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Geschrieben am

12.1.2012

Liebe Babsi,

 

heute Nacht hatte ich einen Traum: Ich spürte, dass ich sterben würde. Und als meine Zeit gekommen war, stand ich auf und wurde, indem ich in das Wasser ging, zu dem Wasser selbst. Und ich umfasste die ganze Welt und spürte ihren tiefsten Grund. Und ich trug die Seerosen in den Tümpeln und die Schiffe auf den Meeren zugleich. Die völlige Stille des Ozeans barg ich in mir, während ich die Kraft der Gezeiten wiedergab, mich an den schroffen Felsen der Küsten zu erschöpfen. Und ich tränkte die Pflanzen, Tiere und Menschen und verlieh ihrer dürstenden Trauer Ausdruck. Und ich rauschte durch die Gebirge, drängte mich durch das alte Gestein, ließ mich durch die Wälder treiben und ruhte in den Seen, worin ich die Sterne spiegelte. Und ich wohnte mir selbst inne, zerfiel in mir, zerstreute mich im Nebel der Welt und fand mich, herabprasselnd in mir selbst wieder. Und dies war mein Atem, bis ich erwachte.

 

Was dies mir wohl sagen möchte? Du kennst mich - wenn ich verliebt bin, gibt es keinen schlimmeren Romantiker als mich und dies kommt mir nicht eben zugute. Dann spüre ich den Weltschmerz in seiner ganzen Intensität und kann zuweilen ein unausstehlicher Zyniker werden, bis mich ebendies wieder zur Vernunft bringt. Und bin ich mit mir selbst im Reinen, gehe ich für eine Weile völlig in der Ruhe auf. Doch bald ist mir nichts lieber, als mich in philosophischen Fragen zu verlieren, die nichts mehr befördern als weitere Fragen. Jeder Atemzug meiner Seele ist nichts weiter als die Reaktion vorangegangener Atemzüge. Wie bin ich so unbeständig?

 

Als wir jedoch zu Silvester - oh, und für diese schöne Nacht möchte ich dir und den anderen, die hiermit herzlichst gegrüßt sein sollen, wehmütig danken - als wir also zu Silvester einfach geradeaus fuhren - ohne Ziel, ohne Zeitgedenken - da fühlte ich mich auf dem richtigen Wege und habe all diese Zweige meiner Selbst zu einer kräftigen Wurzel zusammengeführt erlebt, die von eurer Freundschaft gewässert wurde. Dass just, als wir uns dem neuen Jahr näherten, dieser schönste Berg der gesamten Vogesen sich vor uns auftat, von wo aus wir die herrlichste Sicht auf das Feuerwerk hatten, womit die Menschen die Enttäuschungen des vergangenen Jahres zum Himmel jagten! Ich bin jedenfalls fest entschlossen, meine Enttäuschungen hinter mir zu lassen, um dieses Jahr in der Welt meine Wurzeln zu schlagen. Ich arbeite inzwischen auch schon wieder fleißig an meiner Magisterarbeit und mir geht es jedenfalls nicht schlimmer, als man es erwarten könnte.

 

Ich hoffe, du hast klarere Träume!

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Geschrieben

14.1.2012

 

Danke Babsi,

 

da offenbare ich dir meine Träume und alles, was du liest, ist "Magisterarbeit". Nun ja, ich muss mich erst wieder in das Thema einfinden. Die Mathematik hinter den Gesamtzusammenhängen habe ich zumindest ausformuliert. Allerdings wollen sich mir die Details noch nicht öffnen. Ich weiß mir keinen Rat, wie ich Rawls' Differenzprinzip einer Messung zugänglich machen soll. Und dann kommt mir wieder der Gedanke, wie unsinnig es ist, Gerechtigkeit zu messen. Gewiss wirst du mich mit viel Tücke zitieren, dass es, um eine Veränderung zu bewirken, unumgänglich sei, Sachverhalte klar und präzise darzulegen. Jedoch möchte ich dich auch an deine Zitate erinnern: "Den Weg zu denken, bedeutet nicht, den Weg zu gehen." Wie recht du damit hast!

 

Wird denn nicht allen Dingen ihre Bedeutung genommen, wenn wir ihnen Zahlen zuordnen? Wo ist die Schönheit Beethovens, wenn wir Frequenzen messen, Fourier-Transformationen betreiben und alles, was einmal sinnhaft war, quantifizieren? Wo sind das Herzblut, die Neugier und der Fleiß eines Schülers in einer Schulnote zu finden? Worin versickert die Inspirationsquelle zeitloser Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe, wenn alles mit Zahlen gesagt sein soll? Überhaupt möchte ich mir keinen Elfenbeinturm in meinem Kopf einrichten. Ich will die Welt in mir wiederfinden.

 

Egal wie kalt es ist - meine Spaziergänge haben daher Bestand. Die Kälte am ganzen Körper zu spüren, den Schmerz in den Fingern und Zehen zu empfinden - das ist eine dieser ursprünglichen Erfahrungen, nach denen man sich heimlich sehnt, nur um zu wissen, dass die Welt sich nicht um den Menschen dreht und dieser vielmehr dankbar sein kann, seinen Körper als einen Teil des Weltenganzen zu begreifen. Und wenn ich mich so ganz der Natur hingebe, wenn auch nur für wenige Stunden, erkenne ich gerade in meiner Machtlosigkeit, wie sie sich ganz mir offenbart - etwa in dem verträumten Funkeln des zugefrorenen Weihers im nahen Wäldchen. Babsi, du musst dies einmal sehen!

