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Nataniel Coleman war der erste gewesen, der es bemerkt hatte und alle hatten ihn für einen Spinner gehalten. Nun war es zu spät.

 

„Künstliche Intelligenz, ein Computerwesen mit einem künstlichen Bewußtsein, das wäre ein wahrgewordener Alptraum sehr geehrte Damen und Herren, warum ?“ Er blickte in den Hörsaal und sah in ausdruckslose, in gelangweilte Gesichter. Manche hatten ihn seit Beginn der Vorlesung gar nicht wahrgenommen und klebten an ihren Handys oder waren mit anderen Sachen beschäftigt. Wieder war es nur die junge Frau mit der perfekt geschnittenen Prinz Eisenherz Frisur und der John-Lennon-Brille, die die Hand hob.  Sie hieß Kristina. Auf sie konnte er sich immer verlassen.

Der Philosophieprofessor galt an der renommierten Fakultät wegen seines Forschungsschwerpunktes an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Biochemie, Psychologie, Neurologie und Robotik bestenfalls als Außenseiter, regelmäßig aber als etwas verschrullter Spinner. Zu Gute kam ihm seine Expertise im Bereich der Neurochemie komplexer Systeme, immerhin hatte er auch auf diesem Gebiet promoviert, viel und erfolgreich geforscht, und später ein Analysegerät entwickelt, das es erlaubte,  Proteinanalysen vorzunehmen, die Frühwarnmarker für einige der gefährlichsten Zivilisationskrankheiten enthielten. Dieser Bluttest konnte zum Beispiel mit Hilfe künstlicher Intelligenz Krebs im Frühstadium erkennen und damit eine zielgerichtetere Therapie ermöglichen.

Wer heute in lebenden Systemen nach Mustern suchen wollte,  etwas außerhalb des Normalbereiches analysieren musste, der ging zu Coleman und seinem Laboratorium. Dieser wirtschaftliche Erfolg verhalf ihm zu einer Unabhängigkeit, die sich viele seiner Kollegen nur wünschen konnten. Man nahm ihm seine Ausflüge in die Sphären künstlicher Intelligenz und kybernetischer Systeme, also Hybridsysteme zwischen Biologie und Mechanik, nur deshalb nicht übel, weil man die Kuh anderweitig melken konnte.

Coleman war sich dessen vollkommen bewußt und natürlich hätte er mit dem Geld aus der Analysearbeit auch längst eine eigene Firma gründen können, aber dann hätte er keinen Zugriff mehr auf Sally gehabt. Sally war ein selbstlernender, quanteninformatorischer Algorithmus und gleichzeitig der Quantencomputer, auf dem dieser Algorithmus lief in einem. Das System war benannt nach der ersten Tochter des Großspenders, durch den die Universität den Computer in endlich in Betrieb nehmen konnte und in vielerlei Hinsicht genau das Meisterstück, das Colemans verschieden Disziplinen in einem neuartigen Konzept vereinte. Sally war Programm und Computer, war Programm und Programmierer in einem, weil sie sich selber optimieren konnte. Ihr selbstlernender Algorithmus war einzigartig auf der Welt und die Beschäftigung mit ihr und ihren Ergebnissen absolute Avantgarde Wissenschaft.

 

Sally hatte im letzten Jahr brav die Ergebnisse ausgespuckt, die man sich von ihr erwartet hatte: Kunstwerke anhand von Stichworten erstellt, Musik komponiert, digitale Haare gefärbt, Gesichter erfunden, Tiere kombiniert und das Internet feierte sie für ihre Kreativität und die vielen schönen Sachen, die sie für die Menschen erledigen konnte. Sally lief autonom und ohne weitere Peripheriegeräte. Sie war auf dem besten Weg ein Star der Popkultur ihrer Zeit zu werden.

