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4.2.2012


Schmuddelkind

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Verzeih Babsi,

 

dass ich dir neulich ihre Antwort vorenthielt! Das muss mir wohl schon selbstredend gewesen sein. Inzwischen kam es auch bereits zu unserem ersten Telefongespräch. Beide waren wir sehr neugierig, jedoch auch aufgeregt - es ist auch freilich ein merkwürdiger Hergang, mit einem Menschen bereits so vertraut zu sein, ehe man auch nur ein Wort mit ihm gesprochen hat. Doch als ich zum ersten Mal ihre zarte Stimme vernahm - "Du Lieber! Ich hoffe, du sitzt bequem. Ich habe dir so viel zu erzählen." - da war mir, als führten wir einen Gedanken aus den Ursprüngen unserer Seelen fort, wovon wir nur eben kurz abgelenkt gewesen wären und alle Erwartung, alle Befürchtung war verflogen, verlor sich in einem sechsstündigen Gespräch. 


Davon kann ich dir nur wenige Einzelheiten wiedergeben. Zu sehr war ich wohl eingegangen in der Gegenwärtigkeit, dass ich nicht an ein Danach dachte, in welchem ich mich daran erinnern müsste. Nur dass sie viel lachte, weiß ich noch - und wenn sie lacht, ist ihre Freude meine ganze Wirklichkeit. So viel weiß ich noch und dass ihre Worte ein Fenster zu einer fantastischen Welt sind, welche ich so bald wie möglich wieder beschauen möchte.


Gerade wollte ich den Brief damit abschließen, da stieg doch noch eine Erinnerung in mir auf, die du als sinnhaft verstehen kannst. Wir knüpften an unser Gespräch über das Verhältnis von Kunst und Wahrheit an. Da musste ich wohl so etwas gesagt haben, wie: "Eine Beschreibung sagt zumindest so viel über den Betrachter aus wie über die Dinge seiner Anschauung." Dazu wusste sie ohne Zögern sogleich ein Beispiel zu nennen, woraufhin ich erst ganz verstehen konnte, wovon ich doch sprach: 


Als sie nämlich einmal im Zoo vor der großen Voliere stand, in der riesige Raubvögel, Geier und Kondore sich um das Fressen stritten - das muss einen gewaltigen Eindruck gemacht haben - sah sie ein kleines Kind neben sich, das die Hand in Richtung des Bodens ausstreckte und entzückt von sich stieß: "Oh, ein Spatz!" Darüber zeigte sich Sanny auch nach so viel Zeit so gerührt, als wäre die Szene eben erst geschehen: "Der kleine, unscheinbare Spatz war ihm so viel mehr Beachtung wert, vielleicht weil dieser frei war, weil er im Gegensatz zu den eingesperrten Attraktionen da sein wollte, wo das Kind ihn sehen konnte." 


Den meisten Menschen wäre diese kleine Szene am Rande einer enormen Schau nicht aufgefallen oder sie hätten es bald wieder vergessen. Doch Sanny hat sich den Geist bewahrt, so viel Bedeutsames hinter dem Unscheinbaren zu sehen! Wie ich auf den Lippen hatte, ihr zu danken, dass sie mir ermögliche, den Gehalt in den Formen zu erkennen, in welchen sich mein Denken bildet, zeigte sie sich gerührt, dass ich ihr helfe, Ordnung in ihrem Erkennen zu finden.

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