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Hasan - ein Fremder bleibt ein Fremder


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Ulrich Pätzold

Hasan – ein Fremder bleibt ein Fremder

Hasan war 1990 nach Deutschland gekommen. Als Kurde lebte er vor der Flucht mit seiner Frau, einem sechsjährigen Jungen und einem vierjährigen Mädchen in einem kleinen Haus im Nordwesten des Iran nahe an der irakischen Grenze. Er baute Musikinstrumente. Seine Frau nähte. Von ihren Berufen konnten sie einigermaßen gut leben, weil ihre Arbeitsprodukte bei der persischen Bevölkerung sehr gefragt waren. Es gab in ihrer Gegend viele kurdische Bewohner. Hasan gehörte zu den wenigen alevitischen Kurden, die in dieser Region zu Hause waren. Auf der Straße und in ihren Häusern sprachen sie den soranischen Dialekt, der im Staat offiziell verboten war. Die südlichen Hänge des Kardilgebirges im Norden waren von seinem Haus aus noch gut zu erkennen. Dort in den steilen und schroffen Bergen gab es viele Nester aufständischer Kurdenmilizen, die gegen Türken, gegen den Diktator Hussein aus dem Irak und gegen die Revolutionären Garden des schiitischen Gottesstaat im Iran kämpften. Hasan hatte nie Kontakte zu ihnen gesucht und war von der Aussichtslosigkeit ihrer Kämpfe überzeugt. Sein Leben lang hatte er versucht, abseits der ständigen militärischen Wellenbewegungen in seiner Region sein privates Leben in Ordnung zu halten, ohne sich den Anwerbungen von irgendeiner Seite zu ergeben. Er war ein Meister im Lavieren. Das war ein anstrengendes, stets Wachheit beanspruchendes Leben.

Die Mehrheit seiner kurdischen Nachbarn waren Sunniten. Ihre Imane forderten Abstand zu den wenigen Aleviten, weil sie in ihnen das Teufelswerk des Zaoismus wirken sahen, dessen Urkraft aus dem frühen persischen Reich bis in die Gegenwart reichte. Es gab aber auch einige sunnitische Kurden, die sich von solchen mittelalterlichen und dogmatischen Religionsdeutungen nicht beeinflussen ließen, über die Imame lächelten und sich für eine multikulturelle Vielfalt in ihrem kurdischen Nationalismus einsetzten. Sie träumten von einem kurdischen Staat aus Teilen des Irans, des Iraks, der Türkei und Syriens, der ihnen von den Großen dieser Welt stets vorenthalten worden war. Diesen Traum träumte auch Hasan gerne, ohne ihn öffentlich in Worte zu fassen. Ausdruck seines Traumes war die Musik. Hasan baute nicht nur wunderschöne Musikinstrumente. Er schrieb auch Lieder aus seinen Träumen, die er seiner Frau an einem kühlen Abend im Innenhof seines Hauses vorsang. Das Haus lag an einem steinigen Berghang, der nach Westen in ein Tal fiel, durch den die tödliche Grenze zum Irak führte.

Seit den Kriegen des irakischen Diktators Saddam Hussein gegen den Iran hatte sich die Lage der Kurden diesseits und jenseits der Grenze immer weiter verschlechtert. Ihre Dörfer und Städte standen den weitflächigen Aufmarschbefestigungen im Wege und man beschuldigte sie der Kollaboration und Sabotage im Auftrag des Feindes, wer immer das war. Türken, Iraker, Iraner und Syrer einte die Vorstellung, dass ihre Reiche umso reiner und stärker wären, je freier sie von widerständischen Minderheiten mit abweichenden Religionen oder ethnischen Abstammungen würden. Also versuchte man - wenn auch mit unterschiedlichen Methoden – sich der Kurden zu entledigen, wo immer die in Siedlungsgebieten zusammenlebten.

Besonders brutal ging dabei der irakische Staat unter Saddam Hussein im Norden seines Landes vor.  Husseins bombte sich seine Schneisen für den Krieg mit Giftgas frei. Von seinem Haus aus konnte Hasan auf die Stadt Halabdscha in die fruchtbare, landwirtschaftlich genutzte Ebene schauen, die auf der anderen Seite der Grenze im Irak liegt. Am 16. März 1988 bombardierten tieffliegende irakische Flugzeuge die 60.000 Einwohner starke Stadt mit Giftgas. 5.000 Menschen starben qualvoll. Das Senfgas verbrannte und verätzte die Haut, die Augen, drang in die Lungen. Wenigen gelang mit feuchten Tüchern vor Mund und Nase die Flucht über die Grenze in den rettenden Iran. Viele erlitten genetische Schäden, was zu Krebserkrankungen und Missbildungen führte, so dass in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren weitere Abertausende starben, die zunächst die Hölle überlebt hatten. Vor allem deutsche Firmen hatten am Aufbau der irakischen Giftgasproduktion mitgewirkt. Über 3.300 Tonnen Giftgas konnten bis 1988 auf 110.000 irakische Flugkörper montiert werden, von denen gut 100.000 über die kurdischen Städte und Dörfer abgefeuert wurden. Halabdscha wurde das größte militärische Giftgasfanal in den Golfkriegen.

