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Geschrieben am

 

 

Mutter liebte uns Kinder.

Bestimmt. Irgendwie. Auf ihre Art. Es gab oft Süßes.

 

Ich weiß nicht mehr, was mir passiert war – beim Abtrocknen eine Tasse fallen lassen?

Irgend so etwas. Ein geschickter Dreizehnjähriger war ich nicht.

Jedenfalls schlug sie mir deshalb erstmal liebevoll auf den Kopf, so dass ich umfiel.

Ich dachte, das lässt sie nun entspannt ihre Arbeit weitermachen, aber ihr Liebesanfall

war noch nicht zu Ende. Immer wieder sah ich ihren rot-bunten Hausschuh gegen meinen

Bauch fahren. Hui, das muss ihr ein Liebesspaß gewesen sein! Dazu schrie sie laut ihre

Liebe hinaus, was für einer ich sei und warum mein Bruder sterben musste, der immer so

lieb war, ganz anders als ich Verdorbener, und schließlich rief sie voller Liebe, dass besser

ich hätte sterben sollen, damals, an jenem Vormittag, als die Betonplatte abrutschte und

mit ihr mein Bruder, der nur den Ball holen wollte, welcher den Hang hinunter gerollt war,

und der kürzeste Weg war nun mal über den dreigeteilten Kanaldeckel, unter dem die

düstere Pampe waberte, in dem großen Sammler für sechzehn Wohnungen, das muss ja

auch sein, wo soll denn das ganze Zeug hin, vom Händewaschen und vom Wäschewa-

schen und vom Klospülen und vom Zähneputzen und das Wasser vom Kartoffelnkochen –

irgendwo muss man es ja sammeln – und es konnte ja niemand wissen, dass nicht alle

Platten fest verankert waren und eine nur ganz lose auflag und ins Kippen kommen konnte,

wenn so ein Vierjähriger da ahnungslos dem Ball hinterherjagt und vor Schreck erstarrt

und rutscht und fällt und sein Leben mitreißt, da hinab in die dunkelste Brühe der Welt,

und seine Familie mitreißt, die da nie wieder rauskommen wird, und noch einige Sekunden

strampelt und schreit, nach der Schwester, die hilflos ist, und um sein Leben, um Hilfe,

während an den Fenstern Nachbarn das grausige Drama hilflos verfolgen und niemand

kommt auf die Idee, einen Besen aus dem Fenster zu werfen, niemand kann es fassen,

was passiert, denn das ist nicht vorgesehen für das Jahr neunzehnhundertsiebenundsechzig,

darauf hat man sich nicht vorbereiten können, und es gab auch hinterher für niemanden

einen Platz, einen Raum, einen Gesprächspartner, um all das aufzuarbeiten, was man da

erlebt und gehört hat oder was einem Polizisten auf Arbeit erzählten IHR SOHN IST GEGEN

ZEHN UHR DURCH EINEN TRAGISCHEN UNFALL UMS LEBEN GEKOMMEN, und dann liege

ich fast zwölf Jahre später auf dem Küchenboden und werde getreten von dieser Frau, die

meine Mutter ist und lasse mich beschimpfen und verfluchen und ich muss an KZ-

Aufseherinnen denken, von denen wir in der Schule gehört haben und ich verstehe die Zusam-

menhänge noch nicht, aber werde ein Leben lang immer wieder daran denken und davon reden

und schreiben und nehme mir ganz fest vor, mit allen später noch mal drüber zu reden.

So konnten wir ja nicht leben. So nicht.

 

                                                                                                                             🦅

 

 

  • Traurig 1
Geschrieben

Lieber Vogelflug, das ist so furchtbar, mir stockt der Atem beim Lesen und es gibt nichts, was ich schreiben könnte, als, dass ich fassungslos bin. So kann man nicht leben, so nicht und doch scheint es genauso geschehen zu sein. Das Leben nimmt keine Rücksicht darauf, dass hier eine Familie leidet. Bei allem Leid darf eine Mutter aber ihr Kind nicht so behandeln, wie Du es beschrieben hast. Letztlich hat nicht nur sie ein Kind verloren, die gesamte Familien hat einen schweren Verlust erlitten. Schreib die Wut. die Trauer, den Schmerz raus, schrei es raus! 

 

Ich bin in Gedanken bei Dir, liebe Grüße Juls

 

 

 

 

 

 

 

 

  • Gefällt mir 1
  • Danke 1
Geschrieben

Danke fürs Lesen und Kommentieren, Juls.

Dass der Text mitnimmt, spricht hoffentlich für ihn, nicht nur für das Beschriebene.

Ich habe zumindest versucht, ein paar mir stets gegenwärtige Details herauszuhalten und stattdessen

mit etwas literarischer Sprache zu würzen. Wenn das halbwegs gelungen ist, ist es okay.

 

Das Beschriebene ist nun für mich kein tägliches Leid.

Es ist einer der vielen Eindrücke, aus denen mein Leben besteht, und was man nie aus dem Rucksack

nehmen kann, um es irgendwo abzulegen. Es bleibt bei einem, so lange man lebt. Glücklich, wenn

man lernt, damit zu leben, ohne daran zu zerbrechen oder es wieder anderen anzutun. Den eigenen

Kindern oder irgendwelchen Opfern, die man sucht und findet.

 

Danke.

  • Gefällt mir 1
Geschrieben

Sicher bleibt es bei einem, Vogelflug, aber es wird, und das schreibe ich aus eigener Erfahrung, leichter, wenn man darüber redet oder schreibt. Schon das in Worte fassen, ist eine Form der Verarbeitung. Auch, wenn es nicht das tägliche Leid ist, es belastet doch jeden Tag aufs Neue. Ich denke, das kann jeder nachvollziehen.

 

Liebe Grüße Juls

  • Danke 1
Geschrieben

Na klar Juls. Irgendwie bleibt es eine beständige Last. Vielleicht wie ein zu dicker Bauch.

An den gewöhnt man sich auch. Aber von Zeit zu Zeit macht man sich Gedanken darüber

und weiß, dass er einem das Leben nicht angenehmer macht ...

  • 9 Monate später...
Geschrieben

 Hallo lieber Vogelflug

 

Auch mir bleibt die Luft weg, beim Lesen. Habe mich erwischt, beim Warten auf ein gutes Ende. Wie naiv.

 

Schwarze Pädagogik zog sich wie selbstverständlich durch eine/meine ganze Generation. Ohrfeigen, Teppichklopfer, Nachts in den Keller sperren wegen nur einem Widerwort. Strafmaßnahmen jeglicher Art, waren an der Tagesordnung. Zuckerbrot und Peitsche sind mir auch bekannt.

 

Was du erleben musstest, ist noch einmal eine Steigerung. Erniedrigung und Entwertung, führt,... ja wo führt es hin?

Ins Vergessen? Nein. In die Rebellion? Vielleicht. Man lebt damit und wird zum Schreiberling.

 

Grüße vom Seeadler, der/die heute auf deiner Flugroute unterwegs war.

  • Danke 1

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