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Geschrieben am

Seit über einer Woche wütet nun schon der Schneesturm. Doch draußen ist es fast gemütlicher als im Zelt. Würde man Luc und Martin fragen, wann die drei sich entzweit haben, so würden sie auf den Tag verweisen, als sie beschlossen, Nicks Unterschenkel abzutrennen. Klar, sie brauchten etwas zu Essen und Nicks Beine waren sowieso so gut wie abgefroren, doch für Nick zeugte es von schlechtem Stil, dass die beiden die Sache mit so viel Pragmatismus angegangen sind. Jene haben wenig Verständnis für Nicks Empörung.

"Maître de cuisine, was gibt's eute zu essen?", fragt Luc mit französischem Akzent. Wie gewohnt antwortet Martin "Eisbein" und die beiden verfallen in Zeltlager-Lachen, während Nick grimmig dorthin schaut, was er vor ein paar Tagen noch als Fußende bezeichnet hätte. "Willst du denn für immer so sérieux sein?", will Luc von ihm wissen. "Es wäre alles nicht so weit gekommen, wenn wir den Aufstieg frühzeitig abgebrochen hätten, wie ich es gesagt hatte", entgegnet Nick wütend, woraufhin Martin seinen Kopf wieder ins Zelt hinein dreht: "Und dein Bein würde nicht so komisch schmecken, wenn du es früher zur Vergügung gestellt hättest." Er zieht das schwarz-bläuliche Bein aus dem Schnee hervor und hackt ein knapp bemessenes Stück Wadenfleisch mit dem Eispickel heraus.

Nick: Ihr widert mich an!
Martin: Musst ja nicht mitessen.
Nick: Euer Zynismus widert mich an.
Martin: Hey, wir haben unser aller Leben gerettet. Ein einfaches "Danke" wäre angebracht.
Nick: Du meinst ernsthaft, ich solle mich bei euch dafür bedanken, dass ihr mir das Bein abgehackt habt?
Martin: Oder bei dir selbst oder Gott oder wer auch immer dir einfällt.
Luc: Oder meinst du, wir machen das zum Spaß? Es ist nicht gerade Haute cuisine.
Nick: Es geht mir nicht darum, dass ich den Sinn nicht sähe. Aber ihr ward ja geradezu froh, dass mir das mit dem Bein passiert ist.
Martin: Dazu hatten wir auch allen Grund, du selbstgerechtes Arschloch! Irgendwann hätten wir eine solche Entscheidung treffen müssen und dann hätte es ein gesundes Bein getroffen.
Luc: Mir macht mehr Sorgen, wann endlich der Sturm endet. Lange wird das nicht mehr so gehen.
Nick: Wieso? Ich hab ja noch zwei Arme.
Luc: Ast du geört, Martin? Er opfert sich freiwillig.
Nick: Wir könnten ja auch mal zur Abwechslung französisch essen.
Martin: Gut jetzt! Essen ist fertig. Lasst es euch munden!

Martin teilt das angebratene Filet in drei gleichgroße Stücke und gibt jedem eins in die Hand. Ausdruckslos beißen die Bergsteiger in ihre Tagesration, kauen sich langsam durch das ungewürzte, wässrige Fleisch, schauen unter sich und schweigen.

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Geschrieben

hallo schmuddelkind,

 

das erinnert mich an eine horrorgeschichte über einen chirurgen, der auf einer felseninsel strandet und dem nichts weiter übrig bleibt, als sich stück für stück selbst zu filetieren, um nicht zu verhungern. brrr.

 

mir gefällt, wie du in dem text kompromisslos die sinnfrage von moral gegenüber zweck stellst, ohne dem leser eine ansicht aufzudrängen. denn wie sinnvoll ist es, auf das erfrorene beinfleisch des einen bergsteigers aus moralischen gründen zu verzichten (er hätte das bein so oder so verloren) und wie fragwürdig ist es gleichzeitig, menschenfleisch zu essen (noch dazu im beisein des menschen, von dem es stammt). und was wird sein, wenn die wetterlage anhält ...

