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Der See, den ich schon als kleiner Junge jeden Tag aufsuchte, lag an einem silbrigen Berg, der mein Heimatdorf an dessen Fuß auf der anderen Seite verbarg. Dorthin gab es zwei Wege: am liebsten ging ich über den Berg, von dessen Gipfel ich den Hang tief in das Gewässer hinabfallen sah. Etwas weiter bergabwärts entsprang ein Bächlein, dessen Lauf ich dann bis zu dem See hinab folgte. An besonders sonnigen Tagen oder wenn ich es gar nicht erwarten konnte, den ganzen Tag am See zu verbringen, ging ich im schattigen Kühl des Waldes, der den See gegenüber des Berghangs grün säumte, um den Berg herum.

Ich konnte oft Stunden mit dem Versuch zubringen, bis zu den Knien im erfrischenden Nass stehend, die Fische mit meinen bloßen Händen zu fangen. Doch selbst wenn mir eines der quirligen Fischlein zwischen die Finger geriet, entglitt es mir sogleich und rettete sich ins Wasser. Da tauchte ich vergebens hinterher und schlug schließlich schimpfend durch die Wasseroberfläche. Manchmal jedoch saß ich einfach nur eine Weile am Ufer und träumte, bis die Sonne dicht über den Baumkronen hinter mir stand und das weiche Schillern des Gewässers vor meinen Augen verschwamm. Meiner Mutter gefiel es indes ganz und gar nicht, dass ich den ganzen Tag mit Träumen und Spielen weit weg von ihrer beengten Welt vergeudete. Daher verbot sie mir, fortan diesen Ort alleine aufzusuchen. Die Tage verbrachte ich also rastlos und unzufrieden in dem kleinen Dorf. Doch in klaren Mondnächten zog es mich über den Berg zu dem See. Dort zerfiel die gesamte Bedeutungsschwere, gestern und morgen, in tausende funkelnde Sterne, die in dem schwarzen Waldesbecken obenauf schwammen.

Nach dem Tode meiner Mutter - ich war inzwischen zu einem Jüngling herangereift und noch so verspielt wie ein Kind und bereits so gescheit, dass ich wusste, was ich wollte - ging ich zu dem See und dachte bei mir: "Hier will ich bleiben!" Also blieb ich. Ich baute mir aus dem, was der Wald hergab eine kleine bescheidene Hütte und saß viel am Ufer, wo sich meine Träume inzwischen immer häufiger mit meinen Taten vermischten. Noch immer war es mir mein liebster Spaß, den Fischen nachzujagen und je näher ich den See kennenlernte, umso geschickter wurde ich und umso näher lernte ich mich selbst kennen, bis es mir eines Tages gelang, mit einem kräftigen Hieb ins Wasser, mein Gegenüber zum Springen zu bringen. Der Fisch, fast so lang, wie ich mit ausgebreiteten Armen anzeigen konnte, landete in meinen Händen, die ihn wie einen Säugling umfassten. Ich fühlte, wie sich der Stolz von meinem Herzen bis in meine Glieder ausbreitete und hielt ihn umso fester. Der Fisch aber drehte seinen Kopf zu mir, sah mir aufmerksam in die Augen, als sei es ihm sein letztes Anliegen, mich zu sehen, der ihn überlistete und ich wusste, dass ich ihn loslassen musste. Er drehte eine Runde um mich herum und ich ahnte, dass er seinen Dank damit ausdrückte, bevor er davon zog. Ich verabschiedete mich demütig von meinem Lehrer und stieg aus dem Wasser.

