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The Big Brother


Hera Klit

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The Big Brother


Meine Mutter weiß schlichtweg nicht, wer ich bin. Ich kann mein wahres Ich vor ihr gut verbergen. Sie schöpft nicht den mindesten Verdacht, dass mit ihrem braven Sohn etwas nicht stimmen könnte. Vor jedem Schwurgericht würde sie aussagen, einen ordentlichen Durchschnittssohn zu haben. Ihr gegenüber habe ich meine Mimik und Gestik total im Griff. Nichts deutet für sie auf eine in ihren Augen Irregularität meines Wesens hin. Auch meine Gedanken kann ich, wenn ich mit ihr ins Gespräch komme, immer sauber kontrollieren, da rutscht nichts Unbedachtes durch, kein Geheimnis wird gelüftet. Mein Mund kann absolut über mein Anderssein schweigen. So schütze ich sie vor meiner Wahrheit, die für sie eine Unerträgliche und Zersetzende wäre. Kenne ich doch seit Jahrzehnten ihre unabänderliche Meinung und ihre Abneigung gegen solche Menschen, wie ich einer bin. Nie käme es mir in den Sinn, sie mit meiner Wahrheit über mich zu verletzen. Ich bin das, was man einen guten Sohn nennt. Mein Vater, der längst von uns gegangen ist, konnte dies auch im Glauben an die Gutgeratenheit seines Sohnes tun. Und in diesem Glauben starb er und gab der Mutter den Auftrag, das Vermögen einst an mich weiterzugeben, jedenfalls das, was noch übrig bliebe. Meine Frau hält viel von mir, obwohl ihr meine Korrektheit und saubere Durchschnittlichkeit und moralische Festigkeit manchmal sogar schon etwas unheimlich wird. Meine Kinder denken von mir nur das Beste und würden auf ihren guten Vater niemals etwas kommen lassen. Selbst mein Chef wird nicht müde, meine menschlichen Vorzüge hin und wieder als vorbildlich herauszustellen.

 

Ich mache also bei meinen Mitmenschen alles richtig. Keiner schöpft Verdacht und ich könnte dereinst beruhigt als Saubermann sterben, dem keiner einen bösen Nachruf zu widmen ehrlichen Herzens im Stande wäre. Aber ich habe ein Problem. Die Suchmaschine weiß zu viel über mich. Dieser Big Brother hat zu viele Informationen über mich gesammelt und gespeichert, die jederzeit abrufbar auf Datenträgern bereitliegen. Unlöschbar, unkorrigierbar und verwendbar für meine Zerstörung bis zum jüngsten Tag. Selbst wenn ich mir eines Tages vornehmen würde, mich zu ändern und meinem geheimen Verlangen abzuschwören, würden diese Daten erhalten bleiben, als ein Hieb und stichfester Beweis für meine schändliche Verlogenheit der ganzen Welt gegenüber. Aus innerer Schwäche und Getriebenheit gab ich manchmal nachts, wenn ich ganz alleine mich wähnte Suchbegriffe in die Suchmaschine ein, die meine sexuelle, meine politische und meine weltanschauliche Unangemessenheit in einer geradezu entlarvenden Direktheit preisgaben. Sooft ich mir vornahm, nicht mehr in das gesellschaftlich ungeduldete Verhalten und Denken zu verfallen, so oft passierte mir auch wieder ein Rückfall. Einmal war es meine sexuelle Gier nach dem Ungewöhnlichen oder ein andres Mal meine anarchistische politische Einstellung, die mich veranlasste, Suchanfragen abzusetzen, die an höchsten Stellen Bedenken auslösen müssen. Manchmal war ich so unvorsichtig und äußerte meine Meinung in einem Onlinebeitrag in einem Forum etwas zu scharf formuliert und wurde der Hassrede bezichtigt. All diese Vergehen und Auffälligkeiten sind registriert worden und wurden unlöschbar gespeichert. Jederzeit abrufbar, falls ein Zurückdrängen oder Unschädlichmachen meiner Person nach Meinung der zuständigen Ämter und der entscheidenden Personen angezeigt sein sollte. Womöglich wird es selbst für meine Enkel noch unmöglich werden, ein Staatsamt erlangen zu können. Aufgrund meines desaströsen Suchprofils wird die Suchmaschine bestimmt Meldung gemacht haben. Diese Auffälligkeiten und Unregelmäßigkeiten meines Charakters sind ihr auf keinen Fall verborgen geblieben.
Und wenn sie einmal stutzt, dann ist im Prinzip der Zug schon abgefahren.


Dann hat sie den Menschen durchschaut und weiß, von diesem Individuum kann nichts Gutes für die Gesellschaft kommen. Aber was wird sie tun? Wird sie tatenlos zuschauen oder wird sie Gegenmaßnahmen einleiten. Wird sie mir künftig Suchergebnisse zuspielen mit der erklärten Absicht, meinen Charakter zu bessern und mich auf den Pfad der Tugend zurückzuführen? Ich kann nur hoffen, dass sie so gnädig ist und mir hilft und mich nicht einfach fallen lässt.

