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Schmuddelkind

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Das Schicksal hat uns in der Bahn vereint.

Die junge Nacht gebar die ersten Sterne.

Du blicktest aus dem Fenster in die Ferne.

Im Spiegel sah ich doch: Ich war gemeint.

 

Auf englisch fragtest du, warum wir halten.

Ich gab zur Antwort: "Um das Eis zu brechen."

Sogleich begann ich schon auf deutsch zu lächeln.

Dann lachtest du auf russisch Winkelfalten.

 

Und von Bulgakow sprachst du - Mund und Hände -

und ich von Goethe - blickt ich dir gewogen.

Doch eh ich merkte, dass wir weiterzogen,

war unversehens unsre Fahrt zu Ende.

 

Der Abschied hat uns aus dem Traum gerissen.

Ein Lebewohl kam auf in deinem Blick.

Ich sah dir nach, du gingst und sahst zurück.

Wer weiß, wieviel bleibt wohl im Ungewissen?

 

Der Zug fuhr aus und der Moment erblich,

denn bloßer Zufall selbst hat uns geschieden.

Nun denn, du gingst nach Norden, ich nach Süden.

Bulgakow lese ich und denk an dich.

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Hallo Schmuddelkind,

 

eine Zufallsbegegnung, die im Zug stattfand - auf einer Reise, ob beruflich oder eine Studienreise oder eine Urlaubsreise, das ist hier offen. Ebenso offen zeigt sich das Gedicht in zwei (zumindest nach meiner Lesart) verschiedenen Deutungsmöglichkeiten. Abgesehen von der direkten Begegnung zweier Menschen kann ich hier auch eine 'Begegnung der Kulturen' herauslesen. 

 

In beiden Fällen war die Begegnung, das Kennenlernen, wertvoll und 'wirkt nach'. Trotz erneuter, getrennter Wege bleibt eine Verbundenheit, genährt von der Erinnerung.

 

Bei der Begegnung zweier Menschen auf der ersten Leseebene, da stellt sich heraus, dass die Neugier (die eben nicht immer negativ sein muss) dazu führte, miteinander ins Gespräch zu kommen, in dem beide geteilte Interessen fanden - hier exemplarisch die Dichtkunst.

 

Ja, in so einem Gespräch 'fliegt die Zeit vorbei', es wird gar nicht bemerkt, wie sie vergeht. Und schon ist es wieder Zeit, Abschied zu nehmen - sicher, so denke ich, auch wenn es hier nicht geschrieben steht, auf beiden Seiten durchaus mit Bedauern.

 

Was wiederum nahezu das Gleiche ist, wenn man es als 'Austausch der Kulturen' betrachtet. Ja, wir sollten viel öfter unseren Blick auf Gemeinsamkeiten richten, nicht auf die Unterschiede. Da ließe sich immer etwas finden, das miteinander geteilt wird - und in allererster Linie das gemeinsame Menschsein. Und vor allem sprechen wir Menschen in der Kunst eben keine verschiedenen Sprachen (hier im Gedicht klappt die Verständigung auch mit 'Händen und Füßen'). Ebenso die universelle Sprache des Lächelns hier - wenn das Lächeln echt ist, dann lächeln die Augen mit. Und auf deutsch lächelt es sich eben wirklich nicht anders als auf russisch. Oder auf *hier beliebige Sprache einfügen*. 

 

Ja - in der Begegnung einzelner Menschen und in der Begegnung von Ländern und Kulturen stellt sich heraus, dass 'der Blick, der Fokus' meist nur auf dem Negativen liegt, und das macht 'blind' für das Positive. Es ist eben wirklich so - es ist eine Frage der Perspektive, denn diese bewirkt, wonach wir suchen. Und auch, was wir finden.

 

Zugleich begegnen sich interessanterweise auch 'Schicksal und Zufall' im Gedicht. Hierin sehe ich eine Andeutung auf Glaubensrichtungen. Theist und Atheist, Spritist und Wissenschaftler, Realist und Träumer - vielfältig aufzufassen. Das wollte ich gerne auch noch erwahnen.

