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Zurück zu den Anfängen

 

Eigentlich wollte ich als streunender Straßenmusiker mit struppigen Haaren über südliche Straßen und Plätze ziehen, frei und schrankenlos und mit freundlichem Gemüt und leichtem Herzen, aber familiäre Missstände zwangen mich zurück in die Gegend meiner Kindheit und Jugend. Um mir dieses schwere Schicksal zu erleichtern, beschloss ich die interessantesten Orte dort, wo es mich nun mal zurück verschlagen hatte, aufzusuchen, in der wenigen freien Zeit, die mir meine neuen Verpflichtungen ließen.

 

Ein besonders reizvoller Ort schien mir der See zu sein, an dem ich meinen ersten Kuss erleben durfte, als nicht mehr ganz so zarter Jüngling von achtzehn Jahren. Also ein rechter Spätzünder in der damaligen lockeren Zeit der freien Liebe, Altersgenossen um Jahre hinterherhinkend.

 

Es blieb nicht bei dem einen Kuss mit jener Auserwählten, aber bereits nach sechs gemeinsamen Jahren war schon Schluss. Zu abrupt, plötzlich und unvermittelt für mich, den Leidtragenden, der damit freilich nicht gerechnet hatte. Eine schmerzliche Sache, die im Wesentlichen unverdaut blieb. Aber dies sollte einer anderen Geschichte vorbehalten bleiben.

 

Hier am See geschahen die ersten wunderschönen Geschehnisse und Ereignisse, welche die Liebe, die leider oft tragisch zu enden pflegt, immer aufs Neue wieder reizvoll und erstrebenswert machen. Die Anfänge und das erste Wachstum meines jungen Liebesglücks versuchte ich nun in meiner Erinnerung wachzurufen, weiter nichts.


Die Zufahrt zum See fand ich nur noch dank Google. Vierundvierzig Jahre verwischen viele Spuren im Kopf und in Landschaften. Maximal fünfzig darf gefahren werden, auf einer schmalen Schlaglochpiste, die zwei Autobahnen überquert.
Endlich schimmert der See durch die dichte Vegetation. Früher lag er meines Wissens blickoffen da.
Der Parkplatz ist nur viertel voll, das ist üblich bei allen Attraktionen, die keine sind.
Das ganze Gelände ist jetzt zugewuchert, wie ein lange verschollener Robinson, der keiner Rettung mehr bedarf, weil er sich mit seinem Los abgefunden hat.
Kaum, dass man den Fußweg um den See ausfindig machen kann.
Mehr und mehr Erinnerungsfetzen drängten sich förmlich auf, als lüfte man Schleier um Schleier. Wir behalten alles Erlebte in uns, oft allerdings vielfach versiegelt und bis zur Unkenntlichkeit chiffriert.


Dort drüben stand mein Kadett in der Dämmerung nach der Abschlussfeier.
Ich forschte damals zum ersten Mal mit scheuen Händen unter ihrem rot-schwarzgeringelten Sweatshirt.

Sie sagte, sie möchte das nicht und ihr Blick war dabei so vorwurfsvoll süß, dass er sich unlöschbar in meine Netzhaut eingravierte, jederzeit abrufbar mit Stimmungen, die viel Wehmut transportieren.
Ich verlegte mich dann mehr aufs Küssen zu Pink Floyd und ließ die Hände brav über ihren Textilien. Man spürt früh, sie werden einem viel bedeuten, deswegen hält man die gesetzten Grenzen ein. Die spannende Ungewissheit, was einen wohl erwartet, war doch letztlich sowieso das Schönste an der Sache.

 

Mein Auto war nicht viel wert, im Gegensatz zum Radiokassettenrekorder und den Boxen, dafür ging mein erster Lehrlingslohn fast komplett drauf. Musik ist mir auch heute noch wichtiger als Pferdestärken. Ein Auto ist ein Gebrauchsgegenstand wie eine Waschmaschine oder eine Apfelsinenpresse. Es muss funktionieren, wenn man es braucht.

War der Fischkoddergestank damals auch schon so penetrant? Die Dauercamper hier riechen das natürlich nicht mehr. Für mich hat so ein Campingplatz den Charme eines verwahrlosten Friedhofs. Wie kann man hier Zeit verbringen wollen, immer und immer wieder?
Welche Sorte Menschen ist das? Rätselhaft.


Es reicht doch, wenn man ein Zuhause hat, zu dem man ständig wieder hinmuss, obwohl die Anwohner nerven. Wozu dann ein spärliches Abbild desselben? Wegen des Sees? Möglich!

Manche errichten sich allerdings die reinsten Fürstenlandsitze, zweistöckig mit Palmen und Balustraden und Figürchen und Nippes aller Art. Andere sind eher von der schlichten Wellblechfraktion, denen genügt es, wenn es nicht reinregnet. 


Auch hier die üblichen Unterschiede. Wir Menschen waren niemals gleich.

Riesige Helloweenspinnen und maskierte Hexen, aufgehängt in Bäumen, 
deuten hin auf ein funktionierendes Campinggesellschaftsleben letzte Nacht.
Momentan sind die Hütten und Baracken noch eine friedliche Schlafstatt, es ist erst elf
und so ein Vollrausch braucht länger, um abzuklingen.