 

tolle geschichte!

 

lg

sofakatze

  • Danke 1
Geschrieben

Vielen Dank für die vielen Reaktionen, sofakatze, Charles und Joshua!:smile:

 

Am 23.9.2020 um 20:42 schrieb sofakatze:

das erinnert mich an eine horrorgeschichte über einen chirurgen, der auf einer felseninsel strandet und dem nichts weiter übrig bleibt, als sich stück für stück selbst zu filetieren, um nicht zu verhungern. brrr.

Ich erinnere mich, davon gehört zu haben. Ist ja auch tatsächlich gar nicht so fiktiv. Die Regeln der Moral sind wohl eingebettet in einem zivilisatorischen Rahmen. Wenn dieser wegfällt und Hunger zur treibenden Kraft wird, sind Verstümmelung, Selbstverstümmelung und Kannibalismus nicht unvorstellbar.

 

Am 23.9.2020 um 20:42 schrieb sofakatze:

mir gefällt, wie du in dem text kompromisslos die sinnfrage von moral gegenüber zweck stellst, ohne dem leser eine ansicht aufzudrängen.

Dass du meinen Text vor diesem Hintergrund liest, ist sehr erhellend. Diese Frage kann man tatsächlich in fast jedem Satz stellen und somit ist man als Leser ständig dazu eingeladen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, seine moralischen Vorstellungen an den Grenzen zu prüfen. Daher war es mir natürlich auch wichtig, keine Antwort vorwegzunehmen.

 

Solche Geschichten lese ich nämlich selbst auch gerne, die mir viel zum Nachdenken über mich und meine eigene Meinung geben. Mir kommen da z.B. einige Folgen der Serie "Black Mirror" in den Sinn. Da werden oft Fragen aufgeworfen, die so unbequem sind, dass man sie sich normalerweise nicht stellt. Doch dann sehe ich mich unmittelbar damit konfrontiert und spüre die Grenzen meines ethischen Erkenntnisvermögens.

 

Am 23.9.2020 um 20:42 schrieb sofakatze:

denn wie sinnvoll ist es, auf das erfrorene beinfleisch des einen bergsteigers aus moralischen gründen zu verzichten (er hätte das bein so oder so verloren) und wie fragwürdig ist es gleichzeitig, menschenfleisch zu essen (noch dazu im beisein des menschen, von dem es stammt).

Ja, keine Option ist so richtig attraktiv. Es ist schwierig, das Richtige zu tun, wenn sich alles falsch anfühlt, egal was man tut. Letztendlich muss dann Moral wohl über das reine Gefühl hinauswachsen, ohne jemals gefühlskalt zu werden.

 

Am 23.9.2020 um 20:42 schrieb sofakatze:

und was wird sein, wenn die wetterlage anhält ...

Mehr Fleisch!:wink:

 

Am 23.9.2020 um 20:48 schrieb CharlesThomasWooldridge:

mich lässt es sehr an die Berichte von der Insel Nazinsky denken
bzw besser das Bein, als solch eine Entscheidung, wie Armin Meiwes sie getroffen hat

Ui, noch ein literarischer Vergleich!:scared:

Krass, in wie vielen Geschichten dieses Thema verarbeitet wurde. Allerdings sagt mir das jetzt nichts. Wie war denn da die Situation und welche Entscheidung hat er getroffen?

 

Am 23.9.2020 um 20:48 schrieb CharlesThomasWooldridge:

Mir hat es gefallen, aber ich denke ich habe eine Vorliebe für solche, im wahrsten Sinne des Wortes, Gruselgeschichten! 

Horrorgeschichten zwingen uns dazu, uns mit unseren Ängsten zu konfrontieren und das kann nur etwas Gutes sein. Und bringt eben auch ein interessantes Gefühl mit sich: Einerseits ist die Angst ja ein Gefühl, das sich nicht gut anfühlt; andererseits kann dieses Gefühl einen aber auch in seinen Bann ziehen, besonders wenn man rational weiß, dass einem nichts geschehen kann (weil es nur eine Geschichte ist).

