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Abgeholt


Gast (Oilenspiegel)

 

Als sie mich holen kamen,

 

zu dritt – zwei Schränke und ein Nachtschrank, beschrieb ich sie danach –

schlief ich noch.

Unruhig. Die Tage waren voller Licht

und Schweiß inmitten der Mengen.

Das heitere, offene Reden in den Zügen nach Leipzig.

Die Fremden neben uns waren plötzlich Menschen geworden,

erwachten langsam zu Bürgern.

 

Als sie kamen, schlief ich fest.

SO können nur SIE an Türen klopfen,

sprach mein Kopf in den letzten Traum hinein.

Ich öffnete. Hosen und Pullover trug ich noch,

war, wie meistens damals, voll bekleidet umgekippt.

Nun drängten sie mich zurück, folgten mir SO in das,

was meine Wohnung war.

 

Ich solle mich schnell fertig machen.

Warum, wofür?

Das würde man mir schon noch sagen.

Ich hätte nichts zu befürchten,

Klärung eines Sachverhalts. Weiter nichts.

Kalt sprachen sie. Reglose Augen.

Drohung gegen ihren Feind.

 

Heut' weiß ich,

es ging für sie um Alles.

Wenn Leute wie ich ans Ruder kämen,

würden Köpfe rollen. SO dachten sie.

Doch fühlten sie sich noch stark und sicher

an jenem 6. Oktober.

Aber ich wuchs ...

 

... hinein in meine Angst vorerst.

Das Auto fuhr nicht in die Stasi-Zentrale der Stadt.

Auch nicht zur „normalen“ Polizei.

Es wurde auf die Autobahn gelenkt.

Das erschreckte mich.

Wohin? Gen Westen? An die Grenze?

Ausweis her und Tschüss?

 

Das war meine Angst, die größte.

Gehen müssen. Was ich nie wollte.

Lieber Knast, lieber Zwangsarbeit und Gehirnwäsche.

Was sollte ich im Westen?

Dort kannte mich niemand.

Ich wäre allein.

Lasst mich hier, ihr blöden Säcke, hämmerte mein Kopf.

 

Wir bogen ab. Rein in die Bezirkshauptstadt.

Durch ein hohes Tor. Noch ein Tor.

Gitter, Stacheldraht. Beton, Eisen.

Rote Ziegelmauern. Kälte. Ein riesiges Schlüsselbund

an einem Polizisten. Eisengeklapper.

Quietschen. Zusammenkrachendes Eisen.

Stimmen. Ein Gespräch.

 

„Aussteigen! Folgen Sie!“

„Guten Tag!“ sage ich zu jedem, dem wir begegnen.

Grinsen. Erstaunte Blicke.

Ein Flur. „Bleimse stehn!“

Ein junger Soldat mit MPi vor einer Tür.

Schlüsselgeklapper. Die Tür wird geöffnet.

Draußen steht „Besucherraum“ dran.

„Wartense hier bis zu ihrer Vernehmung!“

 

Ich atme auf.

 

 

Platzierung

10.

Stimmen

10

Aufrufe

615

Kommentare

4

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4 Kommentare


sofakatze

Geschrieben

hallo oilenspiegel,

 

deine geschichte hat mich angesprochen. glaubhaft hast du mir erzählt, welche ängste das LI in dieser situation ausstehen musste. vielleicht hat es mich auch deshalb so berührt, weil ich jemanden kenne, der ähnliches erlebt und mir davon berichtet hat. jedenfalls kam ich nicht umhin, dir einen punkt für dein werk zu geben. :grin: herzlichen glückwunsch zum 10. platz.  

 

lg

sofakatze

Gast (Oilenspiegel)

Geschrieben

 

vor 36 Minuten schrieb sofakatze:

herzlichen glückwunsch zum 10. platz. 

 

Vielen Dank, sofakatze!

Ha! So werde ich nach diesen traumatischen prägenden Stunden aufgrund meiner Erinnerungen zum Lyrik-Zehnten-"Sieger-der-Geschichte", zumindest bei poeten.de ...

Mehr als ich erwartete. Mal davon ausgegangen, dass kein ehemaliger StasiScherge mitgedichtet hat und jetzt vor mir steht. ?

maerC

Geschrieben

Hallo @Oilenspiegel,

du hast eine beeindruckende Geschichte geschrieben, und das Thema "Angst" ist absolut nachzuempfinden, besonders wenn man sich an die Zeit vor über dreißig Jahren auch als "Westler" noch gut erinnern kann. Mit meinem Punkt hätte ich deinen Text gerne unter den ersten drei gesehen.

LG

maerC

Gast (Oilenspiegel)

Geschrieben

Danke, maerC!

 

Ach, ich finde den Platz 10 schon beachtlich, weil ich weiß, dass Texte ohne abgewogene Silbenzahl und vor allem ohne Reimer

hier nicht so goutiert werden. Aber dass der alte Wendezeittext überhaupt noch mit Interesse gelesen wird, freut mich ungemein.

Also nicht umsonst Angst gehabt, damals.

Dafür muss ich nun nicht gleich einen Literaturpreis bekommen ... ?

 

Liebe Grüße

vom ??spiegel

Gast
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