Die Stadt und das Grenzgebiet lag auf keinem Radar, der das grausame Geschehen an jenem sonnigen Märztag hätte beobachten können. Der Diktator war überzeugt, niemand könne Nachricht machen, was er hier verbrachte. Die zufällige Anwesenheit eines schwedischen, eines französischen und eines türkischen Fotografen haben es an den Tag gebracht. In Bild, Ton und Wort verbreitete sich das Dokument dieses größten Al-Anfalmordes in kürzester Zeit weltweit. Noch heute ist das Denkmal des Geschehens in Halabdscha eines der eindrucksvollsten Zeugnisse gegen die Kriegstechnik der Chemie.

Vier Halabdschaflüchtlinge, stark vom Gift gezeichnet, hatten sich bis in das Haus von Hasan durchgeschlagen, der sie bei sich aufnahm und sie mit seiner Familie pflegte und ihr Überleben rettete. Es waren die quälendsten Wochen im Leben von Hasan. Anfangs gab es noch öffentliche Anteilnahme und offizielle Unterstützung. Sogar ein Kamerateam vom iranischen Fernsehen kam am zweiten Tag in sein Haus. Man wollte der Weltöffentlichkeit beweisen, dass nicht der Iran, wie vom irakischen Diktator in der ersten Reaktion behauptete, den Giftkrieg gegen die Kurden führe, sondern dass allein der „Schlächter von Bagdad“ in der Lage sei, so unmenschlich gegen die eigene Bevölkerung im Irak zu rasen, wie in Halabdscha geschehen.

Doch schon bald änderte sich die Lage für Hasan und seine Familie. Der Sohn wurde nach der Einschulung sogleich wieder aus der Schule ausgeschlossen, weil er ohne Segen der Mullahs sei, die im Land herrschten. Hasans Frau wurde massiv bedrängt, die Ganzverschleierung zu tragen, wolle sie ihren Beruf weiterführen. Hasan bekam immer häufiger Besuche der Polizei und des Militärs. Jedes Mal beschlagnahmte man irgendetwas und behauptete, belastende Anzeigen seien gegen ihn vorgetragen worden. Die Flüchtlinge aus Halabdscha wurden als kurdische Krüppel verhöhnt, für die nicht einmal mehr die verhassten Amerikaner eine Verwendung hätten. Eines Tages war vor dem Haus ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift: „Seht her, so sehen Menschen aus, in denen die Seele des Teufels wohnt.“

Die Kunden für die Näherei wurden weniger, und Hasan konnte kaum noch eines seiner sorgfältig gebauten Musikinstrumente verkaufen. Eine üble Razzia am 24. Dezember 1989 brachte eine Fünfliterflasche Autobenzin zu Tage. Über die Berge schmuggelte man damals diese kleinen Behälter, weil anders die Menschen in dieser ölreichen Region nicht den Treibstoff für ihre klapprigen Autos bekommen konnten. Das machten die Kurden genauso wie die Iraker und Iraner auf beiden Seiten der Grenze. Aber dem Kurde Hasan war dieser Schwarzhandel Sabotage, bei den anderen war es eine zu vernachlässigende Ordnungswidrigkeit, die mit einer kleinen Zuwendung beglichen werden konnte.

Hasan wurde für 48 Stunden verhaftet und saß in einer dunklen Militärgefängniszelle fest. Seine Frau wurde mit den Kindern in ein Bergdorf verfrachtet, etwa 100 Kilometer entfernt von ihrem Haus. Es wohnten dort nur Frauen und Kinder, und man nannte diese Dörfer Witwendörfer. Was aus den Flüchtlingen geworden ist, weiß keiner, auch die Nachbarn nicht, die Hasan fragte. Als er am dritten Tag wieder zurück in sein Haus kam, war es leer, und alle Einrichtungen waren zerstört und verwüstet. Seine Werkstatt und die Näherei war niedergebrannt. An einigen Stellen quälte sich noch stinkender Rauch in die Luft.

