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Sag doch was, Mutter. Irgendwas. Du hast doch immer geredet. Irgendwas ist dir doch immer eingefallen. Wenn ich nichts mehr zu sagen wusste, wenn mich alle Worte verlasen hatten, dann hast du gesprochen, geschrien, geflüstert. Du warst doch immer Stimme, meine Stimme.

 

Weißt du noch damals, als sie mich beim Fälschen deiner Unterschrift in der Schule erwischt hatten ? Ich hatte solche Angst mit einem Sechser in Deutsch nach Hause zu kommen und habs dir nicht erzählt und deine Unterschrift gefälscht  Als der Direktor uns zu sich bestellt hatte, was du zu ihm gesagt hast: Das ist meine Unterschrift hast du gesagt. Ich bin allein erziehend und hatte vorher den Müll runter gebracht. Bei ihnen zu Hause braucht das ihre Frau sicher nicht machen, weil sie das übernehmen. Aber wir haben niemanden, keinen Mann, der das übernehmen kann. Deswegen ist  die Schrift so krakelig. Deswegen ist die Schrift so verwischt. Das ist der Schweiß, denn wir wohnen im sechsten Stock ohne Aufzug und es war viel Müll an diesem Tag. Und wie sich der Direktor dann kleinlaut entschuldigt hat, weißt du das noch Mutter ? Da warst du mal wieder meine Heldin. Ich brauchte niemandem zu erzählen, dass ich Versager beim Unterschreiben, beim Fälschen deiner Unterschrift,  noch die ein oder andere Träne aufs Blatt getropft habe und mein ohnehin schon diletantisches Werk komplett amateurhaft verwischt, ausgesehen hat, wie ein Zeugnis auf das ein Hund sein Geschäft verrichtet hat. Und dann hast du mich ordentlich ausgeschimpft. Aber erst als wir wieder zu Hause waren. Sowas hast du nie vor den Leuten gemacht.  

 

“Entschuldigung, mit wem sprechen sie denn da guter Mann ?”

 

“Oh nur mit meiner Mutter junge Dame, entschuldigen sie bitte. Ich lebe allein. Da beginnt man irgendwann mit sich selber zu sprechen oder eben mit seiner toten Mutter. Meine Mutter wurde vor einer Woche hier beerdigt. Leider hab ich keinen früheren Flug aus den Staaten bekommen, aber jetzt bin ich ja hier. Ein schönes Grab ist es geworden. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass ich mit dem Beerdigungsunternehmen über Akelei gesprochen hatte. Sieht einfach toll aus”

 

“Danke. Die habe ich selber ausgesucht. Für meine Mutter, die auch vor einer Woche gestorben ist”

 

“Das ist ja ein Zufall. Da möchte ich fast sagen, sie haben einen guten Geschmack. Da hatten wir wohl bei dieselbe Idee”

 

“Das glaube ich kaum”

 

“Entschuldigung ?”

 

“Das ist nicht das Grab ihrer Mutter, sondern das Grab meiner Mutter. Schauen sie da auf dem Holzkreuz steht doch

sogar ihr Name”

 

“Ja aber das ist doch der Name meiner Mutter!”

 

“Entschuldigung, junger Mann, das ist doch ein ganz schlechter Scherz, den sie mir hier aufzwingen. Haben sie denn überhaupt keinen Anstand ? Wie können sie so mit den Gefühlen anderer Menschen spielen. Meine Mutter hat mir viel bedeutet. Ich habe sie persönlich bis zum Ende gepflegt, beerdigt und jedes Lied, jedes Gebet, jede Blume ausgesucht. Wir haben sie letzte Woche genau hier beerdigt”. 

 

“Aber dieses Grab, fünfte Reihe, achtzehntes Grab von links, das war das Grab, das man mir beim Beerdigungsinstitut genannt hatte und ich habe es mehrfach abgezählt und der Name stimmt ja auch”

 

“Aber dieses Grab vor dem wir stehen ist das achtzehnte Grab von links in der sechsten Reihe!”

 

“Nein”

 

“Doch, schauen sie mal hinter uns in die fünfte Reihe. Da müsste es sein”

 

“Ok ich schaue nach und prüfe es”

 

“Ja machen sie das und dann kommen sie wieder und berichten mir. Ist aber nett, dass sie so freundlich mit meiner Mutter gesprochen haben. Sie mochte Fremde. Sie mochte vor allem Studenten. Sie war sehr wissbegierig, Hat bis zuletzt nicht auf ihre Historienromane verzichtet. Da hatte sie aber schon die Lungenentzündung von der Leukämie. War dann nur noch eine Sache von Tagen. Dabei war sie geistig noch völlig klar. Ich. Entschuldigung”

 

“Oh nein, sie müssen sich doch nicht entschuldigen. Hier nehmen sie das Taschentuch. Es tut mir einfach schrecklich leid. Ich prüfe schnell mein Ungeschick. Nur einen kleinen Moment”