Als ich das nächste Mal in den See stieg, kam der Fisch angeschwommen und begrüßte mich. Zunächst verstand ich nur wenig von dem, was er mir mitteilen wollte, doch als ich mich auf ihn einzulassen begann, auf die mannigfaltigen Arten, wie er sich um mich wandt, wie er aus dem Wasser sprang, wie er mich ansah, wie er Wasser aufwirbelte, wie er auf mich zueilte oder von mir weg huschte, lernte ich mit jedem Treffen mehr und mehr seine Sprache, bis wir uns schließlich unterhielten wie die ältesten Freunde. Er erzählte mir viel vom Wasser und warum es den Fischen heilig sei, da es, sie umgebend und durchdringend, zugleich Heimat, Schöpfer und das Leben selbst sei. Er zeigte mir heilige Stätten am anderen Ufer, wo der Berg wie eine mächtige, begrünte Wand aus dem Seeboden ragte, an welcher die Fische zueinander fanden. Kein Kunstwerk, das Menschen sich erdenken könnten, reicht an die erfurchtgebietende Schönheit dieser wilden Kathedrale heran. Ich lernte viel von ihm und gab seiner Wissbegierde nur zögernd und wortkarg nach, da ich Vieles, was in meiner Welt so bedeutsam war, vergessen wollte und Manches wohl schon vergessen hatte. Auch bin ich, so verstand ich immer mehr, nicht als Lehrer gekommen, sondern als Schüler, der nach und nach in der Obhut des Sees zum Mann gereifte.

Der See war meine Heimat, denn er gab mir, was ich brauchte und lehrte mich Bescheidenheit und Ehrfurcht gegenüber den Gewalten derselben Natur, an deren Milde wir teilhaben. Hin und wieder verirrte sich ein Wanderer zu meiner Hütte. Die meisten grüßten mich und versuchten, ihre Verwunderung zu verbergen. Einmal wohnte ein junges Mädchen zufällig einem Gespräch zwischen mir und dem Fisch bei und fragte neugierig, was ich denn täte. "Ich rede mit meinem Freund, dem Fisch", entgegnete ich und streckte meine Arme aus, in die der Fisch sogleich sprang. Das Mädchen kam näher und fragte, ob es denn auch mit dem Fisch sprechen könne. "Versuch es!", lud ich die Kleine ein. "Lieber Fisch, wenn du reden kannst, dann kannst du vielleicht auch zaubern. Bitte hilf, dass mein Vater wieder Glitzersteine im Bergwerk findet. Sonst haben wir bald nichts mehr zu essen!" Danach kam nie wieder ein Mensch zu dem See.

Die Sprache der Fische ist viel klarer als die der Menschen, da sie ohne Worte auskommt. Ich kann daher nur sehr vage die Bedeutung und Weisheit wiedergeben, die aus den letzten Gedanken meines Freundes hervorging, als er zu mir kam, um seinen letzten Tag anzukündigen. Da nahm ich stillen Abschied und sah, wie meine Tränen gleich dem Fisch für immer im Wasser verschwanden. Darin selbst erkannte ich den Trost, den seine Lehre in mir weckte und ich bemühte mich, dem See besser zuzuhören. Bald bemerkte ich in der Art, wie er sich bewegte, wenn ich bis zur Hüfte im Gewässer stand, dass er mich etwa vor Stürmen warnte. Die Bewegungen der Fische kündeten von Regen, Sonnenschein oder dem nahen Winter. Ich sprach viel mit meinem Freund, dem Wasser, bis ich alles, was in der Welt von Bedeutung ist, aus den feinsten Regungen seiner Mimik ablesen konnte. Und als ich alles verstand wie einen eigenen Gedanken, merkte ich, wie mein Körper immer schwächer wurde, bis ich endlich, als der Sommerregen einsetzte, eine ganze Woche lang nur in meiner Hütte lag und auf den Tod wartete. Doch ich fürchtete mich nicht, da ich nicht einsam war.

Und als meine Zeit gekommen war, stand ich auf und wurde, indem ich in das Wasser ging, zu dem Wasser selbst. Und ich umfasste die ganze Welt und spürte ihren tiefsten Grund. Und ich trug die Seerosen in den Tümpeln und die Schiffe auf den Meeren zugleich. Die völlige Stille des Ozeans barg ich in mir, während ich die Kraft der Gezeiten wiedergab, mich an den schroffen Felsen der Küsten zu erschöpfen. Und ich tränkte die Pflanzen, Tiere und Menschen und verlieh ihrer dürstenden Trauer Ausdruck. Und ich rauschte durch die Gebirge, drängte mich durch das alte Gestein, ließ mich durch die Wälder treiben und ruhte in den Seen, worin ich die Sterne spiegelte. Und ich wohnte mir selbst inne, zerfiel in mir, zerstreute mich im Nebel der Welt und fand mich, herabprasselnd in mir selbst wieder. Und auf diese Weise atme ich bis zum heutigen Tage.

 

 

(Aus dem Fundus)

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