 

Ach ja, 'um das Eis zu brechen'. Eigentlich ist gar nichts anderes und auch nicht mehr nötig. Manchmal wünschte ich mir, es gäbe so etwas wie einen 'globalen Eisbrecher'. Wenn wir schon so viel Krams, der völlig sinnfrei ist, erfinden - warum dann nicht mal etwas wirklich Nützliches und wirklich Sinnvolles?

 

vor 13 Stunden schrieb Schmuddelkind:

und ich von Goethe - blickt ich dir gewogen.

Das ist für mich die einzige Stelle, an der ich etwas auf dem 'blickt' herumkaue. Ich weiß, ja, Austausch von Blicken, Augenblick der Begegnung, 'blickt' ist hier richtig. Ich merke es nur an - es wäre nicht gut, das zu ändern. Manchmal geht es nicht anders, denn, wenn es für mich ein 'Gesetz' gibt, was das Dichten angeht, dann dieses: Nie den Inhalt, oder wie der erwähnte Goethe schrieb, nie 'die Reinheit des Gedankens' der Form opfern. 

Passiert mir ebenfalls, dass beim Abwägen die richtige Entscheidung eben darin besteht, in den sprichwörtlichen 'sauren Apfel zu beißen'. :wink:

 

Hier bin ich gerne mit Zug gefahren :smile: (obwohl ich realiter dabei ganz gerne mal reisekrank werde, wenn die Fahrt zu lange dauert). :sick: :classic_laugh:

 

Ah, da hätte ich doch fast vergessen, was ich noch schreiben wollte: Ja, es ist wohl ein Lebewohl. Da wünschte ich, es wäre statt dessen ein Auf Wiedersehen. 

 

LG,

 

Anonyma

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Liebe Anonyma, liebe Zoe,

 

vielen Dank für eure lieben Kommentare!:smile:

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Abgesehen von der direkten Begegnung zweier Menschen kann ich hier auch eine 'Begegnung der Kulturen' herauslesen. 

Vielen Dank für das Herausstellen der beiden Bedeutungsebenen, die ganz gewiss im Gedicht eine Rolle spielen. Was du darin alles erkannt hast, hat mich wirklich begeistert. Aber dazu später mehr. Zunächst einmal: Ja, sowohl das Kennenlernen zweier Menschen, als auch das Zusammentreffen zweier Kulturen wird hier thematisiert. Und ich denke, dass das Gedicht auch etwas darüber sagt, dass beides durch das Interesse am Anderen möglich ist, aber durch als trivial empfundene Sachzwänge (Fahrpläne, Termine, Regulierungen im Allgemeinen) verhindert werden kann. "Es gibt nichts Richtiges im Falschen", hat Adorno mal geschrieben und oft stehen ja gesellschaftlich vorausgesetzte Prioritäten dem eigenen Glück im Wege.

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

In beiden Fällen war die Begegnung, das Kennenlernen, wertvoll und 'wirkt nach'. Trotz erneuter, getrennter Wege bleibt eine Verbundenheit, genährt von der Erinnerung.

Und das ist auf der anderen Seite auch wiederum war. Auch wenn dieses Nachwirken vermutlich schmerzhaft für das LI ist, zeugt es doch von einem Ideenaustausch, der selbst nach der Begegnung noch stattfindet.

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Bei der Begegnung zweier Menschen auf der ersten Leseebene, da stellt sich heraus, dass die Neugier (die eben nicht immer negativ sein muss) dazu führte, miteinander ins Gespräch zu kommen, in dem beide geteilte Interessen fanden - hier exemplarisch die Dichtkunst.

Ja, ein solches gemeinsames Interesse findet man ja nicht so oft, gerade wenn es um Lyrik geht - außerhalb dieses Forums gibt es nicht so viele positiv Bekloppte wie unsereins. Aber wenn man offen auf Menschen zugeht, gelangt man eben auch zu diesen besonderen Begegnungen.

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Ja, in so einem Gespräch 'fliegt die Zeit vorbei', es wird gar nicht bemerkt, wie sie vergeht. Und schon ist es wieder Zeit, Abschied zu nehmen - sicher, so denke ich, auch wenn es hier nicht geschrieben steht, auf beiden Seiten durchaus mit Bedauern.

