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Strahlungskälte


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-Strahlungskälte-


Wir fuhren von Los Angeles nach San Francisco, machten halt und spazierten auf dem Santa Monica Pier. Selbst für kalifornische Verhältnisse war es ein außergewöhnlich warmer Dezembertag. Das Autothermometer zeigte 80,6 Grad Fahrenheit, etwa 27 Grad Celsius. Begleitet von leiser Weihnachtsmusik aus Lautsprechern liefen wir durch die Sonne. Auf dem Weg an das Ende des Holzsteges passierten wir einen haushohen Tannenbaum, dessen Zweige kaum unter dem Schmuck aus Kugeln und Lichtern zu sehen waren. Wir gingen stumm nebeneinander über die dicken Holzbohlen. Die Sonne stand immer noch im Süden und rückte nur langsam nach Westen vor. Das grelle Licht reflektierte in den Kugeln die wie überreife Kirschen am Baum hingen und die zurückgeworfenen Strahlen stachen durch die schwarzen Gläser unserer Sonnenbrillen. Rechts von uns versuchten in einiger Ferne drei Surfer ihr Glück in den seichten Wellen. Links verschwand langsam erst das Riesenrad, dann die Achterbahn aus unserem Sichtfeld. Es roch nach Popcorn. Wir näherten uns dem Ende des Piers und damit dem offenen Meer. Das was mein Freund mir gerade erzählt hatte, hing zwischen uns wie abgestandene Luft ,die auf den erlösenden Windstoß wartete. Sonst machten wir den ganzen Tag Witze miteinander, verarschten uns und lachten über alles und jeden. Doch in diesem Augenblick war das unvorstellbar.
„Erinnerst du dich an die Sache in der Schule?“, hatte er mich im Auto gefragt. Ich nickte. „Ich hätte damals fast alles hingeschmissen, weißt du das?“
Ich schüttelte den Kopf, denn ich wusste es nicht.
Dann erzählte er mir seine Geschichte.

***
Es war ein warmer Tag im Juni. Mein Kumpel absolvierte gerade das letzte Praktikum das er für den Abschluss seiner Ausbildung als Rettungssanitäter benötigte. Die Sonne hatte schon morgens ihre schweißtreibende Kraft entfaltet. Ein Tag mitten in einer Hitzewelle, an dem man bereits morgens schwitzte, was sich kaum erklären ließ, da das Thermometer gerade den zweiten Zehner geknackt hatte. Sein Dienst begann um 8:00 Uhr. Er kam mit dem Rad wie jeden Tag.
In der gefliesten Umkleide warf er seine Klamotten in den Spind, zog die blaue Hose und das Schlupfhemd über und platzierte zwei Kugelschreiber in der Brusttasche.
Dann nahm er sich ein paar gelbe Crocks aus dem Regal und betrat die Schleuse.
Die Tage im OP waren fein strukturiert. Jeden Morgen um 8:15 Uhr gab es eine Tagesbesprechung, bestehend aus einem Rückblick auf den vergangenen und einen Ausblick auf den aktuellen Tag. Selten kam es vor, dass ein Patient im OP oder in der direkten Nachsorge verstarb. Trat der Fall dennoch ein, wurde dem Verstorbenen zu Beginn der Besprechung kurz gedacht. Sonst konzentrierten sich die Meetings auf alltäglich organisatorisches wie die Einteilung der Säle und allerhand Statistik rund um Hygiene und Qualität. Danach strömte das Personal durch den langen Gang in die links und rechts abgehenden Säle. Planbares wurde abgearbeitet - nicht planbares wurde dazwischen geschoben.
An diesem Tag im Juni klingelte um 8:23 Uhr, mitten in der Besprechung, das Notfalltelefon der Stationsleitung. Der diensthabende Leiter verließ den Raum, kam zurück und bat alle dazubleiben und auf weitere Anweisungen zu warten. Wie in der Schule, wenn der Lehrer das Klassenzimmer verlässt, entstand eine entspannte Unruhe. Private Gespräche wurden gestartet, Witze über den Verbleib des Leiters gemacht und ein Kollege schaltete den Fernseher ein, der in der Ecke an der Decke hing. Mit dem Aufflimmern der ersten Bilder auf N24, schien die Temperatur im Raum plötzlich rapide abzufallen. Und mit jedem Wort, das über den Ticker lief, wurde es kälter und kälter.