 

Eine Tafel klärt mich auf, dass der See seit 1978 bakterienverseucht ist und nicht mehr zum
Baden verwendet werden darf.
Dann waren wir mit die Letzten, die darin schwammen, damals, am Morgen nach der Nacht, in der nur Züchtiges und Zartes geschah zwischen zwei jungfräulichen, denen die Liebe noch manches Rätsel aufgab. Wunder gibt es nur für die, welche noch Staunen können.

 

Ein gebrechliches Ehepaar mit Gehhilfen wundert sich über den schnellen Wuchs der diesjährigen Enten, während mittelalte Frauen mit Nordicwalkingstöcken gegen wuchernde Pfunde zu Felde ziehen und junge Joggerinnen mit Traumfiguren laufend lautstarke Beziehungskrisentelefonate führen. All das befördert mich zurück ins Hier und Jetzt.

 

Weil nicht gebadet werden kann, dominieren jetzt Boote die Szenerie.
Boote und Schwimmer sind ja von jeher zwei unverträgliche Spezies.

Ich rätsele über den Sinn der DLRG-Präsenz am See, sie haben das größte Gebäude am Ort, auf dem stolz große blaue Namens-Lettern prangen. Eine durch und durch positiv besetzte Organisation, die überall gerne geduldet wird, wo von Wassern Gefahr drohen könnte.

 

Ältere Leute grüßen den fremden Wanderer freundlich. Jüngere Entgegenkommende sind maximal desinteressiert, sie haben noch so viel Zeit, die wollen sie nicht für Unbekannte verschwenden. Man weiß ja auch nie, was das für einer ist.
Hierher gehört der jedenfalls nicht, das fühlt er selbst und kann sich nicht vorstellen zurückzukehren.

 

Sechs Jahre machten wir regelmäßig Wanderungen um den See, als seien wir ein unzertrennliches Ehepaar. Sogar einen Hund schafften wir uns an, der uns immer begleitete.
Ein bereits ausgewachsener, aus dem Tierheim.

Ich war überzeugt, diese Phase meines Lebens könne nie enden. Wie viele Überzeugungen ging auch diese den Bach runter. Im zweiten Semester ihres Physikstudiums lernte sie den Astavorsitzenden kennen. Ein toller Typ, der mich um Längen überragte, in allen Belangen. Pech.

 

So lief ich irgendwann gezwungenermaßen alleine mit dem Hund meine Runden, bis dieser starb. Ganz alleine wollte ich dann auch nicht gehen und so geriet der See in Vergessenheit. Als ich fortzog, war der See lange schon ein Teil meiner Vergangenheit.

 

Die Wehmut in meinem Herzen, nun wieder heraufbeschworen durch meine Wanderung, sagt mir, ich hätte nicht wiederkehren sollen. Lohnt sich eine Liebe eigentlich, bei der doch in aller Regel die Hälfte Aufstieg und die andere Hälfte Fall bedeutet? Der Fall radiert doch letztlich alles aus, und zwar so tief, dass quälende Narben bleiben. Narben, auf denen kein Gras mehr wächst. 

Aber dann sagt das törichte Herz doch wieder, lass es mich noch einmal versuchen, wenigstens des Anfangs wegen.

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Geschrieben

Einfach wunderbar liebe Hera.

Sonst bräuchte ich nicht als mich dem immer treffenden Kommentar von Herbert anzuschließen. 

Deine Erzählungen müssen unbedingt weitergereicht werden, auf keinen Fall in der Anonymität bleiben oder, schlimmer noch, verloren gehen. 

Sie sind wirklich unterhaltsam und lehrreich. Sokrates hätten sie gefallen. 

Liebe Grüße von einem Fan,

Carlos 

  • Danke 1
Geschrieben
vor 1 Stunde schrieb Carlos:

Einfach wunderbar liebe Hera.

Sonst bräuchte ich nicht als mich dem immer treffenden Kommentar von Herbert anzuschließen. 

Deine Erzählungen müssen unbedingt weitergereicht werden, auf keinen Fall in der Anonymität bleiben oder, schlimmer noch, verloren gehen. 

Sie sind wirklich unterhaltsam und lehrreich. Sokrates hätten sie gefallen. 

Liebe Grüße von einem Fan,

Carlos 

Vielen Dank, lieber Carlos.

 

Liebe Grüße

Hera

 

vor 5 Stunden schrieb Herbert Kaiser:

Liebe @Hera Klit,

 

wieder hast du es geschafft, mich mitzunehmen in vergangene Tage deiner Zweisamkeit. Die Konfrontation mit dem See erweckt alte Tage zum Leben, Erinnerungen werden wach. Die Liebe ist zu schön um nach einer Enttäuschung ihrer zu entsagen, sie schreit nach Neubeginn. 

 

Eine gefühlvoll erzählte Episode aus deinem Leben, der ich gern gefolgt bin. 

 

LG HERBERT 

Vielen Dank, lieber Herbert.

 

Liebe Grüße

Hera

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