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Geschrieben am

Wer du damals warst

 

Sie trägt ein Kleid aus weißer Seide.

Ihr Haar fällt als goldener Wasserfall ihre Schultern hinab. Über ihrer rechten Augenbraue erblüht ganz plötzlich ein Gänseblümchen, das Erste in diesem Frühling. Es sprießen weitere Blumen in allen Farben, auch Rosen, rote, weiße, zart-rosa Rosen, sie legen ihre Blüten liebevoll zwischen die schimmernden Wellen. Er steckt sie ihr ins Haar, Blume für Blume.

 

„Weißt du, du siehst wunderschön aus. Als seist du der Frühling“, sage ich zu ihr.

 

Er fährt mit den Fingern durch ihr Haar und verweilt lauschend in den Spitzen, in denen noch das Licht des letzten Sommers hängt.

 

„Ich liebe dich“, flüstert sie ihm ins Ohr. Und sie meint es so.

 

Seine Augen sind noch immer grün wie die meinen, wie Moos, das in der Abendsonne schimmert.

 

„Ich vermisse dich“, sage ich ihr, und meine es so. In meiner Kehle beginnt der Schmerz leise zu brennen.

 

Er küsst sie.

 

Er hat noch immer diese Locken, die ihn wie einen Engel aussehen lassen.

Für mich war er immer ein Engel.

 

Sie kann so elfenzart und hingebungsvoll küssen, genau wie er. Ich wünschte, ich könnte so küssen.

 

„Ist das dein Hochzeitskleid?“

 

Sie lachen, sie singen; und die Vögel tragen die Melodie fort, weit über die Dächer der Stadt.

 

„Sag, was bin ich dir?“

 

Er nimmt ihre Hände. Sieht ihr in die Augen. In die tiefblauen Augen. Er taucht ein in die Ozeane aus kristallklaren Wassern, schwimmt in einem Meer aus glitzernden Diamanten.

 

„Warum sprichst du nicht mit mir?

Sag doch, was bin ich dir?“

 

Sie dreht ganz leicht den Kopf, sagt: „Na, du bist meine Schwester“

 

Ihre Worte wiegen beinahe nichts, der Wind trägt sie auf der Stelle fort, und bald schon wird sie sie vergessen.

 

„Na, du bist meine Schwester, was willst du?“

 

Aber sie sieht mich nicht an, als sie spricht. Sie sieht über mich hinweg, und ich weiß gar nicht, wie sie es macht, denn ich bin größer als sie. Ihr Blick bleibt kurz in der Luft stehen und verliert sich dann in der Ferne, zwischen den Wolken am Horizont vielleicht, oder auf der großen Uhr des Rathauses.

 

Er nimmt ihre Hände. So, als wollte er sie zum Tanz bitten.

 

„Geh mit mir zurück“

 

Sie lächelt, und er lacht zurück. Wie sehr ich sein Lachen liebe…

 

„Wir setzen uns an dein Klavier“

 

Sie beginnen zu tanzen. Einen Tanz, den ich nicht kenne, ich habe ihn nie mit ihm getanzt.

 

Ich will sprechen, schweige. Der Schmerz in meiner Kehle lodert.

 

Barfuß schweben sie über das Kopfsteinpflaster, er hält sie in seinen weichen Armen.

 

„Ich bin dir nicht böse“. Ein Regentropfen läuft einsam meine Wange hinunter.

 

Er hebt sie in die Luft, und sie breitet die Arme aus, fliegt - aber nicht davon, sie bleibt immer bei ihm.

 

Matte Flüsse funkeln auf meinen Wangen.

„Verzeih mir, ich bitte dich“

 

Sie tanzen immer schneller, immer wilder, die Vögel fliegen auf und die Katzen machen ihnen Platz. Ein Mann beginnt, Geige zu spielen.

 

„Ich kann doch für euch spielen“. Meine Stimme bricht; die Ströme machen mir die Wangen wund.

 

Der Mann spielt, lacht, und sie tanzen langsam von mir weg.

 

„Ich verspreche dir, ich will wissen wer du bist!“

 

Sie tanzen immer weiter weg von mir, ich höre ihr Lachen noch. Der Geiger geht mit ihnen.

 

Ich müsste lauter sprechen, damit sie mich hört, aber meine Stimme ist zu schwach.

„Und ich verspreche dir, ich will wissen wer du damals warst“

 

Ich kann sie nicht mehr sehen, sie ist in eine andere Straße getanzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Geschrieben

Hi Hase

 

habe ich es richtig verstanden dass der gelockte Jüngling erst mit dem LI dann mit dessen Schwester zusammen war und sich ultimativ (einstweilen) für Die größere der beiden Schwestern entschieden hat, Während die körperlich kleinere einerseits will dass ihre Schwester glücklich ist, andererseits fürchterlich traurig, dass der gelockte grünäugige Jüngling nicht sie (die grünäugige!) auserwählt hat ? 
 

Wirkt auf mich wie aus einem Märchen. Schön und zart geschrieben. faulkner hat mal sinngemäß gesagt Es gibt Nichts über dass es sich zu schreiben lohnt als das menschliche Herz im Konflikt mit sich selbst. Der Konflikt kommt gut heraus. 
 

mes compliments

Dio 

  • Danke 1

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