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Rotkäppchen und die Wunderlampe


Cornelius

I

 

Es war einmal zu einer Zeit, als das Wünschen manchmal noch geholfen hat, da lebte in einem kleinen Dorf ein Mädchen mit seiner Mutter. Jeder hatte das Mädchen gern, weil es so klug und freundlich war, und weil es immer ein Käppchen aus rotem Samt auf dem Kopf trug, nannte jeder es nur das Rotkäppchen.

 

Das Dorf lag auf halbem Wege zwischen der Stadt und dem großen Wald. Es war so klein, dass es dort keine Läden gab, in denen man etwas kaufen konnte. In die Kirche konnte man wohl gehen, denn die hatte man im Dorf gelassen. Wer aber etwas brauchte, was nicht im eigenen Garten wuchs, musste den Weg in die Stadt auf sich nehmen.

 

Eines Tages nun schickte die Mutter ihr Rotkäppchen in die Stadt, um auf dem Markt Zutaten für einen Kuchen zu holen. Den Kuchen und eine Flasche Wein sollte es dann der Großmutter bringen, die eine halbe Stunde vom Dorf entfernt mitten im Wald wohnte und gerade krank darnieder lag. Also lenkte Rotkäppchen, ein paar klingende Münzen in der Tasche, seine Schritte zum Marktplatz. Als es alles eingekauft hatte, was man braucht, um einen guten Kuchen zu backen, und den Heimweg einschlagen wollte, fiel sein Blick auf einen Verkaufsstand mit allerlei fremdartigen Sachen. Rotkäppchen fragte den Inhaber des kleinen Ladens: "Sagt mir an, guter Mann, woher kommen diese schönen und seltsamen Dinge?" Er antwortete: "Junges Fräulein, sie sind mit einem Schiff aus dem Land des Sonnenaufgangs übers Meer zu uns gekommen."

 

Rotkäppchen betrachtete einige der Gegenstände näher und sagte: "Dieses kleine Gefäß hier sieht hübsch aus." Der Verkäufer entgegnete: "Das ist eine Öllampe. Man gießt etwas Steinöl hinein, zündet die Lampe an und sie verbreitet ein wunderbar warmes, weiches Licht in der Stube. Für zehn Kreuzer kann ich sie dir überlassen, mit einem Fläschchen Steinöl dazu." Weil die Lampe Rotkäppchen gar wohl gefiel und der Preis ihm sehr billig erschien, wurden die beiden rasch handelseinig. Rotkäppchen legte die Lampe in den Einkaufskorb und spazierte frohen Mutes nach Hause.

 

Als es zu Besuch kam, war die Mutter gerade zu Besuch bei einer Tante. Rotkäppchen nahm die Lampe aus dem Korb und dachte, das wäre doch ein schönes Geschenk für die Großmutter. Gleich nahm es ein Tuch, um ein wenig Staub von der Lampe zu wischen. Da wirbelte der Staub plötzlich hoch auf, ballte sich zu einer Wolke und nahm die Gestalt eines ernst und würdevoll blickenden Mannes ohne Unterleib an, der mitten in der Küche schwebte. Rotkäppchen erschrak heftig, doch der Geselle sagte mit tiefer, dröhnender Stimme: "Fürchte dich nicht! Ich bin der Geist dieser Lampe und stehe dir zu Diensten. Was immer du verlangst, werde ich getreulich ausführen. Dreimal darfst du mich rufen, drei Wünsche darf ich dir erfüllen. Darum wähle deine Wünsche weise. Was ist dein Begehr?"

 

Rotkäppchen wusste vor Aufregung nicht, was es wünschen sollte, und antwortete nur: "Willkommen, lieber Lampengeist. Im Augenblick wüsste ich leider nichts, was du mir besorgen könntest." Der Geist erwiderte: "Ruf mich, sobald du meiner bedarfst", und löste sich in einen Schleier aus Staub auf, der in der Lampe verschwand. Rotkäppchen dachte nur: "Da habe ich ja etwas Schönes abgestaubt!" und verbarg die Lampe vorerst in seinem Kämmerlein.