***

Ich selbst leistete vor einigen Jahren meinen Zivildienst im Krankenhaus auf der Intensivstation ab. Auch ich kam jeden Morgen mit dem Fahrrad. Vor allem auf dem Heimweg half mir die frische Luft dabei, zurück in die nicht sterile Welt zu finden. Vollkommen ohne Vorbereitung stolperte ich damals in meine Aufgabe. Zuerst war ich mir nicht sicher, wie ich aus all dem Elend, das sich vor mir auftat, unbeschadet herauskommen sollte. Doch schnell fand ich heraus, wie die Schutzwälle funktionierten, die meine Kollegen um sich herum errichtet hatten. Ich lernte, wie die absolute Reduzierung des menschlichen Daseins auf die körperliche Funktionsweise es einem erlaubte, mit technischer Neugier an anatomische Problemstellungen heranzugehen. Ohne Ekel, ohne Abscheu, mit Fingerspitzengefühl und ohne emotionale Betroffenheit. Für mich eine bewundernswerte Mischung. Für Menschen, die jeden Tag mit der Hilfsbedürftigkeit anderer konfrontiert werden, sicherlich eine gute Strategie, um nicht verrückt zu werden. Außerdem wurde der Krankenhausalltag durch eine sehr spezielle Art von Humor, in der Blut, Eiter und Urin eine große Rolle spielten, erträglich gemacht. Bei einem Einsatz im OP fanden die Kollegen es lustig, mir ein frisch am Oberschenkel amputiertes Bein in die Hand zu drücken, das ich in den Keller bringen sollte. Alle freuten sich über mein anfänglich verdutztes Gesicht und darüber, dass sich mich kalt erwischt hatten. Als ich mich wieder gefangen hatte, war es aber kein Problem mehr für mich. Ich war neugierig. Vor allem auf den Keller mit all seinen Geheimnissen. Leider hatte der Kollege, der mich begleitete, den Schlüssel vergessen. Also musste ich in den Katakomben warten. Der Versorgungsgang in dem ich stand war schmal und die Decke hing so tief, dass meine abstehenden Haare sie berührten. Das Bein steckte in einem blauen Plastiksack, den ich mit dem ausgestreckten rechten Arm über dem Boden hielt. Nach wenigen Minuten realisierte ich, dass meine Kraft nicht reichen würde, um das Bein bis zur Rückkehr des Kollegen in der Luft zu halten. Also begann ich darüber nachzudenken, ob es okay wäre, wenn ich dem Bein ein letztes Mal festen Boden unter der Fußsohle schenkte. Da meine Kraft ohnehin nicht ausgereicht hätte, betrachtete ich die Aktion als respektvolle letzte Ehre für ein altgedientes Körperteil. Ich hielt die Tüte am zugeknoteten Ende und balancierte den Fuß auf dem Steinboden aus, bis ich das Gefühl hatte, die Sohle fest auf dem Untergrund platziert zu haben. Es klappte. Als der Kollege zurück in den Keller kam, erläuterte ich ihm meinen Gedankengang. Er salutierte der blauen Tüte, lachte, klopfte mir auf die Schulter und sagte, dass ich nun wirklich im Krankenhaus angekommen sei. Dann betraten wir den gefliesten und gekühlten Raum. Es gab sogar ein kleines Kellerfenster. Ich fragte, wohin ich den Sack legen solle, denn ich konnte keine Ablagefläche entdecken. Mein Kollege meinte, ich solle es in die Ecke stellen. Ich schaute ihn verwundert an, doch es war kein Witz. Also stellte ich das Bein in die Ecke. Und da wir schon mal hier waren, schauten wir uns danach die Leichen im Nebenraum an.

