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Während die anderen wie erstarrt in ihren Sitzen festklebten wußte ich, der schon viele Kneipengänge aus dem berüchtigten Köln-Kalk zur tiefsten Nachtzeit mitten in die City überlebt hatte, dass man niemals, aber wirklich niemals in das Auto eines Entführers einsteigen durfte. Man musste seine Chance, die einzige Chance die man überhaupt hatte, nutzen. Wenn man einmal auf den Rücksitz eingestiegen war, auf den Rücksitz, wo es keine Türen mehr gab, auf den Rücksitz wo die Türen verschlossen worden waren, auf den Rücksitz, wo die Fenster aus Blei waren, die Türgriffe aus Knete, war man verloren. Dann läuft es immer nach demselben Schema: Ted Bundy, Edmund Kemper, John Wayne Gacie: Erst vergewaltigen sie dich, dann töten sie dich ! Oder sie fressen dich gleich bei lebendigem Leibe auf: Jeffrey Dahmer!

 

Wie ein junger Panther sprang ich aus dem großen Sessel, der kußmundroten Lippen nachempfunden worden war, auf, in einer Eleganz, die es geradewegs so aussehen ließ, als habe eben dieser überdimensionale Mund ganz lässig bloß einen Kirschkern ausgespuckt und dabei „Love me Tender“ gesungen, also mit einer derartigen Grazie, als sei hier nicht ein drittklassiger Aktfotograf in einer im Schritt deutlich zu engen, pechschwarzen Slimfit-Jeans aufgesprungen -die dabei bedenklich gespannt worden war- sondern ein leibhaftiger Spiderman einem Marvel-Comic entstiegen!

Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass die Geiselnehmer offensichtlich nicht damit gerechnet hatten, auf Gegenwehr zu stoßen. Helmut Kohl 1 und Helmut Kohl 2 sprangen nervös etwas nach vorne und Helmut Kohl 3, der auch den Tischtennisball im Mund zu haben schien, versuchte mir auszuweichen, indem er in die Knie ging und die Waffe bedrohlich in meine Richtung schwenkte. Dabei wuchtete er seinen gigantischen, fetten Körper, der in einem lächerlich engen Blaumann steckte,  in einer beeindruckenden Halbdrehung um den vor ihm stehenden Eileen-Grey-Tisch und gab einen Laut von sich, der an das Husten eines Nilpferdes erinnerte.

Mit Nilpferden hatte ich als Kind schlechte Erfahrungen gemacht, weswegen mich der Schrei für einen kurzen Moment aus der Konzentration riß und bewirkte, dass ich -entgegen meines vorherigen Planes -den mitten im Raum stehenden stark gepolsterten Sybian der Influencerin als Sprungkraftverstärker zu nutzen, was ich besser getan hätte- auf den roten Teppich daneben auswich, welcher bedauerlicherweise nicht mit einem Teppichstopper untersetzt war, was nun dazu führte dass ich ins Trudeln geriet und meinen Karatesprung nicht vollenden konnte. Statt dessen krachte ich geradewegs in Helmut Kohl 1, riß diesen mit mir um und  landete sodann so heftig auf dem Rücken, daß mir der Atem versagte  und mein Bewusstsein erlosch.

 

Ich kam zu mir auf der Couch liegend, auf der mir die Influencerin eben noch gegenüber gesessen hatte, allerdings nun mit Seidenschals an Händen und Füßen gefesselt. Beim Anblick der Schals musste ich seufzen, weil ich unweigerlich an meine Romanze mit der wunderbaren Seidenschalbändigerin Zeynep K. Aus Köln Bayenthal denken musste .. und all die schönen Fotos! Doch dies ist eine andere Geschichte und muss ein anderes Mal erzählt werden.

 

Die Anwesenheit gleich dreier Helmut Kohls, von denen einer zwar nicht bis an die Zähne, aber immerhin mal grundsätzlich bewaffnet war,  riß mich schnell wieder zurück in die bedrohliche Gegenwart. Neben mir saßen die ebenfalls gefesselte Daphne und ihr Diener Louis. Daphne diskutierte ziemlich wütend und aufgebracht mit Helmut Kohl 3, den man immer noch nicht verstehen konnte. Zwischenzeitlich war Helmut Kohl 1 offensichtlich aufgewacht und ich staunte nicht schlecht, als ich ein junges Mädchen erblickte, das eine zerrissene Helmut Kohl Maske in Händen hielt. Die kleine hatte raspelkurze, weißblonde Haare, einen fetten Nasenring und ziemlich viele Tattoos.