 

II

 

Tags darauf legte die Mutter den frisch gebackenen Kuchen nebst einer Flasche Wein in den Korb und gab ihn Rotkäppchen mit den Worten: "Nun geh zur Großmutter und bringe ihr den Kuchen und den Wein, das wird sie stärken und bald wieder gesund machen. Gib aber wohl acht, dass du nicht vom Wege abweichst! Lass dich nicht aufhalten und von niemandem ansprechen!" Rotkäppchen versprach es hoch und heilig, bekam von der Mutter einen Kuss und machte sich auf, in der Hand den Henkel des Körbchens, die Lampe aber hatte es unter seine Schürze gesteckt.

 

Es war gerade in den Schatten des Waldes eingetreten, da stellte sich ihm der Wolf in den Weg: "Schönen guten Tag, liebes Rotkäppchen! Wohin des Weges?"

 

"Zu meiner Großmutter, die ganz alleine krank im Bett liegt. Sie wohnt in dem Häuschen unter den drei Eichen, du kennst die Stelle wohl."

 

"Freilich, Rotkäppchen. Aber warum trottest du so traurig hier einher, als müsstest du schon zur Beerdigung deiner lieben Großmutter gehen? Die guten Dinge in deinem Körbchen werden sie gewiss bald wieder genesen lassen. Schau, wie fröhlich hier alle im Wald sind. Wie lustig der Zilpzalp in den Zweigen singt! Und denk dir nur, wie sich deine Großmutter freuen wird, wenn du ihr ein Sträußchen von den Blumen bringst, die dort drüben am Bächlein wachsen!"

 

"Da hast du recht, Wolf, ich will mich ein wenig umsehen."

 

"Nun denn, Rotkäppchen, gehab dich wohl." Mit diesen Worten trollte sich der Wolf.

 

Rotkäppchen dachte nun, es dürfe getrost ein paar Schritte bis zum Bächlein gehen, das so munter und hell unter den Erlen dahinplätscherte. Wirklich fand es dort die schönsten Veilchen, eines blauer als das andere, und wenn es eines gepflückt hatte, so wollte ihm das nächste noch schöner erscheinen. Als es ein hübsches Sträußlein in der Hand hielt, sah Rotkäppchen, dass es nahe an einen Brunnen gelangt war. Dort stand eine vornehm gekleidete junge Dame und blickte aus verweinten Augen in die dunkle, feuchte Tiefe hinab. Auf dem Rande des Brunnens aber hockte ein plumper Frosch mit breitem Maul und quakte auf die Trübsal Blasende ein.

 

Rotkäppchen sprudelte fröhlich los: "Gruß Gott, Gevatterin! Was stehst du hier herum wie eine Trauerweide?" Die Angesprochene verzog das Gesicht noch mehr und greinte: "Königliche Hoheit - wenn ich bitten darf! Ich bin eine Prinzessin, aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Meine goldene Kugel ist mir beim Spielen in den Brunnen gefallen. Da ist dieser Frosch aufgetaucht und hat angeboten, sie wieder heraufzuholen, aber als Gegenleistung verlangt er einen Kuss. Er will ein verzauberter Königssohn sein. Einen Kuss auf sein feuchtes, breites Maul! Brrr!"

 

"Ich kenne jemanden, der uns vielleicht helfen kann", sagte Rotkäppchen, holte die Lampe hervor und streichelte sie sanft. Zur Bestürzung der Prinzessin und des Frosches erschien sogleich der Geist und dröhnte: "Gebieterin, womit kann ich dienen?" 

 

"Der Königstochter ist ihre goldene Kugel beim Spielen in den Brunnen gefallen. Kannst du sie heraufholen?"

 

"Nichts leichter als das", brummte der Geist, schnippte lautlos mit den Fingern, und die goldene Kugel sprang aus dem Brunnen heraus in die Hand der Prinzessin. Der Frosch aber plärrte: "Wehe, ihr wähnt nicht, welch wonnige Mär nun niemals wahr wird!" und stürzte sich in den Brunnen. Ein dumpfes Platschen hallte aus der Tiefe empor. Die Prinzessin bedankte sich huldvoll und hüpfte fröhlich mit ihrem Spielwerk davon.

 

Auch der Geist wollte wieder in der Lampe verschwinden, aber Rotkäppchen rief: "Warte! Ich habe schon zu viel Zeit vertändelt. Kannst du mich ganz geschwind zum Haus meiner Großmutter bringen, schneller als ich rennen könnte?"