 

Zwar ist meine Geschichte nicht wirklich eine Horrorgeschichte (leider bin ich viel zu schlecht darin, Horrorgeschichten zu schreiben), aber ein bisschen lädt es natürlich schon zum Gruseln ein und ich bin froh, dass du der Einladung mit Freude gefolgt bist.:smile:

 

Am 24.9.2020 um 00:30 schrieb Joshua Coan:

Genial gut!  

Zu Eisbein empfehle ich einen Brunello di montalcino capanna riserva. Es ist angerichtet! 

:rofl2:

Aber passt zu Eisbein nicht besser Weißwein (allein schon des Reimes wegen)? Ich esse aus Prinzip nur Speisen zusammen, die sich reimen:

Reis mit Eis

Schwein mit Wein

Nussecken mit Schnecken

Nudeln mit Pudeln

 

Danke für das Lob!:smile:

 

LG

Geschrieben (bearbeitet)
vor 2 Stunden schrieb Schmuddelkind:

 

Ui, noch ein literarischer Vergleich!:scared:

Krass, in wie vielen Geschichten dieses Thema verarbeitet wurde. Allerdings sagt mir das jetzt nichts. Wie war denn da die Situation und welche Entscheidung hat er getroffen?

 

Hallo Schmuddelkind, 

die Berichte über die Insel Nazinsky findest Du auf Youtube, auf dem Kanal Geographics: Es scheinen eher - grausige - Tatsachen Berichte aus der Zeit und von dem Ort zu sein! 
Armin Meiwes... war der Kannibale von Rotenburg: ich wage gar nicht zu schildern, was da wirklich so genau passierte! 
:) 
Die Geschichte vom Fuerza-Aérea-Uruguaya-Flug 571 kommt einem dabei auch in den Sinn... 

Gruseliges Thema, daß - in der Realität - öfter vorkam, als man denken mag... 

Und bei Deinen weiteren Ausführungen kann ich Dir nur recht geben und anmerken: ich bin ein begeisterter Horror-Filmfan und nur zu gerne bin ich Deiner Einladung da, hinein in das gruselige Territorium, gefolgt! 

Grüße 
C.T. 



 

Geschrieben
Am 1.10.2020 um 15:11 schrieb CharlesThomasWooldridge:

die Berichte über die Insel Nazinsky findest Du auf Youtube, auf dem Kanal Geographics: Es scheinen eher - grausige - Tatsachen Berichte aus der Zeit und von dem Ort zu sein! 

Da werde ich mal bei Gelegenheit reinschauen...

 

Am 1.10.2020 um 15:11 schrieb CharlesThomasWooldridge:

Armin Meiwes... war der Kannibale von Rotenburg: ich wage gar nicht zu schildern, was da wirklich so genau passierte! 

Ach ja, an den erinnere ich mich. Mir war nur sein Name nicht mehr geläufig. Wenn dort nicht gerade Menschen gegessen werden, sei aber Rothenburg ob der Tauber ein sehr hübscher Ort, hat man mir versichert. Da will ich auch mal irgendwann hin.

 

Am 1.10.2020 um 15:11 schrieb CharlesThomasWooldridge:

ich bin ein begeisterter Horror-Filmfan und nur zu gerne bin ich Deiner Einladung da, hinein in das gruselige Territorium, gefolgt! 

Ich mag zumindest die Idee von Horrorfilmen, aber es gibt so selten Filme, bei denen ich richtig starke Angst empfinde. Das mag daran liegen, dass meine innere Messlatte zu hoch ist, da ich einem Gefühl nachjage, das ich nicht mehr empfinden kann: Das Gefühl, als Kind etwas Gruseliges zu sehen und es mit den Augen und der Lebenserfahrung eines Kindes zu interpretieren. Ist irgendwie schade, dass diese Intensität nicht mehr erreicht werden kann. Dennoch gibt es einige gute Horrorfilme, die ich gerne gesehen habe.

 

LG

 

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