Hasan erzählte später, es habe 14 Tage gedauert, bis er zum ersten Mal in Tränen ausgebrochen sei. Was ihm widerfahren war, was er erlebt hatte, brach da in einer vollständigen Erschütterung seines Körpers und seiner Seele aus ihm heraus. Da war er bereits in einer abenteuerlichen Odyssee über die Grenze bis in das noch nicht autonome Kurdengebiet im Irak gekommen, hatte Brüder und Schwestern gefunden, die sich um ihn gekümmert und ihn in eine Station einer Menschenrechtsorganisation in Erbil gebracht hatten. Er weiß noch, wie die jungen Menschen, die ihn pflegten, eines Tages sagten: „Hasan, hör zu, wir bringen dich hier heraus. Wir bringen dich nach Deutschland.“ Damals konnte er mit Deutschland fast nichts anfangen, ein Land irgendwo weit fort in der Ferne. Er kannte niemanden, kannte die Stadt nicht, in der er versteckt war und hatte nur seine Frau und die Kinder im Kopf. Auch weiß er nicht, warum seine Betreuer, für die er ein zartes Gefühl tiefer Dankbarkeit empfand, ausgerechnet Deutschland ausgewählt hatten, wo angeblich viele Kurden lebten. Er wollte weg, weit weg, das wusste er. Ob Deutschland oder nicht, Deutschland, war ihm damals völlig gleichgültig. So machte er den Willen seiner Freunde in der Hilfsorganisation zu seinem eigenen Willen, zumal ihm zugesichert wurde, dass im fernen Deutschland am ehesten die Gelegenheit bestehe, auch seine Frau und die Kinder dorthin zu bringen, sofern man sie finden könne.

Hasan hatte zu seinem Glück alle für ihn und die Familie wichtigen Papiere bei sich. Im Gefängnis hatte man sie ihm nicht abgenommen, und auf der Flucht hatte er sie nicht verloren. Zum ersten Mal in seinem Leben hörte er das Wort Asyl und erfuhr, wie wichtig dafür Papiere sind. Schon in der Organisation in Erbil wurde für ihn eine Akte angelegt, auf die später die Behörden zugreifen konnten. Hasan übersetzte für sich Asyl mit Gastfreundschaft und Freundlichkeit und kam aus dem Staunen nicht heraus, dass es dafür eine eigene Behörde gibt, in der in erster Linie die Qualität von Dokumenten entscheidend für das weitere Leben ist,

Am dritten Mai 1990 landet Hasan mit einem Rucksack und einer kleinen Hängetasche leidlich gekleidet in einem karierten Hemd und einem etwas zu großen Anzug auf dem riesigen Flughafen in Frankfurt. Aus Lautsprechern schallen in kurzen Abständen knappe Sprechansagen, von denen er kein Wort versteht. Um ihn wimmelt es von Menschen in zauberhaften Verkleidungen, kühlen Blicken und zielstrebigen Bewegungsabläufen. Wie Ameisen in einem Labyrinth bunter paradiesischer Verkaufsstände bewegen sich hastige Menschen. Er wird an Läden und Restaurants entlangeschoben, sieht von innen beleuchtete Bilder an den Wänden, taucht in eine völlig neue Welt voller energischer Geschäftigkeit. Das hat er noch nie erlebt und macht ihn fast schwindelig. Was für eine Zauberwelt, in die er weich und geräuschlos, aber ohne klare Ziele eintaucht. Was soll er tun? Wohin soll er gehen? Was geschieht mit ihm?  Er kommt an eine Schranke, hinter der viele Menschen warten. Kaum hat er sie passiert, umarmt ihn ein Mann, den er nicht kennt, ein Kurde, wie sich herausstellt, der ihn nun begleiten wird. Er wird wie ein kleines Kind an einer starken Hand geführt. Schon in dem Flughafen von Erbil hatte ihn ein Begleiter an die Hand genommen, hat ihn durch die unzähligen Checks geschleust und während der langen Wartezeiten in seiner ihm vertrauten kurdischen Sprache über Deutschland erzählt. Er hatte ihn ermahnt: „Die deutsch Sprache musst du lernen, schnell und gründlich. Ohne sie bist du nichts, wirst du in dem Land nichts werden. Sie ist nicht alles für das Überleben. Aber sie ist der Schlüssel für alles in dem fremden Land.“ Er hatte ihm ein dünnes Heft in die Hände gedrückt mit ersten Worten und Redewendungen in der neuen Sprache. „Am besten ist es, du fängst noch im Flugzeug an.“