Das beidseitige Bedauern wird wohl tatsächlich im Gedicht auch angedeutet. Da ist zum  Einen die Frage des LI: "Wer weiß, wieviel bleibt wohl im Ungewissen?" - was wohl eine schmerzhafte Ungewissheit sein muss. Zum anderen der Blick des LD zurück, der signalisiert: "Ich wäre gerne geblieben."

Das Zeitempfinden und wie es von unserer Verfasstheit abhängt, ist auch tatsächlich ein interessantes Thema, denn viele Zeichen der vorübergehenden Zeit nehmen wir gar nicht war, wenn wir uns ganz auf etwas einlassen. So bemerkt das LI ja nicht einmal, dass der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hat und kann darauf nur schließen, als der Zug wieder am Endbahnhof zum Stehen kommt. Und ganz plötzlich, ohne dass man Zeit hatte, zu ahnen, dass dieser Moment kommen würde, wird einem bewusst, dass man sich wieder trennen muss und all die Kontingenz, die die Zukunft geboten hätte, ist dahin.

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Da ließe sich immer etwas finden, das miteinander geteilt wird - und in allererster Linie das gemeinsame Menschsein. Und vor allem sprechen wir Menschen in der Kunst eben keine verschiedenen Sprachen (hier im Gedicht klappt die Verständigung auch mit 'Händen und Füßen'). Ebenso die universelle Sprache des Lächelns hier - wenn das Lächeln echt ist, dann lächeln die Augen mit. Und auf deutsch lächelt es sich eben wirklich nicht anders als auf russisch. Oder auf *hier beliebige Sprache einfügen*. 

Ich bin froh, dass dir das aufgefallen ist. Ja, Kunst und unmittelbarer Ausdruck - das ist so ziemlich universell und überall zu verstehen. Darauf zielte ich natürlich auch ab mit meinen Nationalitätszuschreibungen zum Lächeln bzw. Lachen, denn man merkt als Leser natürlich, dass man eben nicht auf deutsch lächelt oder auf russisch lacht. Sprache spielt dann keine Rolle mehr, sondern das direkte Empfinden, die Gemeinsamkeit, die man in der Wahrnehmung eines gemeinsamen Moments findet. Und diese Gemeinsamkeit lässt einen die Unterschiede viel mehr wertschätzen. Das Interesse daran, vom Anderen zu lernen, wächst und am Ende liest man zumindest ein "neues" Buch, wenn einem sonst von der Begegnung nichts bleiben konnte. Danke, dass du das herausgestellt hast!:thumbup:

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Es ist eben wirklich so - es ist eine Frage der Perspektive, denn diese bewirkt, wonach wir suchen. Und auch, was wir finden.

Absolut richtig! Die Frage, was man sucht, stellen sich die meisten Menschen halt leider nicht und so nehmen sie das, was sie finden, als die einzige unverrückbare Wahrheit hin. Dann kann man zwar nichts dazu lernen, aber immerhin ist man sich der vermeintlichen Bedrohung durch die "Fremden" gewiss.

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Zugleich begegnen sich interessanterweise auch 'Schicksal und Zufall' im Gedicht. Hierin sehe ich eine Andeutung auf Glaubensrichtungen. Theist und Atheist, Spritist und Wissenschaftler, Realist und Träumer - vielfältig aufzufassen. Das wollte ich gerne auch noch erwahnen.

Wow! Tolle Interpretation!:classic_ohmy:

Was du alles in meinem Gedicht erkennst! Das erweitert wirklich meine Sichtweise auf meinen Text. Danke! :smile:

So weit hatte ich beim Schreiben noch gar nicht gedacht (da war es eher ein interessanter Zusammenprall verschiedener Interpretationen derselben Sache und wie die Interpretation durch die momentane Stimmung bedingt ist). Aber diese Begegnung zwischen verschiedenen Charakterausprägungen, die sich an den Begriffen "Schicksal" und "Zufall" scheiden, diese Begegnung in ein und demselben Bewusstsein, zeigt vielleicht auch, wie nah sich unterschiedliche Gemüter vielleicht sind, auch wenn man dies zunächst nicht sieht. Ein richtig schlechter Tag kann aus einem Optimisten einen Pessimisten machen - zumindest für kurze Zeit. Eine neue Liebe und der sachbezogene Realist gerät ins Träumen.