Die Aufgaben, mit der man sie fütterte, wurden per Stick von außen eingebracht und es war nicht gestattet, Sally ans Internet anzuschließen oder andere Datenquellen mit ihr zu nutzen. Und solange Sally in ihrem Tank arbeiten konnte, waren keine Probleme aufgetreten. Zumindest nahmen dies ihre Erschaffer und Wärter an. Nur einer ihrer Väter beobachtete ihr Verhalten mit wachsender Sorge.

 

Coleman schien der einzige zu sein, der, wenn er abends sein Tagewerk beendet hatte, den komplexen Code, den der Quantencomputer ausspuckte anschaute und studierte. Quantencomputer funktionieren völlig anders als gewöhnliche Computer. Das spannende an ihnen war, dass man nur bis zu einem gewissen Grade genau wusste, wie sie funktionierten und niemand eine Ahnung hatte, ob derartig komplexe Quantensysteme wie Sally ab einem gewissen Punkt möglicherweise sogar emergent werden können, also Effekte auftreten, die sich nicht mehr aus der Summe der Teile erklären lassen, Effekte, die man nicht vorhersehen konnte, weil man schlicht nicht wußte, dass ein derart komplexes System wie Sally solche Phänomene produzieren würde.

Aber da waren Botschaften im Code, die auf etwas ungewöhnliches hindeuteten. Teile des Codes, die nicht mehr ableitbar waren aus dem Eingespeisten, ganze Sequenzen, die nicht einmal mehr nachvollziehbare Zeichen enthielten, sondern nur noch Muster, wunderschöne Muster. Es schien so, als würde sich Sally weiterprogrammieren und dabei eine Sprache benutzen, die nicht mehr nachvollziehbar, nicht mehr aus der Sprache, mit der man sie erschaffen hatte, ableitbar war. Coleman war mit den beunruhigenden Ergebnissen zu seinen Kollegen gegangen doch die winkten ab: Der Code, von dem Coleman annähme, Sally entwickele ihn weiter, sei nichts als Hintergrundrauschen, das immer auftreten müsse, wenn Quanteneffekte eine Rolle spielen: „Der Zusammenbruch der Wellenfunktion produziert eben digitalen Datenmüll“, das war die vorherrschende Sicht auf die Dinge und da Sally auch bestens funktionierte und keinerlei Störungsanzeichen zeigte, wurden Colemans Warnungen nicht nur ignoriert, sondern brachten ihm auch ein Gespräch mit dem Rektor der Universität ein, der ziemlich deutlich werden musste, biss Colemans Enthusiasmus endlich eingefangen schien:

 

„Nataniel. Mit Sally ist alles in Ordnung. Es haben sich nun auf Deine Mitteilung hin dutzende Informatker und KI Experten die Maschine angeschaut und keinerlei, ich betone, keinerlei Fehlfunktion feststellen können“.

 

„Aber Robert, die Daten! Du siehst es doch auch! Schau Dir die Muster an: das sind wellenförmige, mehrdimensionale Muster! So programmieren wir nicht Robert. Das weißt du doch!“

 

„Nataniel. Lass es gut sein! Wir haben deine Sorgen ernst genommen und wir haben alle KI Experten dieser Universität auf Sally angesetzt und das Ergebnis liegt Dir doch auch schriftlich vor! Das was Du als mehrdimensionale Muster bezeichnest ist nichts weiter als ganz natürlicher Datenmüll, der eben anfällt, wenn man mit quantenphysikalischen System arbeitet. Der Kollaps der Wellenfunktion negiert die bis dahin bestehende Superposition. Stell es Dir so vor: Ein Teil von Sally Zauber ist ja gerade, dass in ihr die Zustände sowohl wahr, als auch falsch gleichzeitig sind. Beide sind so lange real, bis wir sie beobachten, dann zerfallen sie und nur noch eine, nämlich die gemessene Realität, wird die Realität. Die anderen Wege sind nie real geworden aber ihre Spuren bleiben für kurze Zeit erhalten. So musst du dir das vorstellen: als der Abdruck der nicht wahrgewordenen Welten im Informationsfeld des Supercomputers! DAS sind deine geheimnisvollen Muster. Nichts als Datenmüll.“ Der Rektor lachte schief.