 

"Gewiss", nickte der Lampengeist, zog aus dem Nichts einen großen, zusammengerollten Teppich hervor und breitete ihn auf dem Waldboden aus. "Auch dein zweiter Wunsch sei dir erfüllt. Setz dich ruhig hier nieder. Bleib nur immer schön auf dem Teppich, dann trägt er dich sicher an dein Ziel." Rotkäppchen tat wie ihm geheißen, und sogleich schwang sich der Teppich in die Lüfte.

 

Rotkäppchen war erstaunt über sich selbst, weil es gar keine Angst hatte, so hoch über den Wipfeln der Bäume dahinzufliegen. Es war weit vom Weg abgekommen, aber der Teppich flog so schnell, dass sie die verlorene Zeit mehr als aufholen würden. Rotkäppchen konnte in der Landschaft, die in Windeseile unten vorbeizog, kaum Einzelheiten ausmachen, ja vor lauter Bäumen den Wald kaum sehen.

 

III

 

Da kam auch schon Großmutters Haus unter den drei Eichen in Sicht. Und da, nur wenige Wegbiegungen vom Haus entfernt, erblickte sie den Wolf, der zielstrebig in Richtung der drei Eichen lief! Zum Glück überholte der fliegende Teppich den Wolf ohne Mühe. Sie hatte das Haus fast erreicht, der Teppich musste sie nur noch absetzen. 

 

Wie hatte sie nur so unbesonnen sein können und sich vom Wege ableiten lassen! Und was sollten sie und ihre Großmutter jetzt tun? Wenigstens konnte der Wolf sie nicht mehr überraschen, also mussten sie ihn überraschen. Wo war der Jäger, wenn man ihn brauchte?

 

Die Gedanken jagten durch ihren Kopf, da zerriss ein Knall die Luft. Der Jäger war just dabei, sein Revier zu durchstreifen, hatte den fliegenden Teppich für einen großen Adler angesehen und eine Kugel entsendet in der Hoffnung, eine prächtige Trophäe vom Himmel zu holen. Zum Glück stürzte der Teppich nicht steil ab, sondern trudelte langsam zu Boden, so dass Rotkäppchen sanft landete. Dem verblüfften Schützen rief sie zu: "Geschwind, Jägersmann! Der Wolf ist auf dem Weg hierher! Gewiss führt er nichts Gutes im Schilde!"

 

Wortlos rannten beide das letzte Stück Weges zum Haus der Großmutter. Rotkäppchen flog über die Schwelle und rief: "Großmutter, wir haben uns einen Wolf gelaufen! Ach nein, ich meine, hinter uns kommt der Wolf gelaufen!" Und der Jäger hinterdrein: "Großmütterchen, lasst mich unter eure Decke schlüpfen. Rotkäppchen, leg dich zu uns. Wohlan, zum Fürchten ist jetzt keine Zeit!" Gesagt, getan - rasch zog der Jäger die Vorhänge an allen Seiten des Bettes zu. Sie bewegten sich noch leicht, als es an der Tür klopfte. Da der Großmutter vor lauter Furcht und Überraschung kein Wort über die Lippen wollte, rief der Jäger mit Fistelstimme: "Ich kann nicht aufstehen. Drück nur die Klinke herunter, liebes Rotkäppchen!"

 

Der Wolf trat ein, blickte sich um und schlich ans Bett. Mit seiner Pranke wischte er die Vorhänge beiseite und sah Rotkäppchen und die Großmutter beide in den Federn liegen. Genüsslich leckte er sich das Maul und raunte: "Ei Rotkäppchen, hast du auch fein gelauscht, was der Zilpzalp gesungen hat?" "Da grollte es unter der Bettdecke: "Du sollst den Zilpzalp gleich singen hören, alter Sünder!", und der Jäger sprang hervor und brannte dem Wolf eine Kugel in die Stirn.

 

Da nun der alte Graubart verdientermaßen in die ewigen Jagdgründe eingegangen war, fanden die Drei Zeit, sich zu besinnen. Die Großmutter und der Jägersmann fanden, sie hätten recht behaglich gemeinsam im Bett gelegen, und beschlossen, dass sie bis ans Ende ihrer Tage unter einer Decke stecken wollten. Nun war gerade ein Krieg zu Ende gegangen und viele Männer waren nicht aus ihm zurückgekehrt. Darum hatte der König ein Gesetz erlassen, dass jeder heiratswillige Mann mehr als eine Frau zum Traualtar führen dürfe. Also nahm der Jäger außer der Großmutter auch noch Rotkäppchens Mutter zur Frau, damit sie nicht alleine bliebe.

