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Auf dem Drahtseil balancierend blicke ich in die Dunkelheit unter mir. Ich bin alleine und will alleine sein. Langsam schwanke ich vorwärts, stets im Bewusstsein, dass eine falsche Bewegung mich stürzen lassen wird. Ich weiß nicht, ob ich sterben werde, aber ich werde vermutlich nie wieder raus kommen, wenn ich erstmal dort bin. Meine Ohren schallen schmerzhaft bei jedem kleinen Geräusch. Ich kann meine Augen kaum offen halten. Die Sonne scheint eine unangenehme Erscheinung zu sein. Blinzelnd wende ich meinen Blick ab und sehe nach unten, während ich langsam einen Schritt nach dem anderen mache. Ich habe keine Angst. Die Zeit verstreicht langsam. Es ist so viel Zeit. 24 Stunden, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Ich frage mich was andere Menschen mit dieser ganzen Zeit tun.
Ab und an gibt es eine erfreuliche Erscheinung am Rande der Klippen, aber die meiste Zeit ist da nichts. Ich kann kein Ziel sehen. Ich habe keine Vorstellung davon wie es dort aussieht wo ich hinlaufe. Ich weiß nicht einmal wieso ich weiter gehe. Oft verharre ich über Stunden an der Stelle, an der ich gerade bin. Es ist so viel Zeit. Und es gibt keinen Grund zur Eile. Die Stille lähmt mich, aber sobald ein Wanderer mir begegnet fühle ich mich so unangenehm betroffen durch seine Anwesenheit, dass ich ihn weiter schicke mit dem Hinweis, ich müsse hier alleine gehen. Wie soll er mir auch helfen von seinem breiten stabilen Weg aus. Er kann ja kaum zu mir rüber springen in die Schlucht, oder den Weg des Seils ändern. Es verläuft oft parallel zum normalen Weg, und oft frage ich mich, wieso ich alleine auf diesem Seil stehe, während alle anderen diesen Weg benutzen können. Ich weiß nicht mehr genau wie ich hergekommen bin. Aber irgendwann muss ich falsch abgebogen sein, ich muss gedacht haben ich könne diesen Weg gehen, muss dort etwas gesehen haben, das ich auf dem normalen Weg nicht vermutet habe. Oder bin ich schon immer hier? Der Weg der hinter mir liegt ist nur eine blasse Erinnerung. Ich gehe schon so lange geradeaus, dass ich nicht mehr sagen kann wie lange. Und ich weiß nicht, wie lange noch. 

Müdigkeit ist ein ständiger Begleiter.  Ich erinnere mich nicht mehr an einen Moment, in dem ich nicht müde war. Mein Gesicht scheint unnatürlich geschwollen, meine Augen versinken in ihren Höhlen. Ich habe Hunger, aber ich möchte nicht essen. Ich kann auch nicht essen. Mein Magen scheint sich gegen mich zu wenden. An manch einem Tag ist er schmerzhaft, so schmerzhaft gar, dass ich nicht weiter gehen kann. An anderen Tagen bereitet er mir Übelkeit, die sich so unangenehm in meinem Körper ausbreitet, dass allein der Gedanke an Nahrung mich Erbrechen lässt.

Ich bin wütend. Ich bin wütend, dass ich hier gehe, während andere einen breiten sonnigen Weg entlang laufen und ihn genießen können. Ich bin wütend auf mich, dass ich diesen Weg gewählt haben könnte,  aber auch wütend auf jeden, der nicht hier läuft. Ich bin so wütend, dass ich schreien möchte. Aber ich habe es nie getan. Ich habe nie geschrien. Ich bleibe stumm. Gehe stoisch weiter und weiter und nehme diesen Schrei immer weiter in mich auf, sodass es mir ab und an scheint er könne mich eines Tages von innen zerreißen. 

Oft habe ich den Eindruck, dass die Leute auf dem Parallelweg gar nicht sehen, was für einen Kraftakt ich hier vollziehe. Es scheint als würde mein Seil auf sie ebenso breit wirken, wie ihr eigener Weg oder aber sie wollen es nicht sehen. Es lässt sich auf jeden Fall kaum einer etwas anmerken. Der ein oder andere versucht gar mich zu begleiten oder mir die Hand zu reichen, aber ich wende mich stets ab, vor allen bei denen die nicht sehen, wie schmal mein Seil ist. Was soll ich auch sonst tun. Wenn er das Seil nicht sehen kann wird er es mir wohl kaum glauben, wenn ich ihm sage, ich stünde auf einem Seil. 

Gibt es überhaupt ein Ziel? 

Früher gab es Ziele und ich ging auf sie zu. Jahre lang teilweise, immer vor Augen wo ich hinlaufe. Sie waren Teil meines Weges, aber wenn ich ein Ziel erreicht hatte, war es zwar erfreulich, aber dann ging der Weg auch schon weiter und weiter.

Wenigstens muss ich mich nicht mehr entscheiden, wo lang ich gehe. Mein Weg geht nur geradeaus. 

Aber ist das nächste Ziel dann der Tod? Oder gibt es weitere Etappen die ich einfach nicht sehen kann. Lohnt es etwas anzustreben das ich gar nicht ersehne? Wohin soll ich gehen? Wird es je wieder eine Abzweigung geben? Eine Entscheidung? Eine Alternative zu diesem Seil? 

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