und Sterben, von Wissen, Ohnmacht, Scheitern, Siegen und schließlich auch jene überzeugende Omnipotenz des Alters, das auf seine Weise über die Jugend triumphiert, und dennoch niemals gewinnen kann, hat Tiefe, birgt eine kongeniale Wertvorstellungsphilosophie, wird stringent erzählt und geriert zum Mittelpunkt des tragikomischen Werkes. Früh kann entschlüsselt werden, um was es Junghans bei diesem doch überaus sympathischen Protagonisten geht, daher hätte es ihm gut zu Wort gestanden, wäre die Figur weniger mystisch geraten, greifbarer, menschlicher, nicht gar so abgehoben – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn in Kapitel VI fliegt der Uhrmacher durch das Dachfenster davon. Sicherlich aber sind gerade die Passagen mit und über Carlos Benjamin, den Uhrmacher, die besten Stellen des Buches, das übrigens hervorragend vom Spanischen ins Deutsche übersetzt wurde. Ein Dr. Rudy Estebez zeichnet hierfür verantwortlich. Ich liebe all die tausend Geschichten innerhalb dieser einen, großen Geschichte, ich liebe dieses Buch sehr. Ich kann es jedem empfehlen, der Erzählkunst, einen schnörkellosen Schreibstil und großartig beobachtete Charaktere liebt. Man sollte jedoch eine große Sympathie für liebenswerte Verlierer im Herzen tragen. Mitunter verleihe ich dieses Buch und frage dann: Wie alt, glauben Sie, ist der Schriftsteller bei Verfassung des Romans gewesen? Sehr oft höre ich: Sicherlich im fortgeschrittenen Alter, wahrscheinlich ein Spätwerk. Hört der Leser dann, dass ein zu jener Zeit gerade einmal Volljähriger dieses großartige Werk schuf, ein Jahrhundertwurf, ein Geniestreich, dann ist das Erstaunen groß. Und keiner kennt diesen Autor. Merkwürdig bleibt, dass über Pedro Junghans, viel zu früh im Jahre 1990 an Nierenversagen in Bad Neuenahr verstorben, so gut wie nichts bekannt ist. Eine tragische Figur, ein wahrer Paradiesvogel, ähnlich eines B. Traven, immer auf der Suche, immer unterwegs. Er bereiste ganz Südamerika, wohnte in Berlin, Amsterdam, Lissabon und Neapel. Zuletzt besuchte er den Heimatort seines Vaters, bereits schwer krank, Ahrweiler. Die deutsche Sprache hat er nie ganz erlernt, dafür sprach Junghans sehr gut Italienisch, Portugiesisch und Holländisch, neben seiner Muttersprache Spanisch. Er soll, genau weiß das niemand, Codein abhängig gewesen sein, dies berichten übereinstimmend zwei Frauen, die ihm wohl nahe gestanden haben dürften. Eine davon, Elly, eine Niederländerin, findet sich dann als „deutsche Elly“ wieder. Eine Verquickung der deutschen Wurzeln mit der holländischen Liebe, eine Verbeugung vor Europa, aus dessen Schoß uns dieses junge Talent einst geschenkt wurde. Für den Roman gab es den nationalen „Pegasus“-Preis, verbunden mit 6.000.000 PYG (Paraguay Guarani), zur damaligen Zeit ein kleines Vermögen, heute etwa 1000 €. Pedro Junghans soll dafür jenes „Zelt der Guten Hoffnung“, das Elternhaus, wieder auferstehen lassen haben. Es ist nicht belegt, ob es dieses Gebäude heute noch gibt. An bezeichneter Adresse fand sich – nichts. Doch... Nichts ist eine Menge… ZUSATZ: “DER TAPIR” Auszüge aus Hans Ulrich Gumbrecht: Theologie des Tapirs, erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 9. April 2005, S.68, mit freundlicher Genehmigung von Professor Hans Ulrich Gumbrecht, Stanford, USA und nzz.ch. (Neue Züricher Zeitung) "(…) Der Tapir steht da, (…) um Opfer in Vollkommenheit zu sein. «Schmerzens-Tier» könnte man ihn deshalb in gewollter Anspielung auf die Theologie des Neuen Testaments nennen. Der Tapir steht da, um den Schmeißfliegen seine Ohrmuscheln zur Ablage ihrer Eier zu bieten, um das Abgefeimte des Fäkaliengeruchs wirksam zu unterstreichen, indem er sich nicht an ihm stört. (…) In einer Zeit wachsender Skepsis gegenüber dem darwinistischen Paradigma sollte man (…) den Tapir zumindest ansatzweise als Paradigma für das Prinzip eines «survival of the unfittest» diskutieren. Obwohl er ein Nachttier ist, scheinen die Augen des Tapirs zurückentwickelt bis zu einem Grad, der an den Grottenolm erinnert. Während sich seine Existenz deshalb darin erfüllen sollte, den scharfzahnigen Raubkatzen, so gut er kann, zu entkommen, fällt es dem massigen Tapir der Wirklichkeit ungemein schwer, sich in die Blätter- und Baumbestände des Regenwaldes zu pressen. (…) Der Rüssel des Tapirs ist zu schwach, um ihn - wie einen Elefantenrüssel - für Bauarbeiten zu qualifizieren, und zu kurz, um sich - wie der Rüssel des Ameisenbärs - bei der Nahrungsaufnahme im flachen Wasser zu bewähren. Weil der Tapir bis heute in Zentralasien und im subäquatorialen Südamerika zu Hause ist, dürfen wir schließen, dass er, so wie er heute vor uns steht, ein unwahrscheinlicher Überlebender aus der Fauna von Gondwanaland ist. Nichts ist leichter (…) als die Jagd auf den Tapir. Es genügt zu wissen, dass Tapire keine Mühen und keinen Weg scheuen, wenn sie Salzgeruch in ihrer Witterung aufnehmen. Also muss der Pygmäe nur Salzpaste auf eine Baumrinde applizieren und kann dann gelassen auf das unausbleibliche Erscheinen des Tapirs warten, um ihn bald schon mit der starken Taschenlampe in einen Zustand des Stupors zu versetzen. Gekocht wie gegrillt sei Tapir-Fleisch, liest man, eine wahre Delikatesse. (…)" Dieses Buch ist heute in Vergessenheit geraten. Und es ist vergriffen. Für ein Exemplar zahlt der Sammler Dr. Sierd van Eyssenbaart immerhin 36.000 Euro. Wer also solch ein Exemplar besitzt (bitte kein Nachdruck), sollte sich dringend bei mir melden. Ich selbst habe zwar ein Beleg-Exemplar, aber es ist leider sehr stark verschmutzt, wurde vom vielen Lesen und Blättern enorm in Mitleidenschaft gezogen.
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