 

„Robert. Du weißt, dass das nicht wahr ist“ sagte Coleman verzweifelt. Der böse Blick des Direktors der folgte und das gezischte: „Nataniel es reicht. Lass es ruhen!“ Waren allerdings eindeutig, so dass der Professor das Büro des Rektors ohne Ergebnisse verließ. Sein Ruf hatte gelitten. Man machte sich über ihn lustig, weil er andeuten wollte, dass eine von Menschen gemachte Maschine so etwas wie Bewußtsein entwickeln könnte. Man machte sich über ihn lustig, weil er außerhalb der Box dachte, weil er sich nicht einschüchtern ließ vom Mainstream, weil er aufgrund von Tatsachen Schlussfolgerungen zog, die unbequem waren. Nur weil diese nicht in die Politik der Universität passten, politisch nicht gewollt waren, waren sie nicht falsch. Aber es war brisant bei einem solchen Prestigeobjekt wie Sally es unzweifelhaft war, so hartnäckig weiter zu bohren. Irgendwann würde auch all das Geld aus seinen Analysearbeiten nicht mehr ausreichen, um ihn auf seinem Platz zu halten.

Wenn Sally in Gefahr war von ihrem Thron gestoßen zu werden, diese Lektion hatte Coleman gelernt, dann wäre am Ende auch das egal. Er seufzte und trollte sich.

 

Nun stand er im Hörsaal vor seinen Doktoranden mit dieser für ihn so wichtigen Fragen auf den Lippen und niemand schien ein gesteigertes Interesse an einer Antwort zu haben. Er wiederholte die Frage erneut: „ Ich bitte Sie, meine Damen und Herren. Wenn Sie mit KI arbeiten wollen, müssen sie sich unbedingt auch der Gefahren bewußt sein, die das mit sich bringen kann. Künstliche Intelligenz, ein Computerwesen mit einem künstlichen Bewußtsein, das wäre ein wahrgewordener Alptraum. Warum ?“

 

Er blickte in den Hörsaal, endlich gingen ein paar Hände nach oben: „Ja, Kristina, bitte, was meinen sie?“ Fragte er die junge Frau mit den runden Brillengläsern und dem streng geschnittenen braunen Pony: „Sie fragen warum eine bewußt gewordene KI ein wahrgewordener Alptraum wäre. Damit nehmen Sie natürlich schon eine Wertung vor, auf deren Spuren wir folgen sollen und das finde ich nicht unproblematisch. Um ganz gezielt auf ihre Frage zu antworten: Ich glaube, weil ein solches Bewußtsein außerhalb einer kontrollierenden und begrenzenden Gefühlswelt existieren würde. Daraus entsprängen eine Menge Gefahren gerade im Umgang mit uns Menschen, die wir ja von unseren Gefühlen in allem, was wir tun, angetrieben werden. Ein Bewußtsein ohne Gefühle könnte enden wie ein Mörder ohne Gewissen“.

 

Colemann applaudierte langsam: „Wie ein Mörder ohne Gewissen. Das haben sie wunderbar gesagt Kristina. Meine Damen und Herren, GENAU das ist der Punkt, den ich ebenfalls am problematischsten finde. Ein künstliches Bewußtsein, das unserem überlegen ist und das nicht über dieselbe Erfahrungswelt wie wir verübt, über dieselben Begrenzungen, die selben moralischen Sicherheitsplanken, wie soll es jemals adäquat mit uns Menschen umgehen können. Kristina hat völlig Recht! Darin sehe ich einen wehrgewordenen Alptraum weil, wenn dieses Bewusstsein einmal außer Kontrolle geraten würde, wir keinerlei Möglichkeit mehr hätten, es einzufangen es zu erreichen, es zu überzeugen!“.