Das Asylverfahren ist zäh. So ausgeprägte Bürokratien hatte Hasan noch nicht kennengelernt. Was man alles von ihm wollte, wozu so viel Papier gefüllt wurde, blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Bisher hatte er Lautstärke, oft auch Gewalt von ihm böse gesinnten Menschen in kleinen dunklen Räumen erlebt. Die Menschen, mit denen er es jetzt zu tun hat, sind höflich, viele sind Frauen. Sie scheinen sich für ihn überhaupt nicht zu interessieren. Er ist ein Fall, füllt eine Akte. Sechs Monate dauert das Verfahren. Er hat viel Zeit und lebt nun in einem „Flüchtlingsheim“, das einen komplizierten langen Namen hat, am Rande einer Kreisstadt. Keiner der Deutschen trägt Waffen oder eine Uniform. In seinem Zimmer wohnen drei weitere Asylbewerber, die aus Afghanistan, Syrien und Nigeria kommen. Die Verständigung ist schwierig. Hasan merkt sehr schnell, dass ihn die drei Mitbewohner ablehnen, ihn schneiden, ihm misstrauen. Das scheint das Einzige, was sie eint, denn untereinander streiten sie heftig und sehr emotional. Gemeinsam verrichten die drei täglich ihre Gebete. Hasan wird dabei ostentativ ausgeschlossen. Sie bezeichnen ihn unrein und ungläubig. Es dauert nicht lange, dann verlässt Hasan jedes Mal das Zimmer, wenn die drei beten wollen.

Hasan merkt, unter den Flüchtlingen gibt es wenig Solidarität. Alle schimpfen über die Deutschen, verfluchen das Essen. Aber untereinander gibt es viel Misstrauen, oft explodierende Aggressivität, Ringen um Macht und Stärke. In der fremden Umgebung und in der unklaren Situation der Staatsregelungen ist sich jeder der Nächste. Hasan erschrickt, wie im Flüchtlingsheim die Frauen behandelt werden. Darüber kann er mit niemanden reden. Rituale der Gemeinsamkeit pflegen nur die religiös Engagierten. Viele Flüchtlinge nutzen sie und leiten aus dieser Gemeinsamkeit harte Forderungen ab, die clanartige Hierarchien im Heim begründen. Hasan bleibt Einzelgänger. Kurden, gar Aleviten findet er im Wohnheim nicht.

Aus deutscher Perspektive wird der Asylbewerber Hasan schnell zu einem Kandidaten für eine glückende Integration. Schneller und erfolgreicher als die Anderen lernt er die Sprache. Kooperativer und zuverlässiger arbeitet er in dem amtlichen Verfahren mit. Höflicher ist er in der Entgegennahme der Anweisungen der Heimleitung, auch bei der Entgegennahme der materiellen und sozialen Unterstützungsleistungen. Ihn beeindruckt, was der Staat für die neuen Fremden im Land tut. Er gehört zu den Wenigen, die glaubhaft interessiert sind, das Land kennenzulernen, in das er gekommen ist. Er nimmt an allen angebotenen Kursen und Veranstaltungen teil, in denen das Leben in Deutschland erklärt werden soll. Fasziniert ist er vom Gedankengebäude der Demokratie. Darüber zu lesen, zieht ihn in eine Gedankenwelt, die er als Glück empfindet. Das Lesen macht ihm Spaß. Motivation und Neugierde fördern seinen Wunsch, Teil einer Demokratie zu werden, der Fremdheit zum Trotz für sich Perspektiven zu suchen. Wer mit ihm zu tun hat, ist von seinem Enthusiasmus begeistert, registriert sein Bemühen und seinen Fleiß, ist bereit, ihm nachhaltiger zu unterstützen als andere Flüchtlinge.

Die neuen deutschen Menschen um ihn herum empfindet Hasan nicht gerade als herzlich, aber auch nicht als unfreundlich. Er weiß, dass sie im amtlichen Auftrag nur berufsmäßig mit ihm zu tun haben. Sie sind eingespannt in ein enges Netz unzähliger Paragrafen. Diese Gängelung durch Paragraphen erscheint ihm das innere Geheimnis des neuen Staates, in dem er jetzt lebt. Er fühlt sich befreit von der Willkür, die er personifiziert in Menschen in seinem Herkunftsland so bitter erfahren musste. Was diese neuen Menschen jenseits ihrer Arbeit denken und fühlen, bleibt ihm verschlossen. Er glaubt, Emotionalität in dem neuen Land gibt es nicht, wie er sie kennt. Für ihn muss sie eine Restgröße im privaten Leben dieser Menschen sein, für ihn nicht zugänglich. Zwischen ihm und ihnen ist immer irgendetwas zwischengeschaltet, sei es Geld, sei es Zeit, seien es Organisationen oder die vielen Gesetze, Regelungen und Vorschriften. Insgesamt möchte er dem neuen Land und ihren Menschen ehrlich jeden Dank und jedes Dankesgebet widmen. Oft rechnet er im Kopf, was alles für ihn getan wird, was das alles kostet, welche Ansprüche ihm zustehen. Da kommt viel Geld für die Flüchtlinge zusammen. Er weiß, das ist das Geld derer, die ihm das Aufenthaltsrecht in Deutschland gewähren. Andererseits fühlt er sich nicht als Gast aufgenommen, spürt bei vielen Widerwillen, Ablehnung, inneren Widerstand, wenn sich die Wege auf den Straßen kreuzen.

