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Als Stig Barty an diesem Abend seinen Lieblingsclub, das „Roxy am Rudolfplatz“ betrat,  tat er dies nach einem sehr langen und intensiven Arbeitstag. Der Barkeeper, Salvatore,  reichte ihm den ersten Absinth des Abends und der erfahrene Staatsanwalt ließ die „fée verte“ auf der Zunge tanzen und leerte das Glas in einem Zug. Der starke Geschmack von Wermut, Anis und Fenchel erfüllte ihn und er schloss zufrieden die Augen, seufzte, lockerte die Krawatte und ließ die Fälle des heutigen Tages Revue passieren.

 

Als er die Augen wieder öffnete war Salvatore verschwunden und auf der anderen Seite der Bar begann ihm ein groß gewachsener Mann mit schneeweißen, glatten Haaren und bernsteinfarbenen Augen erneut einzuschenken. Die Haare waren aufwändig zu einem langen Zopf geflochten, der mit kostbaren silbernen Spangen gehalten und verziert war. Der Mann war glatt rasiert. Seine scharfen Gesichtszüge erinnerten an das Relief eines Adlers.

 

„Guten Abend Herr Staatsanwalt. Wie schön, Sie wieder hier begrüßen zu dürfen. Erlauben Sie ? Eine Fee aufs Haus..“.

 

Barty musterte den Mann und war wieder irritiert über die hohen, pechschwarzen Reiterstiefel, die er trug. Ganz besonders faszinierten ihn die bernsteinfarbenen Augen des Clubbesitzers. Er wußte nicht viel über diesen Mann. Nur, dass er vor noch nicht  all zu langer Zeit wie aus dem Nichts hier in der verschlafenen Kleinstadt Düsterbrook aufgetaucht war und das verlassene, ehemalige Kraftwerk am Rudolfplatz aufgekauft hatte. In den weiträumigen Gewölben betrieb er seitdem das „Roxy“, jene Discothek, die bald zu den angesagtesten Locations der Stadt gehörte und wegen ihrer Nähe zur Behörde, bei der Barty als pflichtbewußter Beamter seinen täglichen Dienst im Namen der Anklage verrichtete und wegen des unglaublich guten Absinths, auch zu Bartys Lieblingslocation avanciert war. In dem Ladengeschäft, das sich im gleichen Gebäudekomplex befand hatte dieser mysteriöse Mann zudem ein Tattoostudio eröffnet, das weit über die Grenzen der Kleinstadt hinaus Kundschaft anzog, gerade wegen der Kunstfertigkeit seines Eigentümers.

 

Barty nickte Caliban zu und nippte an dem Absinth. Der Mann faszinierte und verunsicherte ihn gleichermaßen. Er war nicht unsympathisch. Jedenfalls war er zu Barty nie unsympathisch gewesen. Er war streng genommen sogar sehr darauf bedacht, sich des Wohlwollens des Staatsanwaltes zu versichern. Aber das irritierte Barty nicht. So waren sie alle, sobald sie erfuhren, was er beruflich tat, geradewegs so, als sei er durch seinen Beruf ein besserer oder wichtigerer Mensch, was totaler Quatsch war. Barty liebte seinen Beruf, aber er schlüpfte in ihn wie in einen Arbeitsanzug. Und nach der Arbeit zog er ihn aus. Er war viel mehr als sein Beruf.

 

Calibans Aufmerksamkeit ihm gegenüber schien sich dann auch aus einer tieferen Quelle zu speisen. Barty hatte schon bei der ersten Begegnung zwischen ihnen  eine bedingungslose Form der Freundlichkeit gespürt,  die etwas mit einer noch unausgesprochenen Verbundenheit zu tun haben musste. Das war Barty nicht geheuer. Es irritierte ihn zutiefst. Er wollte zu diesem seltsamen Mann  keine Verbundenheit spüren und spürte sie dennoch.

 

„Ich muss Ihnen unbedingt von diesem Mädchen erzählen“, sagte Caliban und zeigte, als er lächelte, eine Reihe makelloser schöner, weißer Zähne: „das wird ihnen gefallen“. Barty nickte ihm zu: „Eine neue Geschichte ?“ fragte er, wohlwissend, dass Caliban ein vorzüglicher Geschichtenerzähler sein konnte, wenn er wollte. Er hatte so eine geheimnisvolle  Art, Menschen mit der Lebendigkeit seiner Geschichten und wie er sie vortrug in seinen Bann zu ziehen, die Barty abstoßend und bewundernswert gleichermaßen fand. Oft genug hatte er sich an einem langen  Abend in der Lounge des Clubs im Netz des Geschichtenerzählers verfangen und an jedem Wort seiner lebendigen Geschichten geklebt.