 

Allmählich wird mir mein Maintal also immer werter, auch da ich nicht mehr durch so viel Forderndes abgelenkt werde - zumindest so viel Gutes kann ich bereits am Alleinsein finden. Auch der Austausch mit all den Dichtern und Schriftstellern im Forum tut mir gut. Nicht nur, weil es bedeutsam ist, sondern auch, weil unter Menschen, wie sie sich zufällig irgendwo antreffen lassen, nie so viel mir Bekanntes, Anregendes und Ersehntes zu finden ist. Durch meine Gedichte finde ich Klarheit, wenn - oder weil - sie auch oft viel Verwirrung tragen. Und in den Gedichten anderer finde ich Trost.

 

Mir tut es wirklich leid, wie es eben einem Freund nur leidtun kann, zu lesen, wie du zwischen all den Zeilen deiner Vita so wenig Leben noch erkennen kannst. Nur, was soll ich dir anderes sagen? Dass dich, die du immerzu nur tätig bist und die die Welt nur bei Tage besieht, so viel Undeutlichkeit ängstigt, kann mich nicht überraschen und ich sage es nicht, um dich zu kränken, sondern um dir einen Weg aufzuzeigen - es muss ja nicht mein Weg sein. Wenn man einmal eine solche Verpflichtung eingegangen ist, wozu sich die meisten wohl genötigt sehen, sind alle Entscheidungen vorgezeichnet. Ich habe es dir schon oft gesagt und ich werde nicht müde, es zu sagen: Wir brauchen nicht mehr Pläne - wir brauchen mehr Zeit!

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Geschrieben

16.1.2012

Gut Babsi,

 

wir werden nicht mehr darüber reden. Doch dann lassen wir auch meine Magisterarbeit unter den Tisch fallen.

Oh ja, die Poesie ist mir ein Leuchtturm der Seele. Sie lässt mich wissen, auch wenn ich mich einsam wähne, dass es etwas Größeres, Bedeutsameres gibt als mein vergängliches Leid, obgleich dieses im Moment des Schreibens ganz im Mittelpunkt meiner Anschauung liegt. Jedoch in der Ferne dieses Licht zu erahnen, das mir den Weg weist, das mich erkennen lässt, wo ich bin, weitet meine Vorstellung von dem, was greifbar ist, fast als könnte ich die ganze Welt umgreifen, weil ich so viel mehr erschaffen kann, als die irdische Beschränktheit des Lebens preisgibt. Ja, so viel bedeutet mir die Poesie! Ob ich dafür jüngere Beispiele habe, fragst du? Erinnerst du dich noch an folgendes Gedicht aus glücklicheren Tagen?

 

Gartenfest

Der Garten war voll von geladenen Gästen.

Ich fühlte mich einsam, verloren und fremd.

Du lugtest so vorsichtig zwischen den Ästen

bestimmt auf den Rotweinfleck auf meinem Hemd.

 

Ich saß auf dem Bänkchen und zählte die Streben.

Ich haderte. Sicherlich tat ich dir leid.

Und plötzlich und unverhofft saßt du daneben

in deinem gehäkelten weiß-beigen Kleid.

 

„Du bist ja ein Tollpatsch; da muss ich dich hegen!“

erwogst du und deutetest auf meine Brust.

Zum Glück, ach ergoss sich ein prasselnder Regen.

Wir stellten uns unter die Tanne, bewusst.

 

Jüngst habe ich dieses Gedicht so ziemlich verunstaltet und da bemerkte ich, dass ich einen Abschluss suche, dass ich nicht mehr am Alten und Trügerischen hängen möchte:

 

Gartenfest II

Kaum bist du gegangen, ging ich in den Garten,

wo schüchterne Blicke sich trafen zurück,

wo willige Lippen, kaum fähig zu warten,

sich labten einstmalig am flüchtigen Glück.

 

Hier stehe ich nun, meine Hoffnung verwaschen.

Hier stehe ich nun und zerschlage die Bank.

Hier stehe ich, trinke nun Rotwein aus Flaschen

und proste der Tanne zum zynischen Dank.

 

Hier sehe ich mich, mit mir selbst traurig tanzen,

ich tanze mit Rotweinfleck auf meinem Hemd.

Nach allem, was war, bliebst im Großen und Ganzen

du wie auf dem Gartenfest immer mir fremd.

 

So viel Verwirrung, Enttäuschung und Wut, wie in dem Gedicht zu finden ist, so viel davon ist mir nun abgenommen. Gewiss, ich denke immer noch an sie und ja, ich widme ihr auch noch immer meine Gedichte, aber ich suche meinen Schmerz auf, stelle mich meinen Empfindungen, um irgendwann einmal nicht wieder zurückblicken zu müssen. Das Leid ist ein Dämon, der einem im Nacken sitzt, solange man die Augen vor ihm verschließt. Man muss ihm in die Augen blicken und ihn niederringen. Und dazu verhilft mir die Poesie.

 

Du fragtest auch nach meinem Umgang. In der Welt der Dichter finde ich die Gespräche, die mich vervollständigen, neben dem Briefaustausch mit dir natürlich. Da könnte ich dir eine ganze Reihe von einzigartigen Persönlichkeiten aufzählen, die alle mehr Zeit wert sind, als der Tag Stunden hat. Am meisten erfreue ich mich an den Unterhaltungen mit einer gewissen Sanny aus Berlin, die die zartesten Gedichte schreibt - Worte, die mir in ihrer Schlichtheit und Wärme durch all mein Erinnern streifen, ehe ich sie verstehe, als seien sie ihrem unbefangenen und doch so klaren Weltempfinden, an dem ich seither in einigen Briefen Anteil nehmen durfte, entflogen in eine Ganzheit, wovon man sich als Leser als einen Teil empfindet. Das ist Poesie, wie sie zuvor nicht vorstellbar war! Nicht weil sie nach Größe trachtet, sondern weil man sich ihrer Bescheidenheit und Natürlichkeit nicht entziehen kann.

 

Ich werde dir demnächst davon weiter berichten. Sanny hat mir gerade geschrieben. Und ich möchte noch rasch antworten, bevor ich zu Bett gehe.

