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Drei Tage im April 1945

Jahrzehnte lang erzählte ich meinen Kindern, meinen Freunden und sicherlich auch einigen, die geheucheltes Interesse vorgaben, von meiner frühesten Kindheitserinnerung, nämlich das Erlebnis des Kriegsendes am 12. April 1945.
Drei Jahre zuvor, an einem Sonntag, schenkte meine Mutter der Welt mich, ihren Erstgeborenen, dessen erster Schrei sie erlöste und meine Großmutter entzückte.
Die Abwesenheit des Herrn Papa hatte einen gewichtigen Grund: Er musste, wie so viele andere, seine Knochen als Unteroffizier der Deutschen Wehrmacht für den GröFaZ hinhalten.
Drei Jahre später, ich hatte schon ein Brüderchen bekommen, war der Untergang des „Dritten Reiches“ auch den größten Sieg- und Heilkrakeelern zur Gewissheit geworden, rückten die Amis, Tommys und Franzmänner aus dem Westen, die zu Untermenschen deklassierten Russen aus dem Osten immer näher, und um ihre beiden Knaben und sich selbst aus der unmittelbaren Schusslinie zu nehmen, dem Bombardement der Alliierten auf die Stadt Jena zu entgehen, packte unsere gerade mal dreiundzwanzigjährige Mutter den Jüngsten in einen Kinderwagen, nahm mich an die Hand und flüchtete mit uns und meinen Urgroßeltern aus der Stadt in westliche Richtung, den „Birnstiel“ hinauf - der später zu unserer liebsten und längsten Schlittenfahrtstrecke wurde - zum Forstturm und dann im Schutz des Waldes zur Waldgaststätte „Einhügelquelle“. Diese inzwischen leerstehende und dem Untergang geweihte Gaststätte gehörte meinem Urgoßonkel Oskar Schmidt und seiner Frau, meiner liebsten Urgroßtante Berta.
Die „Einhügelquelle“erreicht man auch auf einem anderen Weg: Fährt der Suchende von Jena aus auf der B 7 Richtung Weimar, liegt nahe des westlichen Stadtrandes auf der rechten Seite die „Papiermühle“, die heute eine gut besuchte Gaststätte ist. Nach einer kurzen Wegstrecke
weist ein Straßenschild auf das wenige Kilometer entfernte Dörfchen Müchenroda und die schmale Straße hat den Namen Müchenrodaer Grund. Nach ein paar hundert Metern, weshalb ich das erwähne, wird im Lauf der Erzählung klar, fährt man durch einen kleinen Tunnel unter einer Eisenbahnlinie , lässt rechter Hand eine Kleingartensiedlung liegen und sieht auf der linken Straßenseite das Schild einer Bushaltestelle „Einhügelquelle“.
Eine eingemauerte Quelle entlässt einen kleinen Bach. Überquert man diesen, ist die ehemalige Waldgaststätte nach 100 Metern erreicht.
Hier, in einem reizvollen Tal, linker Hand der Hang eines Berges, eingerahmt von hochragenden Fichten, von keiner Seite einsehbar, hätten wir uns einigermaßen sicher fühlen können, wären nicht auf Grund eines widersinnigen Befehls drei minderjährige Jungs über dem schon erwähnten Tunnel platziert worden, auf dass sie als letztes Aufgebot dem näher rückenden Feind Paroli böten.
Am Nachmittag meines dritten Geburtstages zerriss Maschinengewehrfeuer und das Krachen von Handgranaten die Stille. Angst machte sich breit, die ich selbst als kleines Kind wahr nahm. Die anschließende Ruhe war unheilschwanger und es dauerte nicht lange, bis meine Tante Berta, „bewaffnet“ mit einer Bohnenstange, an die sie ein weißes Bettlaken befestigt hatte, einem Trupp Soldaten entgegen ging. Was weiter geschah, konnte ich nicht sehen, denn Onkel Oskar trieb uns alle ins Haus, durch den Gastraum in die dahinter liegende Küche. Seine Order war klar und lässt sich in dem Satz zusammen fassen: „Hinsetzen und Klappe halten!“
Zur Orientierung: Will ein Gast die Gaststätte betreten, geht er nach dem Passieren der Eingangstür durch einen einen winzig kleinen Vorraum durch eine zweite Tür und betritt den großen Gastraum. Links von ihm steht ein beeindruckend großer Ofen, rechts befindet sich eine Tür zum Jagdzimmer. Schaut er geradeaus, blickt er auf die Theke und hinter dieser Theke ist die Tür zur Küche. Ich durfte auf einem Stuhl sitzen, der links der Küchentür stand, neben mir war die Tür zum Flur, von dem die Geschäftsräume meines Onkels. der Hinterhof und eine steile Treppe in die oberen Räume erreichbar waren. Die Erwachsenen waren sehr nervös,, bei mir herrschte Neugier vor, die bald gestillt werden sollte. Die Tür zum Gastraum wurde geöffnet und zwei mit Gewehren bewaffnete Soldaten kamen in die Küche. Alles erstarrte, nur ich krähte im besten Thüringer Dialekt: „Na, da seid ihr Halunken ja!“.  Das nächste Gräusch war die Backpfeife, die mir meine über alles geliebte Tante Berta spendierte.
