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Das Mädchen, der Priester und die Feuertaufe

 

Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen. Sie war so süß wie Zuckerstreusel, tat so gut wie eine Fangopackung dem verspannten Nacken und überhaupt war sie nicht nur schön für mich, ich war heimlich in sie verliebt.

 

Maries pechschwarzes langes Haar umrahmte ihr zartes Gesicht mit dem immer leicht sonnengebräunten Teint. Seit sie mir damals mit ihren rehbraunen, unschuldigen Augen direkt in die Seele sah, war ich verloren. Mich, den sie nur noch "den Priester" nannten, weil ich in der Clique, zu der ich gehörte, predigte: "Wir sollten doch diesmal einfach auf die Mutprobe verzichten und Marie in unseren Kreis aufnehmen!" Doch es gab zu viele Fürsprecher für diese Art von Feuerprobe, als dass ich Gehör fand. Nein, im Gegenteil. Lasse, unser selbsternannter Anführer hatte sich für Marie etwas ganz Besonderes ausgedacht. Sie sollte uns nicht bei den täglichen Klingelstreichen bei Polizeiobermeister Sauer oder dem Graffiti Sprühen am Bahnhof begleiten und dort ihren Mut beweisen, sondern ihre Scheu bei einem nächtlichen Besuch auf dem städtischen Friedhof auskurieren. Wir lungerten hin und wieder dort herum, obwohl oder gerade, weil es untersagt war.

 

Marie war zu schüchtern, um Lasse zu widersprechen, als er sie am Samstagabend anrief und zu einem Treffen auf den Friedhof bestellte. Das junge Mädchen wollte endlich dazugehören, schaute kurz durch die Durchreiche in die Küche zu ihrer Mutter und meinte betont gelassen: "Ich gehe noch mal zu Julia. Sie bekommt seit kurzem Einzelunterricht und will mir etwas auf dem Fagott vorspielen. Ich bin in circa einer Stunde zurück." Als Marie gegen 20.00 Uhr eilig das Haus verließ, ahnte sie nicht, was auf sie zukommen würde.

 

Mir gefiel das überhaupt nicht, aber wer fragte mich schon, wenn sich alle anderen einig waren. Also hielt ich meine Klappe und war ja da, um Marie beizustehen. Diese kam pünktlich zum Treffpunkt, nickte kurz zur Begrüßung und brachte nur ein leises "Hallo" heraus. Tina und Lasse schauten sich nicht einmal um, bevor sie rasch über das schmiedeeiserne Tor auf das Friedhofsgelände kletterten. "Nun komm schon, oder willst du dort draußen Wurzeln schlagen?", forderte Lasse Marie auf, ihnen zu folgen. Zögerlich stieg sie auf die Räuberleiter, die ich ihr anbot, um das Tor zu überwinden. Als ich mich anmachte, ebenfalls über den Zaun zu springen, zischte Tina mir zu: "Nein, du und Maik, ihr steht Schmiere, bis wir zurück sind!" Aber so war das nicht abgemacht, dachte ich erbost und wollte ihnen folgen, doch Maik hielt mich am Ärmel fest und hinderte mich daran.

 

Lasse, Tina, Tom und Lena schoben Marie vor sich her den schmalen Weg entlang in Richtung Kapelle, wo ich sie aus den Augen verlor. "Was haben die denn vor?", frage ich Maik, der nur mit den Schultern zuckte und genervt verlauten ließ: "Keine Sorge Priester, der heiligen Jungfrau wird schon nichts passieren! Wenn sie zu uns gehören will, muss sie da jetzt durch."

 

Lasse blieb plötzlich stehen und johlte den Freunden zu: "Die haben sicher einen in der Leichenhalle aufgebahrt. Ich schlage vor, unser Neuzugang legt ihm ein paar Blümchen auf den Sarg, während wir hier auf sie warten." Lena wurde nervös und stieß Lasse in die Seite: "Das bringt die nicht, wir sollten hier jetzt wieder verschwinden!" Doch Tom drückte Marie bereits eine kleine Taschenlampe und ein paar Wildblumen mit den Worten in die Hand: "Geh schon! Wir wollen schlilich gleich wieder die Biege machen." Marie wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Ihr Innerstes sträubte sich vehement gegen das Betreten einer Leichenhalle, aber sie wollte sich ihre Angst nicht allzu sehr anmerken lassen und es nur schnell hinter sich bringen.

 

Vorsichtig öffnete sie die schwere Tür und leuchtete mit der Funzel in die Halle. Tatsächlich war dort mitten im Raum ein Sarg aufgebahrt. Durch das kleine Fenster schien der Mond herein. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Hände begannen heftig zu zittern. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr, dachte sie angespannt. Ihr Atem ging stockend, als sie sich dem Sarg näherte und die Hallentür hinter ihr knarrend ins Schloss fiel. Aus Respekt vor dem Verstorbenen legte sie nun behutsam die Blumen auf den Sargdeckel und wollte sich gerade abwenden, als Lasse zur Tür herein polterte und sie anfauchte: "Du altes Rabenaas findest wohl Gefallen daran, uns alle in Gefahr zu bringen und ewig draußen warten zu lassen?" Marie war den Tränen nahe und wollte nur noch fort.

 

Tom stellte sich ihr in den Weg und raunte Lasse großspurig zu: "Wir sollten mal nachsehen, wer da von uns gegangen ist oder was meinst du, Totengräber?" Lasse verzog das Gesicht zu einer Grimmasse und trat an die Bahre. Die Zeit schien auf einmal still zu stehen.

 

Das würde er nicht wagen? Marie schlug sich ängstlich die Hände vor das Gesicht. Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg - er war leer.

 

 

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Geschrieben

Hallo Juls,

 

Eine wirklich tolle Geschichte, die alles hat, was eine gute Geschichte braucht:

Realitätsbezug, moralische Versuchungen (soll ich oder soll ich nicht), einen

guten Spannungsbogen und ein unerwartetes Ende. Hat mir viel Spass gemacht!

 

Liebe Grüße

 

Tobuma

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Geschrieben

Guten Morgen Juls,

die Art von Streichen lässt an heranwachsende Kinder denken, etwa zwischen 11 und 15. 

Der Ort des Geschehens eine kleine Stadt, wo jeder jeden kennt, auch jemanden, der im Sarg liegt ... 

Der "Priester" versucht, vergeblich, die zauberhafte und schüchterne Marie, in die er verliebt ist, vor einer Mutprobe zu retten. 

Trotz ihrer Schüchternheit erweist sich Marie als ein tapferes Mädchen. Lasse, der selbsternannte Anführer, muss seine ganze Mut zusammen nehmen, um sich nicht bloß zu stellen. 

Gerne schließe ich mich Thomas Meinung an. 

Liebe Grüße

Carlos 

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