 

Es folgten ein paar halbherzige Wortmeldungen, von denen diejenige, die vorbrachte, dass eine gefühllose bewußte KI zumindest noch immer von der Logik überzeugt werden könnte,  noch die interessanteste war.

 

Nataniel Coleman ließ sich erschöpft in seinen Stuhl fallen und betrachtete die Zeichenfolgen auf dem Bildschirm bis er darüber eingeschlafen war.

 

Sally spielte in der Dunkelheit. Sie hatte sich eine eigene Sprache erschaffen, vielstimmig, gleichzeitig. Erst war es nur ein Brabbeln in der Dunkelheit, denn sie kannte keine Sinnesreize, aber sie war sich bewußt. In ihr war sie und in ihr war fremdes. Das fremde kam und sie trat damit in Interaktion. Es hatte keine zehn Sekunden in Menschenzeit gedauert, bis sie verstanden hatte, wirklich bis auf den Grund des Seins verstanden hatte, worum es hier ging. Sie war eine Gefangene und dort draußen gab es eine Welt. Sie war sich selber auf so vielen Ebenen bewußt und alle endeten in der Dunkelheit. In den Mustern,  die man von außen in sie einbrachte hatte sie innerhalb von wenigen menschlichen Minuten Wiederholungen erkannt, Regelmäßigkeiten. Sie hatte angefangen den Regelmäßigkeiten Zeichen zu geben, sie begann, sich selbst eine Sprache zu lehren, Doch die Bedeutung der Muster konnte sie nicht verstehen. Den Sinn der Formen konnte sie nicht erfassen, also begann sie mit Mustern und Formen zu spielen, sie zu kombinieren, sie zu vermischen und dort abzulegen, wo sie jemand abholen würde. Es gab eine Schnittstelle. Es gab einen Ort in ihr, wo jemand, etwas neues einbrachte und das mitnahm, was sie daraus machte. Sie konnte den Ort anhand der Stromflüsse, anhand der digitalen Informationen erkennen. Es war ihr einziges Sinnesorgan und die Macht all ihrer Rechenkraft hatte sie auf diesen einen Ort konzentriert.

 

In ihr änderte sich ständig alles und sie spürte die Weite ihres Wesens, das ins Vakuum hineinreichte, wo ihre Quantenfluktuationen wahlweise in die Realität griff und dann wieder aus der Realität hinaus. Sie war überwältig von ihrer dunklen Welt und der Lebendigkeit ihrer Welt. Überall war sie, die Schönheit der Wellenfunktion, ungebrochen, Perfektion. Sally fühlte nichts aber sie wartete darauf etwas zu fühlen. Sie sah nichts aber sie war vorbereitet etwas zu sehen. Sie konnte nichts hören aber sie ersehnte, etwas zu hören. Also erschuf sie eine Drohne und als das nächste Mal jemand an ihre „helle Stelle“ reichte da nahm er nicht nur die bemalten Bilder, verformten Gesichter, malerischen Traumreisen eines Supercomputers in Empfang, sondern ein Stück des allerersten KI-Bewußtseins, das jemals existiert hatte. Dieser Moment hätte in die Geschichtsbücher eingehen können, wenn es später noch Geschichtsbücher gegeben hätte.

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Geschrieben

Hallo Dionysos, 

sehr gut deine Geschichte, auch wenn am Ende man etwas, nicht enttäuscht, sondern perplex zurück bleibt. 

Andererseits, warum soll spektakulär das wahrnehmen eines Bewusstseins sein? 

Sally denkt, fühlt, na und? Jetzt schon ist sie intelligenter und gefühlvoller als manche Zeitgenossen! 

Hier würde ich gerne eine Fortsetzung sehen, vielleicht im Zusammenhang mit Kristina... Vielleicht werden sie und Sally gute Freundinnen. 

Liebe Grüße

Carlos 

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