 

„Ich versteh kein Wort du Fettsack“, hörte ich Daphne schreien: „Nimm die verdammte Maske ab du fette Sau, sonst versteht Dich doch keiner!“

 

„Ey, kein Body-Shaming!“ protestierte die demaskierte Helmut Kohl 1, wurde aber von einer sichtlich wütenden Daphne niedergebrüllt. Louis hatte sich sitzend in sich selbst zusammengerollt und winselte ängstlich vor sich hin.

 

„Essssch chippt cheinen Chrunt für Beleichichunchen!“ Tönte es aus Helmut Kohl 3 heraus, der nun hektisch mit den Händen über seinem dicken Bauch gestikulierte. Dabei kam ihm immer wieder der viel zu kleine Blaumann in den Weg.

 

„Alter“ brüllte die Influencerin: „Alter merkst du was ? Man versteht kein Wort! Außerdem hat die Betty da gar keine Maske mehr auf! Wir können euch auch so identifizieren. Wenn Du was willst, nimm die scheiß Maske ab und rede normal mit uns. Man kann doch über alles sprechen, aber verständlich sprechen sollte man schon!“

 

„Ey ich heiß nicht Betty, klar Tussi“, schnauzte Helmut Kohl 1 und erhob drohend die flache Hand. Nun meldete sich Helmut Kohl 2 mit einer überraschend leisen, fast schon sanften Stimme und sagte: „Sie hat Recht. Maja hat doch eh schon ihre Maske runter. Mir ist auch total heiß unter dem Ding und dich versteht man leider wirklich nicht Reini.“

 

„Man Dede du sollst doch unsere Namen nicht nennen, bist du total verrückt ? Jetzt wissen die doch wie wir heißen!“, schnauzte der als Maja enttarnte, volltätowierte Helmut Kohl 1 .

 

Nachdem Helmut Kohl 3 völlig unverständlich grunzend und gestikulierend versucht hatte, hier für Ordnung zu sorgen und das offensichtlich so gar nicht funktionierte, riß er sich endlich die Maske vom Kopf und zum Vorschein kam ein munteres, sehr pralles aber nicht unfreundliches rosafarbenes Gesicht, das sich wie ein selbstaufblasbares Gummiboot entfaltete und dabei sichtlich entspannte. Helmut Kohl 3 musste furchtbare Qualen unter der Maske ausgehalten haben. Und dann passierte es tatsächlich: Helmut Kohl 3 spuckte einen Tischtennisball aus !

 

„Heilige Scheiße!“ Entfuhr es mir schlagartig: „Ein Tischtennisball! Ich wußte es! Ich wußte es von Anfang an! Ein gottverdammter Tischtennisball“ Anerkennend nickte ich mit dem Kopf, verzog aber sofort vor Schmerzen wieder das Gesicht, weil mir der ganze Rücken weh tat. Ich war beeindruckt.

Dieser Mann hatte offensichtlich über Stunden einen Tischtennisball in seinem Mund jongliert, während er sein viel zu massiges Gesicht in eine viel zu enge  Helmut Kohl Maske gequetscht hatte und dabei noch rege zu sprechen, bzw. Laute auszustoßen,  begonnen hatte! Das war eine nicht zu unterschätzende Alltagsleistung, die unter anderen Umständen mich dazu bewogen hätte, dem Subjekt der Bewunderung ein paar Kölsch in meiner Lieblingskneipe dem Leuchtturm im Veedel einzuflößen. Nun waren die Umstände allerdings andere, so dass ich ihn nur grimmig mustern konnte. Ich versuchte sogar kurzzeitig, den „Blick des Todes“ auf ihn anzuwenden, konnte mich aber nicht hinreichend konzentrieren, um ihn wirklich damit zu erledigen, was letztlich sein Glück gewesen war.