Nach sechs Monaten ist Hasans Asylantrag positiv beschieden. Er darf sich jetzt wie ein Deutscher im Land bewegen, der arbeiten kann. Er darf sich eine Wohnung suchen, einen eigenen Hausstand gründen und sich in der Demokratie bewähren. Wirklich glücklich fühlt er sich in seinem neuen Leben, als er wenige Zeit später erfährt, dass seine Frau und seine Kinder im Irak gefunden wurden und im kommenden März nach Deutschland nachreisen dürfen. Hasan beginnt, Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben, die er unter der Überschrift „Das neue Leben“ in einer Mappe sammelt, die der deutsche Bundesadler ziert, eine Mappe, die ihm vor kurzer Zeitt mit der Bestätigung seines Asylrechts feierlich überreicht worden war.

Mit Frau und Kinder zieht Hasan noch im Frühjahr in eine Wohnung im ausgebauten Keller in einem Dorf nahe der Kreisstadt. Die Frau beginnt mit Näharbeiten, er selbst widmet sich wieder dem Bau von Musikinstrumenten, die bei türkischen und arabischen Lokalbesitzern weit im Land begehrt sind. Die Einkünfte reichen, die Miete zu bezahlen, in die Versicherungen einzuzahlen und einen ausreichenden Lebensunterhalt zu finanzieren. Hasan ist nun Steuerbürger, benötigt keine öffentlichen Unterstützung. Ein Computer kommt ins Haus, der Fernseher läuft, ein Auto steht im Carport. Das hatten die Hasans nie in ihrem Leben vorher gehabt. Ihre Kinder gehen zur Schule, lernen sehr schnell Deutsch, das auch in der Wohnung privat gepflegt wird. Die Kinder finden zwar keine richtigen Freunde, aber ihre Leistungsbewertungen von ihren Lehrerinnen und Lehrern sind hervorragend. Allerdings bleibt der Ball flach gehalten. Vom Besuch des Gymnasiums wird trotz der guten Noten abgeraten. Die Kinder würden das Abitur sicher schaffen, es sei in Deutschland nicht sonderlich schwer. Aber zur Bildung, zum Erfolg im Leben gehöre mehr. Das könne man in der höheren Schule nicht lernen. Besser sei es, den Weg über die Mittlere Reife in eine solide Berufsausbildung zu gehen. Hasan widerspricht dieser Empfehlung nicht.

Einige Jahre später erwerben Hasan und seine Frau im neuen Dorf am Ende der Hauptstraße ein kleines Haus. Sie sind nun schon fast zehn Jahre in Deutschland, und in ihren Papieren sind sie nun als stolze Hausbesitzer registriert. Die Kinder beenden die Schule, verlassen das Dorf. Der Sohn geht in die Lehre und will Koch werden. Die Tochter geht zu einer großen Versicherungsfirma und lernt Kunden mit Migrationshintergrund anzuwerben und zu betreuen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, die Integration der Familie von Hasan in Deutschland sei nicht gelungen. Vielmehr kann sie erzählt werden als ein Beispiel, wie gut alles werden kann, wenn sich jeder an seinem Platz und im Rahmen seiner Möglichkeiten genügend Mühe gibt. Hasan kann diese offizielle Lesart nicht bezeugen. Er betont zwar immer wieder, dass es ihm wirtschaftlich besser als je in seinem Leben gehe. Das habe er Deutschland zu verdanken. Auch habe er den Deutschen zu danken, dass er immer noch lebe, auch seine Frau und seine Kinder. Er empfinde es als Pflicht, den Deutschen und dem Land so viel wie möglich von dem erworbenen Geld zurückzugeben. Auf dieser Ebene sei die Integration tatsächlich gelungen.