 

Gute Nacht!

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Geschrieben

17.1.2012

 

Liebe Babsi,

 

ich wollte dir ja noch von meinem Wortwechsel mit Sanny berichten. Sie besitzt die angenehme Gabe, den ganzen Raum auf einen Gegenstand zu konzentrieren, bis man fast alles daran erkennen kann, um diese ganze Spannung schließlich in ein heiteres Nichts zu verwandeln. Das muss dir jetzt ganz und gar unverständlich erscheinen, verzeih! Lass mich es dir an unserem Gespräch von gestern Nacht erklären. Erst danach halte mich für verrückt!

 

Sie nahm mein neues Gedicht in den Blick und wollte auf charmante, aber direkte Weise wissen, ob nur das lyrische Ich so leide oder ob es dem Autor ähnlich ergehe:

 

 

Gedankenlos

Die Gedanken sind stumm,

durch die Nacht singt die Geige

ein wunderbar trauriges Lied.

 

Bin zu leben zu dumm

und zu sterben zu feige,

erleide, was um mich geschieht.

 

Zunächst schrieb ich ihr in etwa das, was ich dir nicht zu erklären brauche, weil du das alles schon kennst und sie schenkte mir viel Achtsamkeit. Als sie aber fragte, warum die Gedanken stumm seien, wenngleich ich so viel darüber sinniere, verhalf sie mir zu einem noch tieferen Verständnis meines Gedichts, ach, meiner Selbst. Als hätte sie sich in jenen Tiefen befunden, wohin ich nie vorzudringen wagte, aus welchen dieses Gedicht emporstieg! Fast schon erschrocken war ich über die Klarheit meiner Antwort: "Ich wollte damit wohl zum Ausdruck bringen, dass ich mich nach etwas sehne, das es wert wäre, darüber den Verstand zu verlieren." Wieviel Drang sich hinter meiner Resignation verbirgt, hätte ich ohne Sanny nie verstanden.

 

Plötzlich wurde die Tiefe ihres Gedankens durch die Tiefe ihres Mitempfindens abgelöst: "Eine solche Erfahrung wünsche ich dir" und verlor sich schließlich, als wäre nichts Bedeutsames vor sich gegangen, in einem Scherze: "Wenn es sich einrichten lässt, ohne dass du den Verstand verlierst - den brauchen wir hier alle noch." Also stimmte ich in den Scherz ein: "Oh, wie großzügig von dir!", woraufhin sie mit Verweis auf meine Gedichte versicherte, sie habe es aus purem Eigennutz gesagt.

 

Da habe ich so viele gelehrte Menschen - Doktoren, Professoren, Künstler - kennenlernen dürfen, darunter auch Einige mit feinem Geist versehen. Aber keiner von ihnen vermöchte mit einer derart einfachen Frage so viel Tiefblick zu befördern. So habe ich erkannt, dass es der Welt überhaupt nicht an guten Antworten mangelt. Nein! Der Welt mangelt es an guten Fragen.

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Geschrieben

21.1.2012

 

Liebe Babsi,

 

Linda hat mir geschrieben. Und wie sich ihr Ausschweigen anlasslos in unangebrachte Redseligkeit verwandelte, hat etwas Merkwürdiges. Sie schrieb, dass sie mich vermisse, dass sie untröstlich sei über ihre Fehler und dass sie hoffe, ich könne ihr verzeihen. Diese Anmaßung, sich so unvermittelt und wortlos aus meinem Leben zu schleichen und jetzt die Auswirkungen ihrer eigenen Grausamkeit nicht ertragen zu können, hat keine Antwort verdient. Und so wenig ich ihr Verhalten verstehen kann, so sehr verschafft es mir Klarheit: Nun kann ich ganz gewiss sagen, dass ich von ihr endgültig gelöst bin.

 

Sanny indes verband damit die Bitte, ich möge mein Gemüt davon nicht aus der Ruhe bringen lassen und ich bin ihr gefolgt. Tatsächlich würdigte ich dieser Unart während meines Schriftwechsels mit Sanny keines Gedankens. Da fällt mir ein, Sanny hat ein Sonett geschrieben und da ich nie so viel Freiheit, Leichtigkeit und Natürlichkeit durch solch formtreue Ordnung ausgedrückt gesehen hatte, konnte ich mir nicht anders helfen, als ihr Virtuosität anzuerkennen. "Ach was", schrieb sie "höchstens aus Versehen" und da ich ihr das fast glauben muss, sehe ich bei ihr, wie oft schon, Leichtsinn und Wahrhaftigkeit vereint. Nichts tue ich derzeit lieber, als, ihr zum Dank, zu lachen.

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25.1.2012
 
Liebe Babsi,

 

du weißt, dass ich in meinem Verhältnis zur Natur immer die Beschaulichkeit der Freiheit bevorzugt habe, weswegen mich es auch immer in den dichten Wald zog. Die Weite einer Landschaft, in der man hinter dem Horizont eine Unendlichkeit erahnen kann, ängstigte mich bloß, da ich mir darin vollkommen verloren, fast schon entschwunden erschien. Doch heute, aus Gründen, die wohl außerhalb meines Denkens liegen, führte mein Pfad an dem mir sonst so zugeneigten Wald vorbei, zunächst entlang einer rustikalen Pferdekoppel, bis ich schließlich am Enkheimer Ried ankam, ein Bachlauf, der seine Spuren überall umher zwischen Röhricht und Strauchwerk hinterließ und mich in seiner Ursprünglichkeit an eine Zeit erinnerte, die ich nie erleben durfte. Von dort erblickte ich einen sanft ansteigenden, zunächst recht klein wirkenden Hang, der sich jedoch, einmal auf dem Weg begriffen, sehr zu strecken vermochte. 


