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Ich ziehe aus


Freiform

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35 Jahre lang habe ich praktisch mit in der Lindenstraße 3 gewohnt. War verliebt in Mutter Beimer und hatte mit mindestens 12 anderen Schauspielerinnen nächtliche Tändeleien, auf die ich lieber nicht näher eingehen möchte. Eine Welt bricht für mich zusammen. Dieser mediale Massenmord ist für mich kaum zu verkraften. Schnief!

Was mache ich jetzt an meinen Sonntagen um 18:50? Wie bekomme ich jetzt die Palette Bier getrunken? Auf welche schauspielerische Leistung soll ich anstoßen? Von welchem Serienstar soll ich jetzt des Nachts träumen? Ich hole meinen schwarzen Anzug aus dem Schrank, den ich noch nicht mal zu Vaters Beerdigung getragen habe und zünde ca. 30 Kerzen gleichzeitig an, die ich auf den Fernseher mit Wachs befestige.

Kurze Zeit später bildet sich schon ein Wachs-Stalaktit der über dem Fernsehbildschirm hängt. Auf dem darunterliegenden handgeknüpften Orientteppich wächst ein Wachs-Stalagmit, der von Sekunde zu Sekunde an Höhe gewinnt. Um ihn herum ist ein kleiner Wachs-See entstanden, der den Perser hermetisch versiegelt.
Leider kann ich das Schauspiel nicht mehr klar erkennen, da die ca. 100 Räucherstäbchen die Luft doch deutlich trüben und die Brandmelder inzwischen so einen Lärm verursachen, das ich kurz vorm Durchdrehen bin.

Ich versuche, klar im Kopf zu bleiben und nehme mir fest vor, morgen im Internet eine Spendenaktion für die arbeitslosen Schauspieler ins Leben zu rufen, da ich mir sicher bin, das die nie wieder eine feste Anstellung bekommen. Die kennen nach 35 Jahren, ja noch nicht mal mehr ihren richtigen Namen. Doch jetzt muss ich die Nacht erst einmal überleben. Ich öffne schnell die Balkontür und schmeiße den Fernseher über die Brüstung. Den Perser verwandele ich in einen fliegenden Teppich und überlege kurz, ob ich mal an der Lampe reiben soll, vielleicht erscheint ja Dschinni und ich kann mir die Lindenstraße zurückwünschen.

Aus dem Erdgeschoss höre ich ein lautes „Danke“, der Nachbar war schon immer scharf auf meinen Teppich. Mit der Palette Dosenbier lösche ich die Vorhänge, die inzwischen Feuer gefangen hatten. Zu meinem Glück, brauche ich nicht alle Dosen und nachdem den Brandmeldern endlich der Saft ausgegangen ist, kehrt auch wieder Ruhe ein. Erschöpft sitze ich auf der Couch und suche nach einem neuen Sinn im Leben, während ich das letzte Bier öffne.

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Hallo Freiform,

 

ich finde deine Kurzgeschichte sehr gut geschrieben und sie ist wahnsinnig unterhaltsam. Deine Beschreibung über dieses total übertriebene Verhalten hat mich öfter als nur einmal schmunzeln lassen. Ja ja, die Lindenstraße, das sind für mich echte Kindheitserinnerungen, weil meine Mutter das immer angeschaut hat.

 

Aber ich gehe schwer davon aus, dass die Lindenstraße durch irgendeinen anderen Schwachsinn ersetzt wird. Fernsehen kann man sich ja schon fast nicht mehr antun heutzutage....

 

Ich hoffe ich bin mit meinen Worten am Ende niemandem auf den Schlips getreten.

 

Ganz liebe Grüße

Pandalinella

  • Danke 1
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Hallo Pandalinella,
mir kannst du gar nicht auf den Schlips treten, da ich gar keinen besitze, und wenn ich den Bogen einmal überspanne, kann man mir auch ruhig mal einen mit dem Schlappen überziehen!
Dein „wahnsinnig unterhaltsam“  lässt mein Pumperl im Dreieck springen, brauche glatt ein Lasso um es wieder einzufangen!
Ob die Lindenstraße gut oder schlecht war, vermag ich gar nicht zu beurteilen, da ich es in den 35 Jahren nie geschafft habe, eine einzige Folge zu Ende zu schauen. Trotzdem habe ich das Gefühl, nicht wirklich etwas verpasst zu haben.
Als ich vor kurzem gelesen habe, dass es diese Serie tatsächlich seit geschlagenen 35 Jahren gibt, hat kurz mein Verstand ausgesetzt und mich zu diesem Text gezwungen. Ich bin also nicht schuld. Ich betone, nicht schuldig! :whistling:
Spaß beiseite, wieder ein Text den niemand braucht, aber der geschrieben werden wollte. Dein Schmunzeln verleiht ihm eine Daseinsberechtigung und ich freu mich sehr, dass ich für einen kurzen Moment dein Gesicht straffen durfte. :grin:

Dankeschön! :smile:

grüßend Freiform

  • Danke 1
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