Aber angekommen in der deutschen Gesellschaft? Das sei eher nicht möglich, da machten sich die Deutschen etwas vor. Er sitzt mit seiner Familie zwischen den Stühlen, und das sei der Platz, dem man nicht entkommen könne. Über die lange Zeit seien keine Freundschaften im Dorf gewachsen, so offen ihr Haus auch immer gewesen sei. Die tolle Demokratie reiche nicht in den Alltag der Menschen, in dem viele unsichtbare Mauern Grenzen markierten. Versuche der Hasans, Bekanntschaften zu pflegen, die Feste mit den Dorfbewohnern gemeinsam zu feiern, in ihren Vereinen und Organisationen mitzuarbeiten sind gescheitert. Toleriert, so Hasan, werde man nur, wenn man sich nicht einmischt, sich unsichtbar macht. Als der Sohn mit 14 Jahren, ausgestattet mit einer fetten Spende des Vaters, in der Jugendgruppe der Freiwilligen Feuerwehr mitmachen will, wird ihm erklärt, das gehe nicht, weil Ausländer nicht genügend zuverlässig seien, wenn die Scheune eines deutschen Bauers brenne. Ähnlich geht es der Tochter, die nicht in der örtlichen Tanzgruppe aufgenommen wird, weil ihre schwarzen Haare und braunen Augen und das Gesicht einer Fremden nicht zur Harmonie und zum Ansehen der deutschen Reigen und Trachten passe.

Hasan ist inzwischen überzeugt, auf der Hut sein zu müssen, wenn der ewig vorgetragene Satz fällt: „Wir haben nichts gegen Ausländer.“ Tatsächlich hat sich die Mutter bei vielen Kundinnen großes Ansehen mit ihrer Näharbeit erworben. Sie kommen überwiegend aus der Ferne, denn die Ergebnisse sind fantastisch und die Preise günstig. Im Dorf jedoch schicke es sich für die meisten Frauen nicht, zu ihr zu gehen. Der zweite Satz im Dorf oder auch von den Kunden lautet stets: „Wo kommst du her?“ Andere Fragen bleiben jedoch aus. Freundinnen hat sie selbst unter ihren freundlichsten Kunden nicht gefunden.

Hasans Begeisterung für die Demokratie ist das Fundament für seinen Seelenfrieden im neuen Land geblieben. Alle Versuche jedoch, durch ein Mitgliederaufnahmeverfahren, Fuß in ihren Organisationen zu fassen, sind gescheitert. Es gab nur eine nicht einmal ernst gemeinte Anfrage aus den Kreisen des örtlichen Schützenvereins im Dorfwirtshaus, ob er nicht beim nächsten Schießen und dem anschließenden feuchten Männerabend mitmachen wolle. Hasan wollte nicht und wurde auch nie wieder von irgendwem gefragt. Das Dorf ist im Laufe der vielen Jahre ihm und der Familie gegenüber immer verschlossener geworden. Sich in irgendwelchen Mulikultigruppen zu wärmen, ist nicht möglich. Die gibt es weit und breit nicht. Hasan macht sich viele Gedanken, wie es möglich ist, einen demokratischen Staat zu unterhalten ohne demokratische Grundsätze in der Gesellschaft zu verankern.

Im Dorf ist Hasan der einzige Bewohner, der neben der örtlichen Zeitung eine überregionale „große“ Zeitung abonniert hat. Aufmerksam verfolgt er ab dem Jahr 2005, wie sich ein Wandel gegenüber den zugewanderten Ausländern und ihren Kindern abzuzeichnen scheint. Halb verstört, halb stolz, so scheint es Hasan, entdecken die Deutschen, dass inzwischen etwa ein Viertel der Landesbevölkerung einen Migrationshintergrund hat. Hasan übersetzt die großen Aktivitäten der Bundesregierung, einen breit angelegten Nationalen Migrationsplan auszuarbeiten, als späte Entdeckung. Mit dem Zauberwort Migrationshintergrund erkennen sie gleichsam eine neue Klasse der Gesellschaft an. Die Debatten werden lebhafter, polarisieren. Hasan hofft einerseits, dass sich Ghettos öffnen, dass nun Strukturen entstehen können, in die er sich wie auch viele anderen Eingewanderten einbringen können. Auf der anderen Seite fürchtet er sich vor den vielen stillen Menschen, die sich nun den Lautstarken anschließen werden, um ihren Hass gegen die Fremden offen herauszuschreien. Er kennt die einfachen Gefühle dieser Menschen, Kriminalität, soziale Verwerfungen, Gewalttätigkeiten und Unfrieden vorzüglich den Ausländern in der Gesellschaft zuzuordnen und marodierend mit dem Schlachtruf „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ durch die Straßen zu ziehen. „Wir haben nichts gegen Ausländer, aber die Schreihälse haben auch Recht.“ So hört Hasan die Stummen in seinem Dorf und im weiten Land. Vor ihnen hat er Angst.