Doch von dort oben konnte ich meine ganze Welt beschauen: Maintal, wie es im tiefen Winterschlummer lag, daneben meinen Wald als einen weißen Traum und am rechten Bildrand verschwindend ein vorsichtiges Dämmern der Lichter Frankfurts. Auch konnte ich in der Ferne den Main erkennen, wie er von Hanau herbei taumelnd, sich gerade bei Maintal besinnt, einer Richtung zu folgen. Babsi! Du ahnst nicht, welchen Eindruck dies auf mich machte und wie ich mich ganz dem Strom der Empfindungen und Einsichten hingab! Wenn mir auch meine Stube eng und bedeutungslos erscheinen mag, muss mich dies gar nicht weiter kümmern, da ich doch die ganze Welt für mich habe. Die Welt ist überhaupt keine Bedrohung, wenn man sie ganz klein werden lässt und alles ist leicht.


Auch bin ich immerzu zum Scherzen aufgelegt, gerade wenn ich Sanny schreibe. Versteh mich nicht falsch! Wir haben die vertrautesten Gespräche, wie zwei Freunde, die einander wohl schon länger kennen müssen und Einiges gemeinsam durchgestanden haben und wie zwei Freunde können wir Späße treiben, die man nur Freunden anvertraut. So führte unsere letzte Unterhaltung durch alle Glücksbezeugungen und Grausamkeiten der Liebe, vielleicht nur, dass ich sie mit der mir eigenen scherzhaften Übertreibung zum Lachen bringen konnte. Von drei Sorten Frauen berichtete ich, die es im Verhältnis zu mir gebe: Jenen, die mich bemuttern, weswegen ich zu klein für die Liebe werde, solchen, die mich bewundern, die mich zu groß für die Liebe werden lassen und den dritten, die mich ignorieren und denen daher nicht zu helfen sei. Sie hat wirklich einen Sinn für Derartiges, das ich mit dem Großteil der Welt nicht teilen kann und auf diese Weise befreit sie mich aus dem Gefängnis, das ich mir manchmal selbst bin.
 

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Geschrieben

28.1.2012
 
Ja Babsi,

 

ja, ich weiß, wie sie aussieht (sie schickte mir ein Foto) und ja, sie ist schön - um es ganz ehrlich zu sagen, so schön wie ihre Gedichte: eine unausgeschmückte, selbstgenügsame Schönheit, ein Blick aus klaren, blauen Augen, wie aus einer unergründlichen Seelentiefe, zarte Lippen, die nichts verlangen, als zu lächeln und dunkles, geheimnisvolles Haar. Nie habe ich das Gemüt eines Menschen so sehr in seinem Äußeren entsprochen gesehen.


Aber jetzt red mir bloß nichts ein, was du am Ende doch nur bereuen wirst! Nein, ich bin ganz und gar glücklich mit dem Werden, dass ich ja nichts sein möchte, schon gar nicht ein verzweifelt Liebender.
 

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29.1.2012
 
Nein Babsi,

 

so sehr ich deine aufgeregte Neugier verstehe - so töricht will ich nicht sein, mich von einem Unglück in das nächste zu stürzen. Jetzt wirst du alles bereden wollen und um uns die Zeit zu ersparen, antworte ich dir gleich:


Berlin liegt nicht eben auf meinen Routen, selbst wenn ich sehr ausgedehnte Spaziergänge suche. Dies allein verbietet schon jede weitere Sehnsucht und doch weiß ich, dass du es nicht gelten lassen wirst, mich so sachlich dieser Angelegenheit zu entziehen. Also sei versichert, dass ich in ihrer Freundschaft alles finde, was ich in der Hinneigung zu Menschen suche! Ihre Zuwendung regt mich dazu an, mich mitzuteilen, ihre Worte lassen mich zur Ruhe kommen, in ihren Gedanken erkenne ich mich selbst, auch und gerade dann, wenn sie mir ganz neu sind und ihr heiteres Gemüt weckt in mir längst verdrängte Lebensfreude.


Wenn ich dies alles gefunden habe, wieso sollte ich nach mehr verlangen? Nichts weiter will ich sein als demütig und dankbar ob dieser Freundschaft. Allerdings gefällt mir dein Einfall außerordentlich, ich solle einmal mit ihr telefonieren. Hab dafür tausend Dank! Denn auf das Naheliegendste wäre ich nicht gekommen. Ich werde es ihr bestimmt vorschlagen.
 

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Geschrieben

1.2.2012
 
Liebe Babsi,

 

zurzeit lese ich einen Roman über einen Schriftsteller, der die Menschen um sich herum, allen voran seine Geliebte, auf die niederträchtigste Weise manipuliert, um in seinem Leben eine anregende Geschichte zu finden, die er niederschreiben kann. Als ich Sanny davon erzählte, kommentierte sie es mit trockenem Witz: "Blöde Literaten!" Ich entgegnete, dass jener Schriftsteller zwar Einiges durcheinander bringe, aber dass man in seiner Geschichte auch etwas erkennen könne, das in der Kunst ohnehin von statten gehe. Ist es nicht so, dass das Leben, ob dies ein Künstler beabsichtigt oder nicht, sich ebenso aus der Kunst gestaltet wie die Kunst aus dem Leben?


Wenn ich ein Gedicht schreibe, die entfesselte Euphorie, die stille Glückseligkeit, ebenso wie das düsterste Leid aus dem Innersten hervorhole, aus einer Seelentiefe schöpfe, die ich in meinem einfältigen Dasein sonst nie hätte ergründen können, so leitet mich dies doch an, dem Weg, der sich dabei auftut, zu folgen. Und in diesem Kreislauf aus Inspiration und Schöpfung mag es einem Künstler so vorkommen, als sei die Kunst das wahre Leben, wonach sich das irdische Dasein bloß abbilde. Zumindest weiß ich, dass der Stift das mächtigste Werkzeug des Menschen ist. Wie viele Poeten haben sich wohl schon in den Tod gedichtet?