Bevor ich losheulen konnte, eher vor Entsetzen als wegen des Schmerzes (meine Tante Berta und eine Ohrfeige, das ging weit über meinen Verstand), schnappte mich einer der beiden Soldaten, nahm mich auf den Arm, sprach unverständliche, aber beruhigende Worte und seitdem darf ich behaupten: Meine Befreiung und die Beendigung des Krieges fand am 12. April 1945 gegen 16.00 Uhr in der Waldgaststätte Einhügelquelle durch die Rote Armee statt!
Durch die gefürchteten Russen, die „Halunken“, wie ich es wohl von den Erwachsenen gehört hatte, war mir die Angst vor einer möglichen zweiten Ohrfeige genommen. So (siehe den Anfang der Geschichte) erzählte ich es jahrelang, bis meine Mutter mal zuhörte und:
„Was erzählst du für einen Quatsch? Das waren damals keine Russen. Das waren Amerikaner!“
Der kindliche Irrtum ist verständlich, denn die Amerikaner haben Thüringen sehr bald wieder verlassen und als Kinder haben wir nur die Soldaten der Roten Armee erlebt.
Es waren also Amerikaner, die aus Weimar auf Jena vorrückten und von einem Himmelsfahrtkommando an dem Tunnel unter der Eisenbahnlinie Jena- Weimar aufgehalten werden sollten. Auf eine kleinere Einheit an der rechten Flanke der nach Osten vordringenden amerikanischen Soldaten eröffneten die drei oder vier Jüngelchen, geführt von einem Unteroffizier, das Feuer. Für die kampferprobten Frontsoldaten ein schnell erledigtes Problem, aber Anlass, Spähtrupps los zu schicken, und einer dieser Erkundungstrupps stieß zufällig auf im Wald verborgene  „Einhügelquelle“.
Von unserer Harmlosigkeit überzeugt, zogen die Soldaten bald wieder ab. Niemanden war ein Haar gekrümmt worden, ein paar Kleinigkeiten hatten sie als Souvernir mitgenommen, aber meine Mutter, die ihren Ehering nicht von dem geschwollenen Finger bekam, durfte ihn behalten
Zwei Stunden nach dem Abzug der Amerikaner trieb die Neugier meinen Onkel Oskar dahin, wo er den Ort des kurzen Scharmützels (den Tunnel) vermutete. Meine Mutter begleitete ihn und ich trappelte hinter den beiden her. Kurz vor dem Tunnel: „Du wartest hier, wir sind gleich wieder da!“
Links der Straße (ich habe mich kürzlich von seinem Vorhandenssein überzeugt) befindet sich ein großes, unbenutztes Abflussrohr, das kurz vor dem Tunnel endet. Ein beliebter Spielplatz! In das wohl fünfzig Meter lange Rohr zu kriechen (und darin aus den Stoßfugen wachsende Pfefferminze abzupflücken, um sie stolz meiner Tante Berta zu präsentieren), war ein waghalsiges Spiel. In diesem Rohr kroch ich also Richtung Tunnel, schaute neugierig am Ende meines Geheimgangs hinaus und - sah den ersten toten Menschen meines jungen Lebens.
Meine Mutter hing weinend in den Armen meines Onkels und als ich zu ihrer rannte, fiel mein Auge auf das zweite Opfer des sinnlosen Unternehmens.
Später habe ich, zunächst in der SED-Darstellung des Geschehens, sehr viel später die historische Schilderung der Befreiung des KZ Buchenwald, gelegen auf dem Ettersberg nahe Weimar, erfahren. Angehörige der 3. US-Armee sind auf das von der SS verlassene KZ gestoßen und habe für die erste ärztliche Versorgung der übrig gebliebenen Insassen gesorgt.
Dies geschah  am 11. April 1945, also einen Tag vor unserer Begegnung mit den amerikanischen Soldaten.
