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„Ich bin hier!“ hört man es rufen. Es schallt durch die gesamte Welt. „Ich bin hier!“ ruft ein anderer lauter. Es sind die Stimmen von Hunderten, Tausenden und noch mehr. Alles ist laut. Man schenkt allem und nichts seine Aufmerksamkeit. Hört man eine Stimme, ist eine andere lauter. Sieht man ein Bild, ist ein anderes bunter. In diesem Meer der tausend Stimmen zählt keine einzige. Jeder leistet, so gut er kann, seinen Beitrag. Aber das genügt nicht. Wer nicht außergewöhnlich ist, existiert nicht. Nur das Besondere sticht hervor. Und so ist die Welt nun voll dieser stumpfen und spitzen Nadeln. Jede geifert nach dem Blut der Passanten. Jede möchte hervorstechen, um tiefere Eindrücke zu hinterlassen. Nun sind diese Passanten aber mittlerweile ausgeblutet. Hunderte Nadeln haben sie gestochen und sie gaben, was sie konnten. Manche besorgten sich festere Schuhe, manche dickere Socken, manche blieben zu Hause, nur um ohne Schmerzen und mit ein wenig Wärme durch das Leben zu kommen. Manche verloren das Gefühl, legten sich eine dickere Haut zu und so berührt sie kaum etwas mehr.

Es ist keine lebenswerte Welt. Man möchte es warm und sicher. Man möchte Nadeln höchstens beim Arzt bekommen. Es kann niemandem immer besser gehen. Es genügt, wenn es einem gut geht. Ein Feuer, an dem man sich wärmen kann, ohne dass die Welt in Flammen steht. Ein nettes Wort in den Ohren und auf der Zunge ohne gleich fanatisch undurchdachte Glaubenssysteme zu erbauen und aufzudrücken. Von sich erzählen zu dürfen, ohne dass geurteilt und bewertet wird. Wir könnten die Welt Stück für Stück besser machen, uns an Erfolgen erfreuen und weitermachen. Oder wir optimieren sie gleich, freuen uns an nichts, was nicht den Himmel berührt und geben auf, weil sich nichts Gutes einstellt. Egal, wie lang ein Weg ist, er besteht immer aus einzelnen Schritten. Also hört auf zu rufen – nur einen Moment – dass ihr hier und besonders seid. Beides ist schon der Fall. Wer nur ruft, wird niemals Wege gehen und Spuren hinterlassen.

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Oh wäre ich nur so jung wie du liebe MHz! 

Wäre ich nur halb so klug gewesen als ich in deinem Alter war! 

Deinr Worten gehen unter die Haut.

Ich lese momentan viel von Byung-Chul Han, er behandelt auch dein Thema. 

Dieser Profilierungswahn, dieses immer mehr leisten müssen, in Selbstausbeutung.

Eben habe ich deinen Text nochmals gelesen, um etwas davon zu zitieren: Ich könnte jeden Satz als etwas Besonderes zitieren. 

Liebe Grüße 

Carlos

  • in Love 1
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Hallo MHz,

 

bei mir hat deine spitze Nadel genau ins Schwarze getroffen. Ist es denn verwunderlich, wenn Menschen sich so selbstzerstörerisch verhalten? Dass nur Leistung zählt, wird uns ja spätestens in der Schule eingeimpft (mit Nadel natürlich). Und so lechzen wir alle nach Anerkennung und haben verlernt, uns selbst zu lieben.

 

Aber es gibt auch Menschen, die durch Nadeln von falschen Predigern eine Gehirnwäsche unterzogen bekommen und Verschwörungstheorien hinterherlaufen. Ist das nicht noch bedenklicher?

 

LG

Hugin

  • in Love 1
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Liebe Melanie,

 

Ich beobachte dieses Rufen und verorten im Augenblick des Hier und Jetzt nicht nur als den egoischen Ruf nach Geltung und Ruhm, nicht nur nach Beachtung und in der Gier nach Lob und Wertschätzung. Sondern als ein tiefer Ruf nach sich selbst, der grundlegend ist und nicht vermieden werden kann. Die Tugend der Bescheidenheit oder Demut muss sich erst entwickeln, wo noch kein Ich ist kann kein Selbst werden. Natürlich gibt es Schattenseiten, aber das Licht des Rufes nach sich selbst darf nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden.

Herzlich,

Thomkrates

  • in Love 1
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Danke für die Worte @Carlos @Hugin , es freut mich, dass der Text etwas auslöst und er verstanden wird.

@ThomkratesIch sehe im Rufen auch ein tiefmenschliches Bedürfnis. Das Rufen wirkt auf mich wie eine Reaktion auf das eigene Verlorensein, wie ein Kitten von Leere, aber nicht auf eine nachhaltige Weise und so muss es ständig wiederholt werden, um nicht in dieser Leere zu versinken.

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