Und wenn sie mich fallen lässt und mich vernichten will? Was dann? Angenommen, ich fühle mich krank und recherchiere auf eigene Faust in der Suchmaschine nach Lösungen für mein Leiden. Dann wäre es doch denkbar, dass sie mir Tipps gibt für in meinem Fall gesundheitsschädliche Medikamente, wenn sie beabsichtigt, mich aus den Reihen der User zu tilgen?

Ich könnte mich niemals dagegen wehren, zu verschlungen sind ihre Wege und Möglichkeiten auf mich einzuwirken. Ich muss der Suchmaschine einfach weiterhin vertrauen und versuchen künftig durch gesellschaftskonforme und moralisch vollkommen gefestigte Suchanfragen ihr Vertrauen in mich zurückzugewinnen.
 

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  • 10 Monate später...

Liebe Hera,

Erst jetzt habe ich diese beeindruckende Selbstanalyse von dir durch Zufall gefunden und finde deine selbstkritische Offenheit, aber auch deine tolle Schreibe einfach grandios. Was für eine Begabung!

Ich habe selbst mal für eine Zeit im Bereich der Sexualforschung gearbeitet und kann mich in deine Welt sehr gut eindenken, weil du ja nicht der einzige bist, dem es so ergeht.Dass unsere Gesellschaft mit abweichenden Verhaltensweisen entrüstet oder abwehrend umgeht, ist mehr der Unkenntnis und dem Selbstschutz als echter Bösartigkeit zuzuschreiben

Siegmund Freud würde sagen, dass in dem Kinder Ich (ES) eines jeden Menschen etwas Abartiges, Lustvolles, Frivoles vorhanden ist und phantasiert wird, das im Laufe der Erziehung durch die elterlichen Vorgaben und Normen überformt wird und sich im Überich als fester Widerstand oder Regulierung der kindlichen Wünsche manifestiert. Das Überich (Gewissen) ist sozusagen der Zerberus gegen das höllische Verlangen des ES , seiner Lust und seinen schrägen Vorstellungen nachzugeben. Sie werden als gesellschaftsschädlich angesehen , weil die Gesellschaft für das Zusammenleben halt eine Grundordnung und bestimmte Regeln braucht um sich vor "Sodom und Ghomorra" zu schützen, was , wie  viele Kriminalfälle zeigen, durch psychische Fehlentwicklungen ja auch zu schlimmen Taten führen kann.

Anna Freud würde das Verhalten der Gesellschaft als Abwehrmechanismus (Verkehrung ins Gegenteil) beschreiben, weil wir anderen austreiben wollen, was sich ganz geheim in unserm Inneren, allerdings durch das Überich einkaserniert, nach Ausleben und Erfüllung sehnt.

Beispiel:Wer selbst den Hang zum Nichtstun und zur Bequemlichkeit hat, wird mit Nachdruck seine Kinder zur Arbeit und zum fleissig Sein antreiben.

Dabei ist die Triebstärke, um auf das Ausgangsthema zurückzukommen,  von Mensch zu Mensch unterschiedlich, auf jeden Fall aber ererbt, damit die Menschheit als Rasse nicht untergehen kann. Sonst gäbe es uns,weil wir ja so gerne Krieg führen, wahrscheinlich nicht mehr. Das heißt aber auch ,dass der eine mehr darunter zu leiden hat als der andere.

Die sexuelle Gier und das Anarchische über das du klagst,sind sich ja sehr ähnlich, deshalb füttern sich deine verbalen Internet Äußerungen letztlich aus derselben Quelle. 

Solange du niemanden anderen direkt schädigst, (Mobbing) kannst du in Internet schreiben, was du willst, das sehen wir ja jeden Tag.Eine Totalüberwachung, wie in China gibt es in einer Demokratie nicht.

Sonstiges einvernehmliches, aktives Handeln zwischen Erwachsenen, selbst wenn es der Norm widerspricht  und niemandem zur Kenntnis gelangt und fremdes sittliches Empfinden verletzt, ist ja nicht strafbar.

Etwas ganz anderes wäre es , wenn du wie Jürgen Bartsch (sadistischer Kindermörder) oder die vielen Vergewaltiger zur Tat schreiten würdest, um Kindern oder Erwachsenen in welcher Form auch immer psychische oder körperliche Gewalt bis hin zum Tode anzutun.

Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass Big Brother über dich kommt, solange du deine Gedanken nicht in rechtswidrige Taten umsetzt. Deinem permanenten inneren Kampf entnehme ich, dass dein Überich (Gewissen)doch noch ganz gut funktioniert auch wenn das dich viel Kraft kostet.

Schade,dass du nicht in eine Familie hineingewachsen bist, in der man spätestens am Ende der Pubertät über das "Anders Sein" hätte sprechen können. Deine Frau,da bin ich sicher wird etwas ahnen,auch wenn sie aus Liebe mit dir nicht darüber sprechen wird. Jeder Mensch hat so seine Geheimnisse, die er, weil sie sein Selbstwertgefühl verletzen würden, mit niemanden anderen teilen wird.

Ich hoffe,dass dich meine Gedanken zu deinem Text etwas beruhigen können.

 

Liebe Grüsse

 

Tobuma

 

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