Anlass für die genauere Erforschung der Geschehnisse war, dass ich viele Jahrzehnte später
bei einer Vernehmung durch einen Hauptmann des Staatssicherheitsdienstes (kurz „Stasi“ genannt), nach meinen Kenntnissen über Buchenwald befragt wurde. Was, um Himmels Willen, sollte ich als Dreijähriger von Buchenwald gewusst haben?
Die Fragen zielten auf eine Person namens Otto. Otto hieß mein erster Schwiegervater mit Vornamen, Otto hieß mit Nachnamen ein Lehrer, der in der „Katholischen Knabenschule St, Michael“ in Geldern/Niederhein mal zwei Stunden unseren Klassenlehrer vertreten hatte. Gemunkelt wurde, dass er wegen unsittlichen Betragens von der Mädchenschule an eine andere Schule strafversetzt werden sollte.
Im weiteren Verlauf der Vernehmung erfuhr ich, dass der Stasi fest davon überzeugt war, dass dieser Herr Otto einer (von mehreren) der Hauptverdächtigen war, der den Vorsitzenden der KPD, Ernst Thälmann, in Buchenwald ermordet hätte. Dieser Wolfgang Otto war Stabsscharführer der SS und galt als einer der Mörder des Vorsitzenden der KPD, der 1933 in Bautzen inhaftiert war und von da aus in das KZ Buchenwald verlegt wurde. Nach jahrelangen Strafverfahren wurde Otto 1988 in der Bundesrepublik freigesprochen.
So holt einen ohne eigenes Zutun die Geschichte ein!
Der 11. April 1945 wird mír als Tag des Einmarsches der Amerikaner in Buchenwald im Gedächtnis bleiben, der 12. April 1945 als private Kapitulation meiner Tante Berta ebenfalls. Und der 13. April 1945?
An diesem Freitag, knapp zwei Wochen nach Ostern, übergaben Vertreter der Universität Jena die Stadt Jena kampflos den Amerikanern. Die amerikanischen Truppen  marschierten von Weimar kommend Richtung Jena. Die Hauptverbindungsstraße ist die B 7 (komisch - an der B 7 liegt im Westen auch Wuppertal, wo ich viele Jahre gelebt, geliebt und studiert habe).
An dieser B 7 liegt auch (von Weimar aus kommend etwa 5 km vor der Stadtgrenze zu Jena) die Gaststätte „Carl August“. In dieser Gaststätte wurde die Kapitulation unterzeichnet.
Ich erinnere mich, dass ich vor über 50 Jahren in dieser Gaststätte gespeist habe. Der Speisenkarte war ein Blatt zugefügt, auf dem die Geschichte der kampflosen Übergabe Jenas dokumentiert war. Zur Zeit ist die Gaststätte geschlossen und meine Suche nach dem Beweis der Wahrhaftigkeit meiner Erzählung war vergebens.
Immerhin: Bei meiner Recherche stieß ich auf den Hinweis, in unmittelbarer Nähe der Einhügelquelle seien vor Jahren bronzezeitliche Funde gemacht worden. Menschen der Bronzezeit fühlten sich demnach in der Nähe meiner Herzensheimat genauso wohl wie ich.
Die Funde zu sehen, begab ich mich in das Jenaer Stadtmuseum. Einer der Mitarbeiter riet mir, mich an einen der Security-Männer zu wenden, weil der sich in der Gegend um die Einhügelquelle herum recht gut auskenne.
Jörg Berthel, ein liebenswürdiger Thüringer, war sehr auskunftsfreudig und hatte, kaum konnte ich es glauben, Kenntnis von dem eingehefteten Blatt in der Speisenkarte der Gaststätte „Carl-August“, kannte sogar den Namen meiner Tante Berta und meines Onkels Oskar. Von 110 000 Einwohnern Jenas hatte ich den einen getroffen, der meine Geschichte bestätigen konnte. Kein Wunder: Dieser Jörg Berthel war der Inhaber/Gastwirt des Carl-August (leider z.Zt. 2020 geschlossen).
Wundert es jemanden, wenn ich mir wünsche, dass meine Kinder die Urne mit meiner Asche (hoffentlich noch nicht so bald) entwenden, um sie in der Nähe der Einhügelquelle zu verstecken?
Anfang 2020 ist das ehemalige Waldrestaurant „Einhügelquelle“ abgerissen worden. Eine Rose werde ich an meinem Geburtstag pflanzen.
Meine Herzensheimat gibt es nicht mehr. Zu meinem Geburtstag werde ich dort sein und eine Rose pflanzen.

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