Die Migranten sind für Hasan keine Klasse. Wie er vor vielen Deutschen Angst hat, hat er auch vor vielen Eingewanderten Angst, die sich nun ihren Hintergrund sanktionieren und auf den Weg machen, der Gesellschaft zu zeigen, um welchen Hintergrund es sich tatsächlich handelt. Hasan ist ein gläubiger Mensch und er gesteht jedem seinen Glauben zu, solange er damit nicht die Ernsthaftigkeit anderer Glaubenden in Frage stellt oder gar verdammt. Was ihn erschreckt, ist die Intoleranz mancher Einwanderer, die ihren islamischen Glauben instrumentalisieren zum Kampf gegen die westliche Zivilisation. Für ihn darf es keine Gotteskrieger geben. Sie hatten schon das Leben seiner Kurden zerstört und würden es immer wieder tun, wo immer sie einen Grund für Terror und Krieg finden. Dass Gotteskrieger nun auch in Deutschland als notwendiges Schlachtfeld ausrufen, ist für ihn eine Herausforderung. Gegen sie zu sein, ist für ihn ebenso klar wie für die Deutschen, zu denen er aber nicht gehört, weil er ja wie die Gotteskrieger zum Teil der Eingewanderten gehört.

Hasans Bild von den radikalen Islamisten ist stark von seinem Leben und seiner Geschichte geprägt. Seine Angst, sein neues Haus könne wieder in Flammen untergehen wie sein altes Haus, war umso verzweifelter, weil es letztlich nicht erheblich ist, ob die Brandstifter üble Islamisten oder marodierende deutsche Ausländerhasser sein können. Dabei liebt er den Islam, der nicht seine Religion ist. Er ist die Quelle seiner Lyrik, sanft, voller weicher Berührungen, lebensfroh und voller paradiesischer Zukunft. Er hat im Islam so viel Poesie in seiner früheren Heimat gefunden. Tiefer Respekt begleitet ihn in seinen literarischen Begegnungen mit Menschen, die sich in der Mystik religiöserer Erleuchtungen und Gedanken versenken können. Er versucht, die sanfte Schönheit ihrer Worte nachzuahmen, denkt an manche Menschen, die er mit seiner Flucht verloren hat. Nicht der Islam hatte ihn aus seinen Bergen vertrieben. Es waren die fürchterlichen Männer, die Mohamed das Schwert aus den Händen gerissen hatten, das der Prophet mit den Suren zu zähmen versucht hatte. Hasan war sicher, alle historischen Religionen waren mächtig geworden, weil sie sich an die Mächtigen verkauft  hatten. Ach der Diktator aus Bagdad hatte seine Hand auf den Koran gelegt, bevor er die Vergasungen in Halabdscha befahl.

In seinem neuen Haus im neuen Dorf in dem neuen Land ist er immer einsamer geworden, so erfolgreich die Hasans ihr Leben auch abgesichert hatten. In Deutschland ist die Poesie des Islam nicht zu Hause. Er hat sich von den islamischen Gemeinden getäuscht gefühlt, die ihn auch im neuen Land als Verräter und Verbündeten des Teufels brandmarkten. Migrantenvereine, die er kennengelernt hatte, sind für ihn Gefäße, in denen Terror und Töten, Diskriminierung und Verfolgung als die höchsten Formen des menschlichen Kampfes im Namen Allahs verherrlicht werden, in denen es um Macht und Herrschaft geht, wenn der Prophet als Führer vereinnahmt wird. Sie verherrlichten eine Geschichte des Islam, in der sich religiöse Handlungsanweisungen, soziale Normen und politische Ansprüche zur Wiege arabischer Reiche und großfamiliärer Clans zimmern lassen. Die Geschichte gibt ihnen immer Recht, und ein Gemisch aus ein paar herausgefilterte Sprüche und Gerüchte des großen Propheten verleihen ihnen absoluten Wahrheitsanspruch. Das konnte nie seine Religion sein, und sein Leben mit seiner Frau und den Kindern hütete er als menschlichen Widerspruch gegen das explosive Gemisch religiös vorgetragener Glaubensüberzeugungen und Männerphantasien, mit denen kriegerische Schlachten und blutige Aktionen zum Arsenal gehören, mit denen Allahs Wille auf dieser Erde verwirklicht werden sollte.