 

Nun begann Helmut Kohl 3 zu sprechen: „Guuut, dass ist jetzt etwas blöd gelaufen… Einmal von Dir Dede dass Du unsere Namen gesagt hast,  aber auch von dir Maja weil du deine Maske verloren hast“

 

„Spinnst du jetzt total Reini ? Ich hab die Maske nicht verloren. Der Wichser da..“ und dabei zeigte sie mit ihren schwarz lackierten Nägeln, von denen der Lack schon absplitterte, zitternd auf mich: „der hat mich einfach umgeknallt. Ey ich bin voll hingeknallt! Voll auf den Rücken so. Fuck.. mir tut alles weh verdammt!!“ schrie sie empört und konnte gerade noch eine Träne verdrücken.

 

Der so angesprochene Helmut Kohl 3, der offenbar auf den sehr treffenden Namen Reini zu hören schien, zuckte mit den massiven Schultern und fuchtelte unbeholfen mit der Waffe in der Luft herum: „Herrje. Das ist jetzt alles ziemlich blöd gelaufen“ wiederholte er sich und grabschte in seiner Tasche herum, grabbelte schnaufend eine Brille hervor, die er sich stöhnend und schwer atmend auf die Nase schob. Dann wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht und räusperte sich: „Nungut hilft ja nun auch nichts mehr. Wir“ und dabei zeigte er mit der Waffe auf Helmut Kohl 1 und 2 und schließlich auf sich selbst: „..wir sind Thirsty for Fridays!“

 

Nachdem er das gesagt hatte, machte er eine künstliche Pause und grinste stolz und groß über die rosigen Bäckchen, offenbar um abzuwarten, welchen epischen Einschlagskrater diese Worte bei seinen Gefangenen hinterlassen würden. Louis war mittlerweile dazu übergangen wie ein Baby in Embriostellung auf der Couch hin und herzuschaukeln, während Daphne mich mit einem Blick ansah, den ich später unbedingt in einem Foto verewigen wollte: „Durstig nach Freitagen ?“ fragte ich ungläubig und konnte trotz der durchaus nicht ungefährlichen Umstände -immerhin hatte der als Helmut Kohl 3 getarnte Reini immer noch eine Waffe in der Hand- kaum ein Lachen unterdrücken.

 

Helmut Kohl 3 schien enttäuscht, fast beleidigt, dass wir nicht ehrfürchtig die Augen aufrissen bei dem mehr als lächerlichen Namen „Thirsty for Fridays“ und sah sich offenbar genötigt, näher zu erläutern: „Ja, wir sind durstig nach Freitagen.. Also das ist so ein Metapher-Ding.. Also wir sind eben durstig danach, dass die Leute auf die Straße gehen für ihre Rechte und für die Rechte ihrer Kinder auf eine intakte Umwelt auf die Straße gehen: an Freitagen eben… aber auch an Feiertagen oder auch an Arbeitstagen, also an sonstigen Arbeitstagen außer Freitagen! Wir wollen damit unser totales commitment mit Fridays for future ausdrücken und sind total besorgt wegen des Klimawandels!“

 

„Ja und wegen der ganzen anderen Sachen, Scheiße mann, wegen der ganzen anderen Scheiß Sachen halt auch mann, fuck, fuck !!“ raunte die tätowierte Kleine und Helmut Kohl 2 ergänzte mit seiner zarten, fast gehauchten Stimme: „Ja genau.. Mann, genau!!“.

 

Plötzlich begann das Sofa unwirklich zu vibrieren und ich dachte schon, Daphne hätte auf irgend eine magische Weise ihren gigantischen Sybian unter uns gewuchtet und würde nun -grausam Rache nehmend- mit dem kussmundroten Sofa aus dem der Gott der Sybians hämmernd, vibrierend und trommelnd aufsteigen würde alle Helmut Kohls zur Besinnungslosigkeit penetrieren, als ein fürchterlicher Schreckenschrei, von Daphne und Helmut Kohl 2 gleichzeitig entäußert,  mich alle Schmerzen überwinden und mich aus dem Liegen hochstoßen ließ, um an Daphne vorbei zu schauen, wohin beide nämlich schreiend blickten.

Und da sah ich das ganze Drama: Louis, der treue Diener der Influencerin, der devote Louis, war offensichtlich ob der für ihn traumatisierenden Umstände in eine derartige Erregung verfallen, dass diese nun in einer Art Anfall geendet war. Zuckend und Schaum spuckend wälzte er sich mit aufgerissenen Augen auf dem Sofa hin und her und drohte wahlweise zu ersticken oder sich das Genick zu brechen.

