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Immer, wenn ich einem Klugheitsanfall erliege, spiele ich Schach. Dann möchte ich mir selbst beweisen, daß die Logik ihre Daseinsberechtigung nicht verloren hat und hier alles mit rechten Dingen zugeht. Was sollte auf 64 quadratischen Feldern auch schon schiefgehen?! Da hat man doch alles im Blick! Da kommt es auf nichts weiter an als den Verstand – und der sollte doch schließlich ebenfalls noch eine Bedeutung haben.

Doch dann frage ich mich, ob man dieses Spiel mit dem Le-ben vergleichen kann – und komme zu dem Schluss: aber selbstverständlich! Denn wie im Leben, so auch beim Schach können unvorhergesehene Komplikationen eintreten. Was ist, wenn mich aus heiterem Himmel eine Migräne befällt? Was ist, wenn etwas passiert, das mich einen kurzen Augenblick ablenkt? Vornehmen kann ich mir natürlich vieles … Außerdem bin ich überhaupt kein Turnierspieler, denn meine Fantasie geht öfter mal mit mir durch, was bei einer so „ernsten Angelegenheit“ wie dem Schach fatale Folgen haben kann (oder das Gegenteil), denn da ist Zuverlässigkeit gefragt!

Leider weiß ich, daß „Zuverlässigkeit“ ein Fremdwort für mich ist. Mein kleines Großhirn experimentiert lieber den ganzen Tag, verrückt vor sich hin spinnend, an Eventuallösungen herum, als daß es sich auf eine einzige Sache konzentriert, die reellen Gewinn verspricht. Das artet dann in einen Taumel aus, der nicht mehr vorauszuberechnen ist. Und dabei spiele ich überdies gegen mehrere Gegner gleichzeitig, denn überall stehen mir die Praktiker im Weg. Und hinter jeder Ecke, auf jedem Platz, na eben überall stehen oder sitzen Leute herum, die ihr eigenes Brett vor dem Kopf haben. Aus wie vielen Feldern das dann besteht, möchte ich manchmal gar nicht wissen. Doch wie dem auch sei: Das Turnier beginnt. Ich führe die weißen Figuren und eröffne mit Königsgambit. Mein Spiel ist multi-simultan. Das heißt, ich spiele gegen unzählige Gegner und ich bin einer unter Unzähligen, gegen die hier gespielt wird. Das Ganze nennt sich „Lebensschach“, ist aber auch eine Reise nach Jerusalem, da immer wieder ein Spieler ausfällt. Dafür kommen im-mer wieder welche hinzu – eine variable Reise nach Jerusalem also, in der Gestalt eines Multi-Simultan-Schachspiels.

Überall stehen Stühle herum, überall auf dem Tisch stehen Schachbretter und irgendwie sind alle Schachbretter zusammen mit dem meinen auf unheimliche Weise verbunden. Die Geschehnisse greifen ineinander über. Dazu mischen sich noch überall „Kiebitze“ ein, deren Kommentare zu den einzelnen Zügen mir in den Ohren klingen. Ein unablässiges Raunen zieht durch den Raum.

Nach ein paar Eröffnungszügen habe ich meine Widersacher bereits auf meinem Brett und auf ihren Brettern in Bedrängnis gebracht. So gut es geht, hüpfe ich von „Kriegsschauplatz“ zu „Kriegsschauplatz“ und versuche dabei, meine gemachten Züge und die daraus eventuell entstehenden Folgen im Gedächtnis zu behalten. Meine Strategien sind effizient und mein Denkapparat funktioniert recht kreativ, was das Einfühlungsvermögen in Situationen und die Beurteilung der Gegner anbelangt.

Man beginnt, über mich zu tuscheln. Unter den Kiebitzen grassiert die Meinung, ich sei zu forsch und fordere zu viel auf einmal. Einer solchen Taktik sei man bisher noch nicht begegnet, ja, sie verstoße geradezu gegen Anstand und Sitte, gerade weil sie bislang unbekannt gewesen sei. Niemand hat sie also praktiziert. In diverser Schachliteratur sei sie nicht nachschlagbar, was mir einen gewissen unanständigen Vorteil verschaffe: einen inakzeptablen, versteht sich.

Man versucht, sich zu wehren, doch meine Springer attackieren unablässig, meine Läufer stehen günstig. Die Diagonalen ihrer möglichen Einsatzfelder dringen tief in die feindlichen Stellungen ein und meine Türme manifestieren eine überaus solide Verteidigung, in deren Mitte, wie in einem Spinnennetz, die mächtige Dame steht, die in der Lage zu sein scheint, jederzeit einen spielentscheidenden Faden zu ziehen. Mein König fühlt sich wohl! Ich bin in meinem Element! Dies ist mein Tag, meine Stunde, mein Leben! Ich stehe kurz davor, etwas bewegen zu können.

Hinter mir rollen die Sekunden heran. Sie bereiten den Durchbruch in einem Vielfrontenkrieg vor. Die Gegnerschaft wankt …

… dann wanken die Sekunden …

… die Atmosphäre wird zäh! Ein mir unbekanntes Element bremst die Zeit aus. Oder greift ein ganz neuer Spieler ein? Eigentlich müsste meine Wahrnehmung an dieser Stelle aussetzen, denn wo keine Zeit abläuft, ist kein Leben. Aber etwas von mir, das außerhalb der Zeit steht, empfindet noch – eine fremde Einflussnahme! Eine Zeitkorrektur wird vollzogen. Ein Ruck geht durch den ablaufenden Lebensfilm: Es ist, als hätte sich die Realität ein klein wenig verschoben. Ich bemerke den Eingriff aus den Augenwinkeln. Dort findet für den Bruchteil einer Sekunde eine Verzerrung statt. Dann ist alles wieder wie vorher.