Hasan verdächtigt viele Migranten, dieses Gepäck aus dem Islam in sich zu tragen, auch wenn sie sich friedfertig in ihr Schicksal in Deutschland zu fügen scheinen. Er beobachtet, wie sich aus der Klasse der Migrationshintergründigen zunehmend junge und alte Menschen in Gruppen zusammenschließen, um sich als Wölfe, als Gotteskrieger für einen Islamischen Staat der verkommenen Welt des Westens entgegenzustellen. Er registriert, wie gerade von seinem am besten zahlenden Kunden in den letzten Jahren der Druck auf ihn gewachsen ist, gegen die Entrechtung der muslimischen Migranten einzutreten, für ihm unbekannte Organisationen zu spenden und zu zahlen. Pamphlete sind ihm in den Briefkasten gesteckt worden, in denen er als Hasan al Kurdi bezeichnet wird. Er weiß, welches Signal ihm da gesendet wird. Starke Männer haben vor seiner Tür gestanden und ihn aufgefordert, Schutzgeld für türkische und arabische Organisationen freiwillig zu zahlen, wenn er in Ruhe weiterleben wolle. Und ein Freund von ihm, ebenfalls ein Kurde, der weit entfernt in einer großen Stadt lebt, empfiehlt ihm, das Geld an zwei oder drei Gruppen zu zahlen. Es sei für ihn besser so. Hasan lehnt das Begehren entschieden ab. Das wäre gegen seine Ehre, gegen sein anständiges Leben in Deutschland gewesen. Aber diese Standfestigkeit bringt keine Ruhe. Sie vergrößert seine Angst. Es kommen Drohungen in rüder Sprache. Aber er macht bei der Polizei keine Anzeigen. Tief verletzen ihn Verschmähungen seiner Frau. Sie trägt kein Kopftuch, gibt den Ungläubigen die Hand. Schlampe schimpft man sie und ihn einen Hurensohn.

Schon so lange in Deutschland bilanziert Hasan, dass er keine Integration erreichen kann, die er einst erhofft hatte. Es bleibt sein Schicksal, zwischen den Stühlen festzuklemmen. Bilder aus seinem Leben in den iranischen Bergen kleben vor seinen Augen. Fotografien gibt es keine, und er wollte nie wieder dorthin zurück. Hier ist er angekommen aber nicht zu Hause. Respekt ist das Höchste, was er erwarten darf, wenn sie ihn nicht anfeinden. Und sowohl bei den Deutschen wie auch bei den Zugewanderten gibt es zu viele, bei denen es nicht einmal zum Respekt reicht.

Die Integration fängt vielleicht erst in der nächsten Generation mit den Kindern an? Hasan und seine Frau hofften das lange und taten alles dafür. Auch die Kinder geben sich redlich Mühe und sind erfolgreiche Akteure in der deutschen Leistungsgesellschaft. Aber die beiden Alten fühlen von Jahr zu Jahr mehr, wie einsam auch die Kinder bleiben. Sie wissen nicht, wer sie sind, wohin sie wirklich gehören, wo die Mitte ihres Lebens liegt. Sie singen die Lieder ihrer Eltern, spielen auf den Instrumenten ihres Vaters, kochen die Köstlichkeiten ihrer Mutter. Die Kinder besuchen ihre Eltern nur selten. Aber sie besuchen auch andere Menschen nur selten. Nur das kurdische Neujahrsfest feiern sie gemeinsam in großer Gesellschaft, fröhlich, melancholisch. Dann klingen vertraut und strahlend die Musikinstrumente, die Hasan gebaut hat.

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Hallo, moin Echnaton

Ich finde es sehr gut das du auf dieses Thema aufmerksam machts. Oft ist es auch Neid. Diese Flüchtlingsfamilie hat es durch sehr viel Fleiß zumindest wirtschaftlich geschafft. Das ist wiederum vielen ein Dorn im Auge. Für die soziale Gerechtigkeit muss auch noch sehr viel getan werden in Deutschland. Doch diese armen Menschen die flüchten mussten haben sehr viel Leid und Todesängste erfahren, das macht schon einen großen Unterschied. Es sind nicht nur Flüchtlinge, die so unsozial behandelt werden. Oft sind es auch Menschen die über längere Zeit schwer Krank sind. Am Anfang ihrer Krankheit, kommen noch einige sie besuchen. Dauert, die Krankheit sehr lange kommt kaum noch jemand. Sie werden oft vergessen (einmal im Jahr spielen die anderen Gut Mensch meistens Weihnachten) Viele Menschen schauen nicht über den Tellerrand sind sich nur selbst der/die Nächste. Wenn diese Menschen, manchmal später selbst betroffen sind verändern sie sehr schnell ihre Haltung (so meine Erfahrung). Ich bin seit Jahren mit einer sehr netten Flüchtlingsfamilie befreundet. Sie haben so mein Eindruck die Integration sehr gut geschafft. Doch nachdem ich deinen Bericht gelesen habe, werde ich nochmal genauer nachfragen. Danke für deine Worte.

Beste Grüße

Josina
 

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