***

Als der Stationsleiter zurück in den Aufenthaltsraum kam starrten alle auf den Fernseher und nahmen von seiner Rückkehr keine Notiz. Er war erleichtert, nicht alles von vorn erklären zu müssen. In einer knappen Ansprache bat er das gesamte Team, wie gewohnt ruhig und professionell zu bleiben. Auch wenn das, was ihnen bevorstand, nichts mehr mit ihrem Alltag zu tun haben würde.
Die Schule war inzwischen evakuiert, der Amokläufer tot, die überlebenden Opfer waren auf dem Weg in die umliegenden Krankenhäuser. Im Fernsehen zeigten Hubschrauberaufnahmen die unzähligen Kranken- und Leichenwagen, die das Schulgelände verließen. Das Krankenhaus, in dem er beschäftigt war, lag sehr nahe bei der Schule. Die Zeit für Vorbereitungen war knapp. Die Teams aus OP und Intensivstation wurden aufgrund ihrer Erfahrung in die Notaufnahme zur Unterstützung beordert. Alle geplanten Operationen wurden abgesagt. Die OP
Säle wurden geräumt und für Notoperationen vorbereitet. Mein Freund, der angehende Rettungssanitäter, wurde einer erfahrenen Chirurgin zugeteilt. Sie gab ihm den Auftrag, zurück zum Stationsleiter zu gehen und ihn zu bitten, die OP- Putzfrauen zunächst in die Notaufnahme zu verlegen, da sie starke Blutungen bei der Erstversorgung vermutete. Nachdem er den Auftrag ausgeführt hatte, schloss er auf und kam zu seiner Kollegin ins Freie auf die Rampe. Die ersten Fahrzeuge trafen bereits ein. Es waren nicht nur Rettungswagen. Verletzte kamen mit Polizeiautos, Privatfahrzeugen und Taxis an die Rampe gefahren. Viele hatten leichte Verletzungen oder litten unter Schockzuständen. Der Oberarzt der Notaufnahme koordinierte die Zweier-Teams und wies ihnen die Patienten zu. Ziel war es, die geringe Kapazität an gut ausgestatteten Behandlungsräumen für die wirklich schwer Verletzten frei zu halten. Im Hof wendete ein Krankenwagen und begann langsam rückwärts an die Rampe zu rollen. Der koordinierende Arzt klopfte meinem Freud auf die Schulter, zeigte auf den Wagen und sagte sanft: „Den nehmt ihr, bitte.“
Der Krankenwagen rollte in langsamem Tempo rückwärts und kam kurz vor der Kante zum Stehen. Für gewöhnlich wurde direkt nach dem Ziehen der Handbremse die Doppeltür am Heck von innen geöffnet, damit die Helfer schnellstmöglich die Liege aus dem Wagen holen konnten. Doch für einen langen Moment passierte nichts. Dann wurde die aufgestoßen und ein junger Mann kam um den Transporter gelaufen. Er nahm keine Notiz von den wartenden Helfern. Er sprang mit einem Satz auf die Rampe und öffnete langsam die Tür. Als die zwei Hälften einen Spalt auseinander gingen, floss zähflüssig ein Rinnsal aus Blut aus dem Inneren des Wagens. Der Boden war voll davon und die rote Flüssigkeit rann langsam über die Stoßstange, auf das Kennzeichen und tropfte von dort auf den Asphalt. Die Chirurgin und der angehende Sanitäter wollten einen Schritt auf den Wagen zu machen, doch der junge Mann gab ihnen ein Zeichen, kurz zu warten. Er öffnete die Tür ganz. Auf der Trage war nur ein mit Blut vollgesogenes weißes Laken zu sehen, das über einem reglosen Körper ausgebreitet war. Darunter schauten zwei rotverfärbte Nike Sneakers heraus, die vermutlich einmal weiß waren. Auf der Sole war die Schuhgröße in den Gummi gestanzt. Er las die Zahl 42. Daneben, auf dem Boden, saß eine Notärztin. Er kannte die Frau. Sie waren bei seiner Ausbildung schon oft gemeinsam unterwegs gewesen. Ihr Beine hatte sie angewinkelt, den Kopf gesenkt. Sie weinte. Der junge Mann ging in den mobilen Behandlungsraum und half ihr auf. Er stützte sie, indem er ihren Arm auf seine Schulter legte und die beiden gingen wortlos und mit gesenkten Köpfen an meinem Freund und der Chirurgin vorbei. Er schaute ihnen kurz nach, als ihm der Koordinator erneut auf die Schulter tippte. „Mach zu und fahr ihn auf den Hof, bitte. Wir haben keinen Platz. Danach nehmt ihr den nächsten großen Wagen der ankommt.“ Sein Tonfall war immer noch sanft und professionell. Fast schon beruhigend.
Es würde bald über 30 Grad haben und Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Als er aber in den Rettungstransporter stieg und den Motor startete, überkam ihn ein kalter Schauer. Er wusste, dass ein Teil dieser Kälte nie wieder aus ihm weichen würde. Und damit war er nicht allein.


***

Wir blieben kurz stehen, um eine Möwe zu fotografieren, die auf einem Rettungsring saß. Ein richtiges Postkartenmotiv. Daneben stand eine Bank. Wir setzten uns. Aus den Boxen klang leise „Driving home for christmas“. Der salzig fischige Geruch der offenen See hatte den Popcornduft abgelöst.
Wir kannten uns schon so lange, dass wir nicht aussprechen mussten, woran wir dachten. Wir schwiegen.
Wir schwiegen für alle Menschen, die direkt in der Eiskammer saßen und nicht wie wir nur im Schatten der Strahlungskälte standen. Wir dachten an die Familien, bei denen am Weihnachtsabend ein Stuhl frei blieb, an all diejenigen, die nicht mehr schlafen konnten, an alle, die daran zerbrochen waren. Und wir dachten an die Menschen mit den offenen Waffenschränken im Keller und an die, die nicht zuhörten und an alle, die einen Teil der Schuld für Tragödien wie diese auf ihren Schultern trugen, und doch zu ignorant waren, um es sich einzugestehen. Die Sonne brannte heiß auf unserer Haut.
Und in uns war es mal wieder ein Stück kälter geworden.

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