Sanny erkannte sich selbst in einigen meiner Worte, da sie, wie sie mir verriet, ihre Gedichte zwar nicht über sich, jedoch unmittelbar aus der Ehrlichkeit eines empfundenen Augenblickes heraus schreibe und weil ich weiß, wie sonst wohl niemand, was dies bedeutet, ist es mir, als nähme ich in solchen Momenten ihres Selbstgründens teil, wenn ich ihre Gedichte lese, als fände ich ihre Poesie in mir wieder. Und da wir uns wohl, wie ich es mir kaum anders erklären kann, in der Inniglichkeit einer gemeinsamen Poesie begegnet sein mussten, äußerte sie ihren Wunsch, sich noch eingehender mit mir auszutauschen. Ohne es zu wissen, hatte ich wohl darauf gewartet und ergriff den Moment, ihr vorzuschlagen, künftig miteinander zu telefonieren.

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Geschrieben (bearbeitet)

4.2.2012

 

Verzeih Babsi,

 

dass ich dir neulich ihre Antwort vorenthielt! Das muss mir wohl schon selbstredend gewesen sein. Inzwischen kam es auch bereits zu unserem ersten Telefongespräch. Beide waren wir sehr neugierig, jedoch auch aufgeregt - es ist auch freilich ein merkwürdiger Hergang, mit einem Menschen bereits so vertraut zu sein, ehe man auch nur ein Wort mit ihm gesprochen hat. Doch als ich zum ersten Mal ihre zarte Stimme vernahm - "Du Lieber! Ich hoffe, du sitzt bequem. Ich habe dir so viel zu erzählen." - da war mir, als führten wir einen Gedanken aus den Ursprüngen unserer Seelen fort, wovon wir nur eben kurz abgelenkt gewesen wären und alle Erwartung, alle Befürchtung war verflogen, verlor sich in einem sechsstündigen Gespräch. 


Davon kann ich dir nur wenige Einzelheiten wiedergeben. Zu sehr war ich wohl eingegangen in der Gegenwärtigkeit, dass ich nicht an ein Danach dachte, in welchem ich mich daran erinnern müsste. Nur dass sie viel lachte, weiß ich noch - und wenn sie lacht, ist ihre Freude meine ganze Wirklichkeit. So viel weiß ich noch und dass ihre Worte ein Fenster zu einer fantastischen Welt sind, welche ich so bald wie möglich wieder beschauen möchte.


Gerade wollte ich den Brief damit abschließen, da stieg doch noch eine Erinnerung in mir auf, die du als sinnhaft verstehen kannst. Wir knüpften an unser Gespräch über das Verhältnis von Kunst und Wahrheit an. Da musste ich wohl so etwas gesagt haben, wie: "Eine Beschreibung sagt zumindest so viel über den Betrachter aus wie über die Dinge seiner Anschauung." Dazu wusste sie ohne Zögern sogleich ein Beispiel zu nennen, woraufhin ich erst ganz verstehen konnte, wovon ich doch sprach: 


Als sie nämlich einmal im Zoo vor der großen Voliere stand, in der riesige Raubvögel, Geier und Kondore sich um das Fressen stritten - das muss einen gewaltigen Eindruck gemacht haben - sah sie ein kleines Kind neben sich, das die Hand in Richtung des Bodens ausstreckte und entzückt von sich stieß: "Oh, ein Spatz!" Darüber zeigte sich Sanny auch nach so viel Zeit so gerührt, als wäre die Szene eben erst geschehen: "Der kleine, unscheinbare Spatz war ihm so viel mehr Beachtung wert, vielleicht weil dieser frei war, weil er im Gegensatz zu den eingesperrten Attraktionen da sein wollte, wo das Kind ihn sehen konnte." 


Den meisten Menschen wäre diese kleine Szene am Rande einer enormen Schau nicht aufgefallen oder sie hätten es bald wieder vergessen. Doch Sanny hat sich den Geist bewahrt, so viel Bedeutsames hinter dem Unscheinbaren zu sehen! Wie ich auf den Lippen hatte, ihr zu danken, dass sie mir ermögliche, den Gehalt in den Formen zu erkennen, in welchen sich mein Denken bildet, zeigte sie sich gerührt, dass ich ihr helfe, Ordnung in ihrem Erkennen zu finden.
 

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Geschrieben

6.2.2012
 
Liebe Babsi,

 

am Tag darauf haben wir wieder so lange miteinander gesprochen und gestern erneut bis in die späte Nacht hinein, da alles umher so schön still war und es nichts weiter gab als Sannys Stimme. Wie viel reichhaltiger ist die Welt, wenn sonst alles verstummt! Da ich aber wusste, dass sie heute früh aus dem Bette steigen musste, drängte ich immer wieder gegen all mein Verlangen darauf, das Gespräch bald zu beenden. Doch sie ließ sich einfach nichts einreden: "Ich will noch nicht gehen. Erzähl mir noch etwas, du Lieber!" 


Also ließ ich das Thema zu unserer gemeinsamen Leidenschaft, der Dichtkunst, hingleiten, wollte ich sie doch ohnehin bewegen, ihre Texte einem Verlag zukommen zu lassen. Es ist nämlich bedauerlich, dass so wenige Menschen nur dazu kommen, diese Schönheit zu besehen. Mit einem Gedichtband wäre dies sicher anders. Jedoch lehnte sie überzeugt ab: "Ich weiß, was Menschen mit Ideen machen. Sie malen sie bunt an, besetzen sie mit Lügen und lassen einen Hampelmann so tun, als wären es seine. Das möchte ich nicht mehr", womit sie auf ihre Vergangenheit als Sängerin verwies. Dazu habe ich auch ein Foto aus jener Zeit gesehen, weswegen ich ihr nur recht geben konnte. Babsi, was sie aus dem schönen Mädchen machten! Sie haben einen bunten Papagei aus ihr gemacht. Wie bin ich froh, dass sie dieser Welt entschlossen den Rücken kehrte!