Fast!

Auf meinem Brett hat sich etwas verändert. Ein Bauer in meiner Verteidigungslinie fehlt. Auf den anderen Brettern sind meine Angriffsspitzen beschädigt. Überall sind Lücken entstanden. Aufgefallen ist das kurioserweise niemandem. Es ist, als habe sich das Bewusstsein der anderen der neuen Situation homogen angepasst.

Die Kiebitze fachsimpeln wie vorher, sprechen von: „musste er sich zeigen lassen“, oder jetzt auch von bekannten Varianten „im Spiel ,Tal gegen Petrosjan‘“ usw. Ich komme in Schwierigkeiten. Was habe ich aus der Sicht meiner Kritiker übersehen? Und wo sind meine Figuren hingekommen?

Dessen ungeachtet formiere ich meine Kräfte neu. Mit ausgefuchsten Winkelzügen und nunmehr einer eher „intuitiven Eleganz“ beseitige ich die Schwächen in meiner Stellung. Meine Phalanx steht erneut, sich geschickt gegenseitig deckend, und verweist deutlich auf ihre Ansprüche. Wieder registriere ich aufgeregtes Tuscheln. „Wie hat er das nur gemacht? Wo gibt es ein Beispiel hierfür?“ Ich weiß, daß es keine Beispiele dafür gibt und kämpfe weiter.

Auf einigen Brettern erfolgt, von meiner Seite ausgesprochen, ein entschlossenes Gardez. Auf anderen stehen meine Figuren hinter den feindlichen Linien, wo sie frech das gegnerische Hauptquartier bedrohen. Drei weitere Spielzüge später habe ich eine hübsche Anzahl erbeuteter schwarzer Spielsteine neben meinem Brett stehen. Ich bin kurz vor dem Erfolg!

Da wird es auf einmal mucksmäuschenstill im Raum. Die Schritte der umhergehenden Schachspieler verhallen. Ich selbst bin wie gelähmt. Die Uhren laufen zwar, aber von mei-ner Seite aus geschieht nichts. Ich kann nicht mehr ziehen. Wie im Traum verfolge ich Bilder einer absurden Welt. Was jetzt passiert, das passiert ohne mich. Ich bemerke verblüfft, wie die zu halbdurchsichtigen Schemen gewordenen anderen Spielteilnehmer drei Züge hintereinander machen. Von irgendwoher spüre ich ein Lächeln … es ist, als würde der Raum sich zu einer freundlichen Grimasse verziehen. Das macht mich glücklich in meiner Trance, doch als die Starre von mir abfällt, sehe ich die Bescherung.

Ich bin total ins Hintertreffen geraten. Es ist nicht zu fassen! Ja, sogar die von mir geschlagenen Figuren stehen wieder an einem sicheren Platz auf einem der vierundsechzig Felder und üben von dort ihren für mich ungünstigen Einfluss aus.

Ich staune! Die Fachwelt staunt mit, hält die Veränderungen jedoch für real. Jeder versucht jedem zu erklären, warum die neu entstandenen Konstellationen eine logische Folge von Ereignisketten sind. Jetzt wird es brenzlig! In einem letzten Aufbäumen rette ich meinen König, solange ich kann. Dabei muss ich nicht nur Bauernopfer vornehmen …

Schließlich gelingt es mir noch, mich in einige Patts und Remis‘ zu flüchten, die mir nichts als die Aufrechterhaltung des Status quo einbringen. Viele haben inzwischen die Partie für sich entschieden: schachmatt! Sie gehen mit ihren glänzenden Pokalen nach Hause. Andere wiederum haben sich an den Wahlspruch gehalten: „Der beste Zug ist aus dem Krug.“, sie liegen betrunken unter dem Tisch. Auch sie gehen quasi modo ungeschlagen ab, denn sie konnten ihre Niederlagen entweder nicht länger bewusst miterleben, oder ihre Gegner haben das Spiel gar nicht mehr zu Ende geführt und sie gehen lassen.

Ein Teilnehmer musste hinausgetragen werden. Er hielt sich für den Weltmeister und erlitt einen Nervenzusammenbruch, als er mittels Schäferzug ausschied. Die meisten verbünden sich mit den Kiebitzen und verziehen sich zum Feiern, ihrer übereinstimmenden Meinungen wegen, in die nächstliegenden Kneipen.

Ich sitze immer noch halb betäubt mit dem (Schach-)Brett vor dem Kopf am Tisch und analysiere. In meiner Fantasie gehen an der Decke Klappen auf, virtuelle Hände greifen in meiner inszenierten Retrospektive auf die Bretter zu, wo sie ungehindert agieren, um den Ausgang der Wettstreite zu manipulieren.

Die Schachbretter verkeilen sich geradezu ineinander, bil-den Schichten und ganze Tunnelsysteme. Figurenreihen kommen aus dem Nichts und gleiten in dasselbe zurück …

Das Erstaunlichste, was ich abschließend vielleicht noch bemerken darf, ist der fundamentale und ausschlaggebende Irrtum meinerseits: Ich hatte gar nicht die weißen Steine. Das habe ich mir nur „eingebildet“. Die ramponierten Reste meiner Armeen bestehen jedenfalls durchweg aus schwarzen Schafen, äh, Figuren!

Das verblüfft mich am meisten!

 

Text und Bild ©Alf Glocker

27-Lebensschach.jpg

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