Lebensmelodie
Meine Finger harren bewegungslos über den Tasten. Seit zwanzig Minuten, schätzungsweise.
Es sind schöne Tasten, weiß und schwarz, ich liebe den leichten Glanz und das Gefühl auf diesem Stuhl vor diesem Klavier vor diesen Noten zu sitzen. Und meine Hände. Naja, Hände eben.
Hatte ich tatsächlich jemals diese magische Leichtigkeit zum Erklingen gebracht?
Es erscheint mir unvorstellbar.
Ich habe Angst den ersten Ton zu schlagen. Wenn es nun ein dumpfer, misstönender Klang ist, jeder Magie beraubt und in den Ohren kreischend?
Zwischen meiner Welt und der Wirklichkeit liegt dieses Stück. Ich weiß das.
Immer noch sitze ich reglos da und starre auf die Tasten, auf meine Finger, auf das Stück. Gestern hatte ich einfach gespielt, mich hingesetzt und meine Finger huschten von allein über die Tasten, diese schwarz-weiß gefärbte Melodie meines Lebens.
Gestern.
Was ist heute anders?
Ich könnte die Augen schließen und mein Herz würde meine Finger führen, durch jede Steigung und jede Synkope, von staccato über legato und in jedes flüsternde Pianissimo schweben lassen, um sogleich in einer gewaltigen Con fuoco zu erglühen.
Das ist es, was ich jedes Mal spüre, seit meine Finger vor so vielen Jahren den ersten scheuen Ton schlugen. Als fließe meine Lebenskraft durch jeden einzelnen Klang.
Aber ich kann die Augen nicht schließen. Ich muss spielen, ich darf nicht, ich kann nicht. Kann ich? Wenn ich jetzt spiele, und die ersten ruckartigen Bewegungen sogleich verraten, dass es nichts als eine große Täuschung war?
Ich habe mein Herz an dieses Stück verloren. Vielleicht liegt genau hier das Problem. Es ist zu viel von mir in den Noten, zu viel meiner Selbst in jedem Ton.
Wenn ich spiele, werde ich Musik, löse mich auf und bin nichts weiter als Schall, der Materie durchdringt. Irgendwann finde ich vielleicht nicht mehr in meinen Körper zurück. Was nicht weiter schlimm wäre. Ich bin süchtig nach dieser Auflösung, dieser vollkommenen Loslösung und Entfernung zu der Schwere dieses Körpers. Kein Gefühl berauscht mich mehr als dies.
Und nun greift die Wirklichkeit nach mir.
Ich habe keine Wahl.
Ich habe versucht zu fliehen aber Schall war schon immer schneller, und nur wenn ich selbst Musik wurde, konnte ich zwischen den Welten leben.
Vielleicht ist es Zeit, dass ich mich der Wirklichkeit stelle.
Aber noch stehe ich nicht auf.
Werde ich je wieder spielen können?
Diese Frage hämmert mir durch den Kopf, während ich langsam die Finger von den Tasten hebe.
Nun, ich muss es morgen erneut versuchen. Vielleicht bin ich dann schon ein Stück näher.
Wo auch immer das sein wird.
Die Schluss-Courante tänzelt für einen Moment durch meine Gedanken, leicht wie eine Feder im Wind.
Als ich aufstehe, spüre ich wie schwer und benommen meine Glieder sind, ich schwitze als wäre ich einen Marathon gelaufen.
Die Wirklichkeit ist eben keine leichte, schwingende Melodie -
noch nicht.
© Lichtsammlerin
~ Urheberrecht der Titelbilder: Lichtsammlerin
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