 

„Macht ihn los! Verdammt - er stirbt!“ Schrie Daphne und augenblicklich sprangen alle drei Helmut Kohls auf und waren sofort bei dem Diener. Hektisch fuchtelten sie an den Seidenbändern herum, schienen diese aber nicht aufgeknotet zu bekommen, einerseits, weil Louis keinerlei Anstalten machte, seinen krampfenden Körper still zu halten, andererseits weil irgend einer der Helmut Kohls die Seidenschals so festgezogen hatte, dass sie mit normaler Technik nicht mehr loszumachen waren.

 

„Scheiße, ich krieg die Dinger nicht auf“ schrie ein sichtlich verzweifelter Helmut Kohl 2 und strich dem krampfenden und spuckenden Louis zitternd mit der Hand über den Kopf, weil es die einzige Geste menschlicher Nähe war, die ihm einfiel und Helmut Kohl 1 und 3 zerrten wie Verrückte an den Schals.

 

Meinen Umgang mit Seidenschals hatte ich von Zenyep gelernt, die ihrerseits diese Kunstfertigkeit von ihrem jüdischen Kindermädchen erlernt hatte. Wenn einer in der Lage wäre, diese Höllenknoten zu öffnen, dann ich, doch es gab ein Problem: Ich selber war ebenfalls derartig gefesselt worden!

Also nahm ich all meine Fingerfertigkeit zusammen und begann ein interdimensionales Bild des Knoten, mit dem meine Hände auf meinem Rücken fixiert worden waren, vor meinem dritten geistigen Auge entstehen zu lassen. Hierbei wiederum kam mir meine Beziehung mit einer japanischen Künstlerin namens Midori zu Gute, bei der ich den richtigen Umgang mit Fingern und Zunge einstmals erlernt hatte. Ich hatte sozusagen bei ihr den Waffenschein für diese unscheinbaren Werkzeuge tiefster Befriedigung machen dürfen, inklusive verschiedener Intensivworkshops bei denen wir Stellungen aus dem Kamasutra für Hand und Zunge abwandelten und neu interpretierten.

Die Krönung fand unsere Beziehung in einer öffentlichen Ausstellung, die bedauerlicherweise auch das Ende derselben einläutete.  Es war nämlich diese Ausstellung gewesen bei der Midori ihren zukünftigen Ehemann Ralf kennengelernt hatte. Ralf war mit zwei Zungen und je sechs Fingern an jeder Hand geboren worden, was ihn auf der Schule und in der Schrauberbude, wo er gelernt hatte zu einem Freak,  im künstlerischen Terrain von Midori allerdings zu so einer Art Halbgott  gemacht hatte, dem ich nicht würdig war die Schuhe zu binden. Kurze Zeit später nannte er sich nur noch „Han-Zun“ und machte eine Karriere in der Tantraszene, wo ich den Kontakt zu ihnen dann auch ganz verlor. Bedauerlicherweise konnte ich meine Vermutung, dass „Han-Zun“ nichts weiter als eine profane, ja man möchte sagen, geradewegs einfallslose  Abkürzung für „Hand-Zungen-Guru“ war daher nicht verifizieren.

 

Die Zeit drängte offensichtlich. Louis gab mittlerweile Geräusche von sich, wie sie kein Mensch entäußern können sollte. Was auch immer mit dem armen Kerl nicht stimmte, es stimmte offensichtlich in erheblichem Ausmaß nicht mehr und der arme drohte jeden Moment an seinem eigenen Schaum oder seiner eigenen Zunge zu ersticken. Gerade jetzt, wo um mich herum alle in Chaos und Wahnsinn zu verfallen schienen, mahnte ich mich dazu, ruhig zu werden und meinen inneren Jedi-Ritter zu kanalisieren. Ich atmete drei Mal ruhig ein und aus und dann begannen meine Finger ihren so gerühmten Zauber zu vollführen, wurden fast selbständig und meine Zunge begann, obwohl sie eigentlich gar nichts zu tun hatte, fast schon instinktiv aus meinem Mund heraus- und in der Gegend herumzuwandern, in der Luft herumzutanzen wie ein junger Flaschengeist, der zum ersten Mal drei Wünsche erfüllen durfte. Der erste Wunsch war meine Fesseln zu lösen, der zweite Louis Fesseln zu lösen und den dritten Wunsch wollte ich mir noch etwas aufheben. Ich war mir sicher, dass es noch schlimmer kommen würde. 

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