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Es sind einige Wochen vergangen, seitdem die Schaufensterpuppe, gemeinsam mit der Rose, die Stadt verlassen hat. Wie hirnlose Zombies, komatös, willenlos und schwach, torkeln sie durch endlose Steppen und Wälder, doch gebrochen sind sie noch nicht. Es dauert zwar eine Weile, bis man die Verlockungen der glänzenden Stadt endgültig abgeschüttelt hat, doch ganz langsam lichtet sich der Schleier und zum ersten Mal seit Langem stehen sie wieder, bei vollem Bewusstsein, vor einem der vielen von Menschenhand geschaffenen Gebäude. Ein Plattenbau, von dem die Farbe allmählich abblättert, der aber dennoch in gutem Zustand ist, steht hier, in Mitten einer grünen Wiese. Die Sonne geht in diesem Moment unter, sodass die Fassade noch für einen Augenblick im schönsten Orange erstrahlt. Allgemein ein idyllisches Bild, jedoch kommt man nicht umhin festzustellen, dass sich dies bald ändern wird. Bis auf das leise Zwitschern eines Vogels, kann man keinen Laut vernehmen. Nur aus wenigen Fenstern strahlt noch Licht hinab auf unsere Freunde. Die Puppe, welche es lange nicht mehr tat, beginnt nun, wohl aus Trotz, zu tanzen. Auch das Röslein ist des Schlafens müde und stimmt ein fröhlich, munteres Liedchen an. Beide lassen das Gebäude, welches gerade fehl am Platze scheint, es aber ganz bestimmt nicht ist, nunmehr hinter sich und tanzen weiter Richtung Horizont.

Auch wenn die schlichte Aufteilung in schwarz und weiß, weder richtig, noch kreativ ist, so nutzen wir sie trotzdem für den Irrsinn dieses Stücks. Mit dem Eintritt der Dunkelheit also, suchen die Rose und die Puppe einen Platz zum Ausruhen. An einer Schenke am Wegesrand machen sie schließlich halt.

Das vollkommen heruntergewirtschaftete, enge Fachwerkhaus und diese beklemmende Stille des Waldes, trüben die frisch wieder aufgeflammte gute Laune ein wenig ein. In der Sekunde, als die Sonne nun vollständig am Horizont verschwindet, öffnet sich mit einem ohrenbetäubenden Knarren die schmale Eingangstür. Ein junges Mädchen kommt, auf allen Vieren, zu ihnen gekrochen und bittet sie hinein. Die Puppe folgt ihr wortlos und betritt die schlecht beleuchtete Schenke. Dort befinden sich, zur Überraschung unserer Freunde, noch drei weitere Gestalten, welche die Neuankömmlinge gründlich, von oben bis unten mustern. Eine korpulentere, am ganzen Körper zitternde Großmutter sitzt an einem Tisch ganz am Ende des Raumes. Dieser ist bedeckt von diversen Kartenspielen, Würfeln und großen Bierkrügen. Direkt vor ihr, an der Dartscheibe, steht eine etwas jüngere blonde Frau mit kurzem Rock, die gerade dabei ist, die geworfenen Pfeile einzusammeln. Dabei wird sie von einem kleinen, bleichen Mann im Frack beobachtet, welcher genüsslich sein Bier schlürft. Durch eine Hintertür tritt plötzlich eine vierte Person in den Raum. Die zwei randvollen Gläser in der Hand des Mannes, lassen die Puppe vermuten, dass es sich wohl um den Wirt des Hauses handelt. Dieser tritt auch sofort an sie heran und befielt dem jungen Mädchen, dass noch neben ihnen kniet, einen Tisch fertig zu machen und etwas zum Trinken zu holen. Ohne Widerwort, aber etwas verängstigt krabbelt sie Richtung Bar.

Das Röslein, dem die Szenerie irgendwie bekannt vorkommt, überlegt kurz und fragt, ob es denn auch etwas zu Essen gäbe, woraufhin sämtliche Gäste der Schenke leise zu kichern beginnen. „An der Theke findet lediglich der Ausverkauf unserer Werte statt“, antwortet der Wirt sichtlich amüsiert. Fleiß, Toleranz und Rücksicht wären momentan sehr gefragt, fügt er hinzu.

Angewidert lehnt die Puppe das Angebot ab und erklärt, dass ihre Werte weder zum Verkauf stehen, noch das sie vorhat anderen Menschen die Ihren zu nehmen.

Unterbrochen wird diese kleine, unbedeutende Unterhaltung, als das kriechende Mädchen, mit zwei Weinflaschen auf dem Rücken, aus dem Nebenraum zurückkehrt und ihnen mit einer zögerlichen Geste den Weg zu jenem Tisch weist, an dem sie Platz nehmen können. Die Schaufensterpuppe setzt sich und legt das Röslein neben sich.

Der Mann im Frack, der unser Direktor ist, erstarrt, denn als seine Augen das kräftige Rot der Blüte und das grazile, zerbrechliche, aber auch verletzende Wesen der Rose erblicken, verliert er sich vollkommen in ihrer Schönheit und beleidigt so jeden, der schon einmal wahrhaft geliebt hat. Als würde beim Kuss des Fluches, dem alten Herren die Luft aus den Lungen gesaugt werden, findet er sich stumm, nach Atem ringend und zusätzlich ohne zu wissen, wie er hier hergekommen ist, kniend, vor dem Tisch wieder, auf dem seine Muse liegt.

Nicht im Entferntesten kann man sich vorstellen, welch übles Schauspiel dieses Gewächs vollzieht, um wie ein Schwarm Heuschrecken über den in voller Blüte stehenden Mann herzufallen, ihn für unbegrenzte Zeit, sowohl im Traum, als auch im klarsten Zustande zu plagen und so dafür Sorge zu tragen, dass er nur noch in der miteinander verschwommenen, verwaschenen Verbindung aus Traum und Realität halbwegs sorglos leben kann. Der edle Tropfen ist damit zugleich das Irrlicht und der vermeintlich einzige Weg, auf den es ihn führt.

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