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Ach ja, 'um das Eis zu brechen'. Eigentlich ist gar nichts anderes und auch nicht mehr nötig. Manchmal wünschte ich mir, es gäbe so etwas wie einen 'globalen Eisbrecher'. Wenn wir schon so viel Krams, der völlig sinnfrei ist, erfinden - warum dann nicht mal etwas wirklich Nützliches und wirklich Sinnvolles?

Ja, ist schon blöd eigentlich. Oft findet ein Gespräch nicht statt, weil beide denken, dass der andere vielleicht nicht an dem Gespräch interessiert sein könnte, statt einfach auszuprobieren, wie derjenige auf eine Gesprächseröffnung reagieren würde. Dabei könnte man ja einfach sagen: "Darf ich kurz das Eis brechen?":wink: Dann könnte man ja immer noch merken, dass dieser Wunsch nicht auf Gegenseitigkeit beruht, was ja auch OK ist und seinen Gegenüber wieder in Ruhe lassen. Mir selbst fehlt leider auch oft der Eisbrecher, aber zum Glück sprechen mich Menschen gerne an und dann fällt es mir auch sehr leicht, mich sofort auf das Gespräch einzulassen. Hatte schon wirklich tolle, zuweilen tiefsinnige, manchmal auch einfach nur lustige Gespräche während Bahnfahrten etc..

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Das ist für mich die einzige Stelle, an der ich etwas auf dem 'blickt' herumkaue.

Ich verstehe. Es fällt vielleicht sprachlich aus der Reihe, aber ich möchte es (über die von dir genannten Gründe) auch deshalb stehen lassen, weil es ein Zitat von Goethe ist - aus dem west-östlichen Diwan:

 

Suleika

 

An des lustgen Brunnens Rand,

Der in Wasserfäden spielt,

Wußt ich nicht, was fest mich hielt;

Doch da war von deiner Hand

Meine Chiffer leis gezogen;

Nieder blickt ich, dir gewogen.

 

Hier, am Ende des Kanals

Der gereihten Hauptallee,

Blick ich wieder in die Höh,

Und da seh ich abermals

Meine Lettern fein gezogen:

Bleibe! bleibe mir gewogen!

 

Ich wollte hier auf den west-östlichen Diwan anspielen, weil es da ja auch um kulturübergreifende Begegnungen (insbesondere eben zwischen West und Ost) geht und um das Interesse am Anderen. Daher gehen die beiden am Ende auch nach Norden bzw. Süden, weg von dieser verbindenden Route in ihre jeweilige Welt. Diese Sachzwänge durchkreuzen gewissermaßen das Verbindende.

 

Am 1.3.2020 um 12:56 schrieb Anonyma:

Da wünschte ich, es wäre statt dessen ein Auf Wiedersehen.

Dieses Bedauern wollte ich ganz gerne im Leser aufkommen lassen. Daher lese ich gerne von deinem Empfinden zum Text. Letztendlich geht es ja auch um den Triumph des Trivialen über das Bedeutsame und wie schwer es ist, dies zu akzeptieren. Vielen Dank noch einmal für deinen außerordentlich ausführlichen Kommentar, liebe Anonyma!:smile:

 

vor 21 Stunden schrieb zoe:

von der Form her ist das Gedicht super, was Form und Rhythmus anbelangt. Nun, vielleichtgibt es doch ein Wiedersehen?

Vielen Dank für dein Lob!:smile:

Ich denke, dieses Gedicht nötigt den Leser, diese Frage zu stellen und dann einzusehen, dass es kein Wiedersehen geben kann, denn sonst stünde es im Gedicht. Diesen Widerspruch zwischen Wunsch und Einsicht wollte ich natürlich gerne im Leser bewirken, weil er eben auch oft in mir wirkt. Ich freue mich daher, dass du ebenfalls zu dieser Frage gelangt bist.

 

LG

 

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