Ihren Gedanken schloss sie mit den wahrsten Worten ab: "Für das, was ich liebe, will ich kein Geld und keine Bestätigung. Nein! Nur das Gefühl, mich selbst darin wiederzuerkennen." Als ich gerade versuchte, mich ob so reiner Lebensweisheit und Integrität zu sammeln und daraus zu lernen, griff sie plötzlich wie ein Wetterumschwung zur Gitarre und sang mir ihre Lieder. Sie besang die Liebe, die Trauer, die Hoffnung und den Mut und all diese Empfindungen haben sich zu ihrer Stimme vereinigt. Und ich, ich hörte einfach nur zu. Ich dachte an nichts, ich sehnte nach nichts. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich einfach nur zu.


Schließlich musste das Gespräch wohl doch noch ein Ende gefunden haben, aber seither füllt eine ungeahnte Erwartung mein ganzes Denken, da sie vorschlug, mich einmal zu besuchen, um mit mir eine gemeinsame Ballade zu schreiben, wobei jeder von uns einer Figur seine Gedanken und Empfindungen verleihen solle. Da wäre das Leben in der Poesie enthalten und die Poesie im Leben. Meine Begeisterung darüber konnte ich ihr nicht vorenthalten und ihr wurde wohl in diesem Augenblick erst gewahr, was sie preisgab: "Oh, ich hoffe, ich war jetzt nicht zu mutig. Nicht, dass du es am Ende noch bereust! Ich kann nämlich ganz schön eigenwillig sein." Nachdem ich ironisch erwiderte, dass mir das noch gar nicht aufgefallen sei, ergingen wir uns in verspielter Neckerei, bis wir einander eine gute Nacht wünschen konnten.
 

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9.2.2012
 
Babsi,

 

ich schreibe dir zitternd vor Angst. Heute ist Lindas Geburtstag, woran ich gewiss keinen Gedanken verschwendet hätte, hätte sie sich nicht mit so viel Gewalt in meinen Tag gedrängt. Sie klingelte bei mir und ich sah sie durch das Guckloch in meiner Tür. Zunächst hielt ich es für die beste Idee, mich still hinzusetzen, so zu tun, als wäre ich nicht da und zu warten, bis der Spuk vorüber gehen würde. Aber wie lange hätte ich regungslos bleiben müssen?


Als sie nach einer Weile noch immer klingelte und klopfte und mich anflehte, ihr die Tür aufzumachen, damit sie mir erklären könne, was ich gar nicht hören möchte, ging ich wieder in Richtung der Tür und rief: "Verschwinde!" Dies konnte sie, auch nach wiederholter Aufforderung, nicht akzeptieren und blieb still vor meiner Tür stehen, hielt mich für Stunden in meiner Wohnung gefangen. Hin und wieder ging ich zur Tür, schaute durch das Guckloch und sah den Wahnsinn in ihren Augen, den sie für Liebe hielt. Noch nie fühlte ich mich so hilflos und bedroht. Gerade erst ist sie gegangen und ich zittere vor Angst.

  • 2 Wochen später...
Geschrieben

15.2.2012
 
Liebe Babsi,

 

wie habe ich mich gefreut, dich eher wiederzusehen, als ich es erwartet hatte, auch wenn ich die Umstände, die dies ermöglicht hatten, gerne gemieden hätte! Nur, man kann sich seine Umstände nicht zurechtlegen. Ich kann wohl sagen, dass die Tage der Heimat mit all ihren sorglosen Erinnerungen, der Freundschaft und wohl auch des regelmäßigen Essens mich gekräftigt haben.


Heute erst, nach meiner Rückkehr, habe ich Sanny von meinem Schwächeanfall berichtet. Zuvor hatte ich ihr nur in aller Eile geschrieben, dass ich für ein paar Tage nicht erreichbar sein würde, da ich vor meiner zügigen Abreise keine Gelegenheit gesehen hatte, ihr alles ausführlich darzulegen und jede halbgare Erklärung hätte sie wohl nur beunruhigt. Da hat sie mich, nachdem sie sich nach meinem Befinden erkundigt hatte, so liebevoll gescholten und mir gestanden, sie habe sich gerade daher Sorgen gemacht und sie pochte darauf, dass ich sie, wenn ich ihre Hilfe brauche, jederzeit anrufen solle, selbst wenn es nachts um drei sei.


"Aber jetzt gehen die Empfindungen mit mir durch", entschuldigte sie sich sogleich ebenso liebevoll: "Da mache ich dir Vorwürfe, wo du meinen Trost bräuchtest! Ich bin froh, dass du wieder da bist! Es war ganz schön leer ohne dich und mein Telefon ist schon ganz kalt geworden." So sehr ich mich nach ihren innigen Worten verzehrte, denn auch ich muss zugeben, dass ich ohne Sanny nebensächlich war und nur die Spaziergänge mit dir darüber hinwegtäuschen konnten - beinahe wäre mir unwichtig gewesen, worüber sie redete, da meine Seele allein in der Zärtlichkeit ihrer Stimme schon zur Ruhe kommt. Mein Sehnen ist ein Wolkenbruch und ihr Sinnen ein stiller, tiefer See.

 


17.2.2012
 
Ach Babsi,

 

du liebenswerte Schwindlerin! Fragst mich, ob ich mir sicher sei, dass sie nur eine Brieffreundin sei und kennst die Antwort schon längst. Was soll ich's leugnen? Nicht etwa erkenne ich sie in den Mustern meiner Welt, nein! Meine Welt erkenne ich in ihrem Wesen. Meine Wünsche erwachen in ihren Atemzügen und schweigen sogleich selbstgenügsam in ihr Lachen hinein.