 

„Nun, es geht um ein Gedicht“, lachte der Clubbesitzer und stellte sich und seinem Gast ein Glas mit eiskaltem, frischen Gletscherwasser hin.

 

„Ich mag Gedichte. Ich habe einen recht breit gefächerten Lyrikgeschmack: Boccacio, Lord Byron, die Expressionisten Benn, wenngleich nicht unumstritten, Rilke natürlich! Bin ganz Ohr“, sagte Barty und ließ das eiskalte Wasser die Kehle hinunterfließen. Ich hoffe nur, ihr Gedicht enthält keine Klischees“. Er grinste.

 

„Wir sind alle Klischee, mein lieber Barty“ säuselte Caliban und dann rückte er näher an seinen Gast heran. Barty konnte jetzt das Aftershave des Mannes riechen und kräuselte die Nase: er roch erst sehr vertraut nach Zitrone, Ambra, Moschus, Bergamotte aber dann war da plötzlich etwas undefinierbares, leidenschaftlich fremdes: Der Geruch von verbrannten Blättern und Eisen war darin, ein Geruch wie der Geschmack von ganz scharf angebratenem, schlachtfrischem Roastbeef und frischem Menstruationsblut.

 

„Ich habe eine Dichterin bei den Hochhäusern entdeckt auf der Suche nach Tänzerinnen für meine neue Show, Sie saß ganz allein auf einer Bank mitten in einem verlassenen Park, der wie ein grüner Farbklecks zwischen der Hoffnungslosigkeit der riesigen Hochhausschluchten mir wie ein brutal ins Gesicht gezogenes Lächeln vorkam und mich damit auch an die Absurdität und urkomische Natur unserer eigenen, gelegentlich erzwungen lachhaften Existenz erinnerte. Dort sah ich sie: Nur sie,  mit einem einzigen Blatt auf dem Schoß, auf dem sie gerade ihr Gedicht beendet hatte. Sie sagte mir, sie schreibe seit Jahren nur an diesem einen Gedicht. Seit sie angefangen habe, es zu schreiben, habe sie, sobald sie es zu Papier gebracht habe, dieses Gefühl befallen, dass etwas nicht stimmig sei, nicht richtig sei und so schreibe sie das Gedicht immer wieder und wieder. Ich fragte sie, was genau sie damit meine und sie antwortete, sie habe jedes Mal, wenn sie es vollendet habe,  in die Stille gelauscht aber es sei niemals vollkommen still geworden. Immer habe sie noch das Rauschen ihres Blutes gehört, das Flüstern ihrer Gedanken.  Dann sagte sie: Aber sie haben Glück, gerade habe ich nach einem guten Jahrzehnt der Arbeit das letzte Wort niedergeschrieben und mit dem letzten Punkt, den ich gesetzt habe, war sie plötzlich da, für den Bruchteil einer Sekunde, die allumfassendste, heiligste und schönste Stille, die man sich jemals vorstellen kann. Da wusste ich, das Universum nimmt mein Gedicht an und nun übergebe ich ihnen diese Seite und werde nie wieder ein Wort in meinem Leben schreiben“.

 

Caliban lachte laut auf und kippte den Absinth in einem Schluck hinunter. Seine bernsteinfarbenen Augen leuchteten leidenschaftlich.

 

Barty zog die Augenbraue hoch und nahm einen Schluck: „Was für ein Zufall, dass das gerade passierte, als Sie zugegen waren“, murmelte er.

 

Calibans Blick richtete sich auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne und er wurde fast wehmütig, als er mehr zu sich selbst als zu Barty gewandt flüsterte: „Das Universum hat ihr Gedicht angenommen. Ist das nicht wunderschön ?“

 

Barty runzelte die Stirn: „Wie lautet denn das Gedicht, dass das Universum angenommen hat und an dem sie ihr ganzes literarisches Leben über geschrieben hat ?“

 

Caliban blickte immer noch versonnen in die Ferne, so als habe er Barty gar nicht wahrgenommen. Dann endlich seufzte er, als löse er sich aus einer unsichtbaren Trance, nahm das Blatt aus seiner Tasche und faltete es vor Barty auf.

 

„Das Gedichtet ist kurz“, sagte Caliban: „sehr kurz. Sie muss es im Zuge ihrer vielen Überarbeitungen auch immer weiter gekürzt haben.“

 

„Nun lesen sie schon“, sagte Barty

 

Caliban lächelte ihn an und begann zu lesen:

 

„Liebe.“

 

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