 

Nicht lange nach der Hochzeit saßen die Vier im Garten der Großmutter beisammen, um bei Kaffee und Kuchen deren Geburtstag zu feiern. Da fiel Rotkäppchen die Lampe wieder ein, und es holte selbige unter der Schürze hervor. "Großmutter, beinahe hätte ich es vergessen! Diese Lampe möchte ich dir schenken."

 

"Die ist aber hübsch. Eine Lampe zum Nachtisch, die stelle ich gleich auf meinen Nachttisch. Hm...ist das nun eine Nachttischlampe oder eine Nachtischlampe? Danke, liebes Rotkäppchen!"

 

"Es wohnt ein Geist darin, der einem jeden Wunsch erfüllt. Soll ich ihn rufen?"

 

Alle sahen erstaunt zu, wie Rotkäppchen mit seinen Händen sanft über die schön gewölbte Lampe strich, und kippten beinahe von den Stühlen, als der Geist erschien und orgelte: "Zu Diensten, Gebieterin! Einen Wunsch darf ich dir noch erfüllen. Sprich, was ist dein Begehr?" Sie steckten kurz die Köpfe zusammen, dann sagte Rotkäppchen: "Wir möchten gerne bis ans Ende unserer Tage in einem schönen Haus leben, mit vielen Zimmern auf beiden Seiten des Ganges. Kannst du uns diesen Wunsch erfüllen?"

 

"Gewiss, Gebieterin!" Ein lautloses Fingerschnippen, und schon fanden Rotkäppchen, Mutter, Großmutter und Jägersmann sich vor einem prächtigen Palast im Morgenlande wieder. Vor seinen Toren führte eine Brücke über einen breiten Fluss, in dem sich die vielen zum Palast gehörigen Gebäude spiegelten, die an beiden Ufern standen. Auf der Brücke stand eine große Dienerschar, sie in ihrem neuen Zuhause zu begrüßen und ihnen aufzuwarten. Dort lebten sie fortan in Freude und Herrlichkeit, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. 

 

Die Lampe erfüllte den Palast mit ihrem wunderbar warmen, weichen Lichtschein, aber so oft man sie auch abstaubte und polierte - es kam kein Geist mehr aus ihr hervor. Viele Jahre später reiste sie erneut übers Meer und wurde von einem Trödler aus der Eifel für achtzig Taler erworben. Man erzählt sich, dass sie noch heute in seinem Laden stehen soll.

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9 Kommentare


lieber cornelius,

 

herzlichen glückwunsch zum zweiten platz. so phantasievoll, wie du hier die märchen vermixt hast, war das ja auch nicht anders zu erwarten. obwohl ich die todesstrafe für ein noch nicht mal begangenes verbrechen schon etwas hart fand. :whistling:

besonders lustig fand ich die einwebung verschiedener redewendungen. toll gemacht!

 

liebe grüße

sofakatze

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Hallo Cornelius,

gratuliere zum Erfolg.

Dein Märchenmix, war mein Favorit - er erinnerte mich an schöne Stunden aus Kindertagen und rang mir ein Schmunzeln ab, wegen der netten Verstrickungen.

 

LG Lydia

  • Danke 1
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Hallo lieber Cornelius.                             Auch ich bin Gedanklich sehr gerne durch deine spannende Märchenwelt gegangen.                              Herzlichen Glückwunsch zum zweiten Platz!                            Herzliche Grüße.                           Josina

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Hallo Cornelius,

 

Gratulation! Sehr spannend, mal Prosa von dir zu lesen. Schön, dass es einer meiner Favoriten aufs Treppchen geschafft hat!

 

LG

Faber

  • Danke 1
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Hallo ihr Lieben,

 

möchte mich ganz herzlich für eure Kommentare (und eure Stimmen) bedanken. Freue mich wie ein Schneekönig über diesen märchenhaften zweiten Platz, zumal es meine erste Teilnahme an einem solchen Wettbewerb war.

 

Verzauberte Grüße

Cornelius

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