Sie ist meine Verdandi und ich bin glückselig in den Fäden des Werdens verloren.

 


18.2.2012

 

Liebe Babsi,

 

du weißt, dass mir mein Geburtstag recht wenig bedeutet. Umso mehr bedeutet es mir, dass du dennoch daran gedacht hast. Vielen lieben Dank, auch für das Buch, das du mir geschickt hast! So manches Gedicht habe ich darin gefunden, das mir unbekannt war. Besonders hat mich Ludwig Tiecks Glosse (Liebe denkt in süßen Tönen) beschäftigt, denn in der Tat kann Liebe nicht in Worten gedacht werden und indem man sagt "ich liebe dich" wird die Liebe undeutlich, die eben noch in meinen zitternden Lippen klar zu erspüren war. Wenn ich dennoch jemandem mitteilen möchte, was ich für sie empfinde, denn Liebe kann nur schwer gehalten werden, so habe ich doch nur Worte dafür. Muss dann Liebe nicht letztendlich unerfüllt bleiben?


Aber wenn ich mit ihr rede! Oh Babsi, wenn ich mit ihr rede - gestern hielt sie mich bis Mitternacht und länger am Hörer, um meine erste Gratulantin zu sein - wenn ich mit ihr rede, werden solcherlei Befürchtungen hinfällig. Da verwirren sich all meine Gedanken. Worte versuchen eher kläglich, dies zu überkommen. Aber meine Hinneigung ist so klar, wie ich Sanny sehen kann, wenn ich ihrer Stimme lausche - das kann ich gewiss - und ich bin über Entfernungen, Erwartungen und überhaupt über meinen Geist, ach, über die ganze Welt erhaben. Dies sind mehr als Worte! Ich weiß nicht, was dies ist. Erfüllt sich nicht etwa schon die Liebe in diesen schlichten Hergängen?


Etwa wenn sie mich zärtlich aber nachdrücklich auffordert, ich solle ihr noch mehr erzählen - "Bitte! Du erzählst so schön" - sodass ich es ihr nicht ausschlagen könnte, wenn ich wollte. Und dann, wenn ich mitten in den inneren und äußeren Erfahrungen während meiner Waldeseinsamkeit angelangt bin, nichts weiter ahnend als den Fortgang meiner Geschichte, unterbricht sie mich plötzlich und da werden mir meine Worte selbst ganz egal, als ich sie singen höre. Erst da erkannte ich, dass es wohl mein Geburtstag sein müsse, hatte ich doch zuvor noch gar nicht daran gedacht. Oh Babsi, als wäre ich gerade in diese Welt geraten, verzückt und neugierig und in heiterer Verwirrung über all die schönen Reize! Und sogleich schickte sie mir ihr Geschenk - ein Bild, das sie nur entweder durch die feinste Beobachtung oder durch die weitschweifigste Fantasie zeichnen konnte:


Zwei kleine Kinder, die einander mit großen, staunenden Augen anblicken, die Hände ungelenk aber sehnsüchtig zueinander ausgestreckt, mit einem ungehaltenen Lachen, wozu nur eben Kinder imstande sind. Ach, sie haben noch kaum etwas gelernt über diese Welt und schon so viel dessen verstanden, was die meisten von uns vergaßen, während wir "reifer" wurden, also uns Vorsicht und Misstrauen aneigneten. Babsi, einen schöneren Geburtstag hatte ich wohl selbst als Kind nicht erlebt! Habe heute Nacht auch kein Auge zugetan, da ihr Lied und ihr Bild mit meinem Empfinden zu einer untrennbaren geistigen Erscheinung zerflossen. Und dies war mir der schönste Traum.


 

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Geschrieben

19.2.2012

 

Liebe Babsi,

 

ich habe ihr einige der Gedichte vorgelesen, die ich in deinem Büchlein gefunden habe. Und als ich aus de la Motte Fouqués "Waldessprache" las, wo die Klänge der Natur scheu verstummen, sobald Worte sie wiedergeben wollen, da enteilten ihr zu manchen Versen diejenigen Seufzer, die ich gerade noch zügeln konnte. Daraufhin trug sie mir Ludwig Uhlands "Einkehr" vor, worin die tiefste Dankbarkeit der Natur gegenüber ausgedrückt wird. Ihre Großmutter hat es ihr immer aufgesagt, um sie in den Schlaf zu wiegen. Überhaupt muss ihre Großmutter ein ganz besonderer Mensch sein. Sie war immer für Sanny da, auch als der Rest der Familie auseinanderbrach und Sanny sich in einem Strudel wiederfand - da war die Großmutter ihr die Ruhe hinter allen Wirren.

 

 

20.2.2012
 
Liebe Babsi,

 

heute entdeckte ich einen Ort von unbeschreiblicher Schönheit, dass ich mich wundern musste, weshalb ich die paar Kilometer bisher noch nicht auf mich genommen hatte: Bei Hanau steht ein Schloss, das der Bauherr im beschaulichen Wilhelmsbader Park vor gut zweihundert Jahren bereits als Ruine errichten ließ - eine aus Stein gemauerte Vergänglichkeit! Ich konnte die Weitsicht und Demut ob der Vergänglichkeit seines Schaffens nur bewundern. Und wie sich die Ruine so natürlich aus der Insel inmitten des kleinen Weihers erhob, wo noch vereinzelt gebrochenes Eis obenauf schwamm - als hätte dies alles nie anders sein können!


