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Unter Strom

 

Für einen Samstagabend war die U-Bahn gut besetzt, platzte aber, anders als an Wochentagen, keineswegs aus allen Nähten, wodurch man nicht nur in den Genuss einer Sitzgelegenheit kam, sondern obendrein – solange man nicht ins Visier eines Schaffners geriet – seine Beine bequem am freien Platz gegenüber anlegen konnte. Den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt betrachte Philipp seine Finger. Mit jeder Station, der er sich seinem Ziel näherte, hatte sich das Zittern intensiviert und machte sich nun daran, auch von seinem Unterarm Besitz zu ergreifen. Wenige Minuten zuvor hatte er sich im Hotel noch einen eigens mitgebrachten[1]Single Malt einverleibt und spürte zwar sogleich dessen sanft brennende Wirkung durch die Bahnen seines Körpers strömen, seine Nervosität allerdings war damit nicht zu bändigen.

Obgleich er, so gut es eben ging, seine Muskelzuckungen im Zaum zu halten versuchte, verstand er die körperliche Unruhe als positives Zeichen. 

Schon immer war er aufgeregt gewesen, wenn etwas Bedeutendes bevorstand. Ganz gleich, ob es sich um eine wichtige Prüfung handelte, Vorträge vor großen Zuschauerscharen oder prestigeträchtige sportliche Wettkämpfe: Die Nervosität erwies sich als ständig wiederkehrender Begleiter, dessen Auftauchen den Dingen eine Wertigkeit zuzuordnen wusste. 

Zu Philipps Glück trat diese Aufregung meist nur äußerlich in Erscheinung, innerlich empfand er in besagten Momenten für gewöhnlich eine tiefe Ruhe und Ausgeglichenheit. Es kam ihm in jenen Augenblicken so vor, als hätte er alle verfügbaren Antennen seines Körpers ausgefahren, sämtliche Sinne seines Körpers aktiviert, das Höchstmaß seines Konzentrationsvermögens erreicht. Das Geschehen vor ihm schien langsamer von statten zu gehen und seine Augen nahmen Eindrücke in derart scharfer Präzision wahr, dass er im Anschluss beinahe seine Sehkraft zu verlieren befürchtete. 

So sollte sich Leben anfühlen, echt und unverfälscht, lebendig und aufregend, messerscharf und sonnenklar. 

 

Freilich war ihm bewusst, wie es die meisten Leute wissen, dass dieser Zustand nicht von ewiger Beschaffenheit war und, ebenso launisch wie das Wetter, seine Beschaffenheit jederzeit zu ändern vermochte. Doch wo auf Regen eigentlich wieder Sonne folgen sollte, fühlte sich Philipp seit geraumer Zeit in einem Nebelschleier abgestumpfter Emotionslosigkeit gefangen und sehnte sich nach seinem aufgeregten Wegbegleiter, der ihn aus dem grauen Wolkendickicht herausführen würde. Er vermisste das lebendige Gefühl, es war ihm entglitten, abhandengekommen, schlichtweg nicht mehr aufzufinden. Er glich einem Chefkoch, der das Geheimrezept seiner Lieblingsspeise verloren hat und damit gleichbedeutend auch jeglichen Appetit. 

 

Aber heute schien sein verschollener Gefährte zu ihm zurückzufinden, der Hunger wiederzukehren, der Nebel sich zu lichten. Heute schienen die Dinge endlich wieder eine echte, wertvolle Bedeutung zu besitzen: 

 

Heute würde er zum ersten Mal Marie begegnen.

 

[1]in der naiv-vagen Hoffnung, er könne die Flasche am selbigen Abend noch teilen

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