Die Vergänglichkeit aller Dinge ist ein kluger Lehrer. Wie in der Natur alles vergeht und sich ständig erneuert, so auch in meiner Seele. Schon konnte ich die ersten Krokusse im Park bestaunen, da das Eis kaum geschmolzen war und in der sanften Mittagssonne belebte eine Ahnung des Frühlings meine Sinne, wenngleich ich nicht ungeduldig mit dem Winter sein mag, wenn er sich entschließt, noch etwas zu verweilen. Dies alles erinnerte mich an Sanny.


So oft fehlen mir vor Glück gar die Worte, wenn sie mir aus der Seele spricht, dass sich ein tiefes Bedauern in mir auftut, wenn sie ihre Gedanken zu Ende bringt, weil ich ihr ewig zuhören möchte. Doch ehe sich die Bedrücktheit in meiner Seele ausbreiten kann, kommt ihr völlig aus dem Nichts ein anderer Einfall und sie erschafft einen neuen Moment, ganz nebenbei. Vor ihrem Ideenreichtum ist alles Erleben vorläufig und in dieser Vorläufigkeit finde ich Gleichmaß. Doch jeden Tag, wenn die Worte zur Ruhe kommen müssen, ist dies endgültig und ich wanke und wenn wir einander "gute Nacht" zuflüstern, möchte ich mich in meinem Bette nach ihr umdrehen und ihr in die Augen schauen. Doch da ist niemand. Ich will sie sehen! 


All diese Wirren fanden sich heute in einem unvollendeten Sonett wieder:

 

Es zwang mich die Unrast hinaus in die weiten,
die wallenden Felder, die stumm mich gemacht,
auf Gipfel, erhaben fast über die Zeiten,
hinaus in die wütende, donnernde Nacht,

 

hinaus mit der Leidenschaft blühender Jugend,
auf bebenden Lippen zu nichts mehr ein Wort,
hinfort mit der Sünde! hinfort mit der Tugend!
hinfort von der einsamen Heimat, hinfort!

 

Je weiter ich ging, desto ärger das Sehnen
nach Fremde, nach Weite, nach Schönheit, nach mehr -
ich weiß nicht... nach Einklang von Kosmos und Seele,

 

nach etwas, das wert sei, zum Schluss zu erwähnen.
Es drängt, ach, mein Herz denn wonach nur so sehr?

 

 

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Geschrieben

21.2.2012
 
Liebe Babsi,

 

was du über die Unvollkommenheit sagst, ist ganz richtig: gerade das Unvollkommene vermag mich mehr anzusprechen, als wenn alles so von sich geht, wie man es sich eben vorstellt. Wenn sie gerade ein wenig zu laut lacht und ich weiß, dass sie ihre Freude nicht zurückhalten kann oder wenn sie davon berichtet, wie sie aufzuräumen versucht habe, es dabei aber deutlich übertrieben habe und nun alles noch viel mehr im Chaos versunken sei und dann in scheinbarer Rechtfertigung stolz nachreicht: "Aber die Schränke sind jetzt sauber" oder wenn sie mir immer wieder eine schöne Nacht wünscht, weil sie so müde sei, doch ihre stets neu gefassten Nachtgrüße sie wieder davon abbringen, weil es sie auf ganz andere Gedanken bringt - nur die verzückendste Ehrlichkeit kann so schön unvollkommen sein.

 


22.2.2012

 

Aber Babsi, 

 

du verstehst doch daher sicherlich, dass mir an Sinn und Ordnung nicht gelegen sein kann. Im Gegenteil! Die klarsten Gedanken könnten mir nicht deutlicher den Weg aufzeigen, auf welchem ich mich im achtlosen Taumel bereits befinde. Gestern, als wir einander mit den liebsten Worten in den Schlaf entließen, küsste ich gerade leise genug, dass sie es nicht hören konnte, den Hörer.

 


23.2.2012
 
Wie Babsi,

 

wie soll der Verstand dem trotzen, das die Sehnsucht ihm bereits abgenommen hat? Wie soll eine Seele in sich Ruhe finden, die nur nach der Ferne langen kann? Welche Macht hat ein Mensch über seine Tränen?

 


23.2.2012

 

Ob diese Tiefe meiner Empfindungen auf Gegenseitigkeit beruht oder ob sie diese zumindest erwirken mag, ist in der Tat eine Frage, die ich gerne beantwortet finden möchte. Ich kann dir darauf nur Albernes sagen: Wenn ich meine Gedanken nicht zu Ende denke, nicht einmal bis zum ersten Punkt, um mich in ihren Gedanken zu verlieren, ganz nah, ganz tief, wenn ich sie wie ein Gedicht lese, wenn ihr Schweigen unerträglich laut in mir wird und ich sie anrufe wie in einem Gebet, um ihre Stimme zu hören, so kann ich mir jedenfalls darauf keinen anderen Reim machen als dass so viel Sehnsucht nicht von einem einzigen Menschen allein empfunden werden kann - fast als müsse sie diese Sehnsucht teilen, wenn in dieser Welt etwas Sinnhaftes sein soll.


Wärst du bei mir

 

Wärst du bei mir an meiner Brust,
verlör ich keine Träne und kein Wort
darüber, wie es wär, wärst du jetzt fort,
als hätt ich davon nie gewusst.

 


25.2.2012

 

Liebe Babsi,

 

da mich heute die Vögel frühlingsgrüßend weckten und dem Kalender spotteten, beschloss ich es ihnen gleich zu tun und auch meine Pläne zu übergehen. In meiner Seele habe ich die sanften, aber fokussierten Bewegungen der leichten, weißen Wölkchen am warmen Himmel wiedergefunden und zog mit ihnen den Hang hinauf. Ach, die herrliche Weite der Landschaft, die sich vor mir erstreckte, könnte meine Sehnsucht nicht einfassen. Wäre ich nur ein Traum, ich brächte all die Bilder meiner Sinne ihr zu Geiste und wäre ihr nahe!
 

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