 

“Danke für das Taschentuch”

 

“Sie haben Recht! Meinte Mutter liegt da oben. Auf ihrem Holzkreuz stehen auch die richtigen Geburts- und Sterbedaten”

 

“Das heißt aber auch, dass unsere Mütter den gleichen Vor- und Nachnamen hatten”

 

“Ja, das heißt es wohl”

 

“Das ist irgendwie gruselig”

 

“Es ist irgendwie ein schöner Gedanke, dass sie so nah beieinander liegen. Vielleicht hätten sie sich im Leben gut verstanden. Meine Mutter mochte auch sehr gerne lesen. Sie hatte es nicht leicht und nie viel Zeit. Aber Abends habe ich sie oft lesen gesehen. Meistens Biographien von berühmten Personen. Marilyn Monroe. Das war ihre Heldin. Naja , sie war alleinerziehend. Mein Vater hat sie verlassen, als ich noch keine drei Jahre alt war. Mit mir hatte sie es sicher auch nicht leicht. Meine Psychotherapeutin hat später mal gesagt, ich sei sicher ihre größte Herausforderung gewesen”

“Oh dann hoffe ich mal, die Therapie hat ihnen was gebracht. Ich habe zwar die besten indischen Kochrezepte von meinem Psychotherapeuten aber meine Problemchen schleppe ich immer noch mit mir rum. Meine Mutter war in gewissem SInne auch alleinerziehend. Mein Vater war Bankdirektor in unserer Stadt. Der war immer unterwegs. Meine Mutter hat die ganze Hausarbeit gemacht und sich um uns gekümmert. Als mein Vater starb habe ich seine Hand gehalten und ich habe mich geschämt, denn es fühlte sich so an, als hätte ich die Hand eines Fremden gehalten.”

 

“Ist ihr Psychotherapeut Inder ?”

 

“War”

 

“War ihr Psychotherapeut etwa Inder ?”

 

“Nein. Aber er hatte irgendwie so ein Ding mit Indien und ich hab so ein Ding mit kochen”

 

“Das ist wunderbar. Ich kann überhaupt nicht kochen. Ich lebe allein. Da wird man seltsam”

 

“Das sagten sie bereits. Ich verrate ihnen mal ein Geheimnis: Ich lebe auch allein und bin kein Stück seltsam”

 

“Das glaube ich ihnen sofort. Ich sehe ja, wie adrett sie ihre dunkelbraunen Locken tragen, ihr schöner, roter Mantel zu ihren hohen schwarzen Lederstiefeln passt. Und dieser kecke, rote Schal. Ist das Kaschmir ?”

 

“Ja das haben sie aber gut erkannt”

 

“Lassen sie mich raten. Den hat ihnen ihr Therapeut aus Indien mitgebracht ?”

 

“Nein. Den habe ich mir selber gekauft in Venedig. Stellen sie sich das mal vor”

 

“Das finde ich wunderbar. Ich gehe sehr ungern einkaufen. Ich fühle mich da schnell verloren”

 

“Ich habe mich als Kind immer verloren gefühlt. Vor allem nachts. Habe oft wach in meinem Bett gelegen und mir gedacht, was wenn meine Eltern gar nicht meine Eltern sind und sie nur Masken tragen. Wenn alle Menschen nur Masken tragen”

 

“Das ist komisch. Das habe ich auch als Kind gedacht. Das war mir gar nicht bewusst, bis sie es gerade erwähnten. Aber jetzt erinnere ich mich. Oft hat mich dann die Stimme meiner Mutter wieder beruhigt. Habe sie gar nicht angesehen, einfach nur ihre Stimme gehört. Sie hatte so eine warme, ganz liebevolle Stimme. Verstehen sie mich nicht falsch. Sie konnte auch ganz anders sein und Nachts hatte ich die meiste Angst vor ihr. Da hatte ich oft das Gefühl, dass sie sich in ein mythisches Wesen verwandelt, eine Art Zauberkundige, eine Hexe oder mächtige Magierin”

 

“Warum gerade nachts ?”

 

“Ich weiß es nicht. Ich denke die Grenze zwischen den Welten ist dann besonders, wie sagt man da jetzt, permeabel.”

 

“Ja. Das verstehe ich. Das ist eine wunderbare Vorstellung. Das man sich einfach auf die Stimme konzentriert, wenn man denkt, dass alles um einen herum nicht wirklich wirklich ist. Sie haben eine schöne Stimme. So tief. So ruhig”

 

“Sie finden meine Stimme ruhig. Bitte nicht einschlafen! Ich genieße unser Gespräch gerade so sehr. Es kommt nicht oft vor, dass ich mich mit Menschen so unterhalten kann, wie mit ihnen”

 

“Nein nicht einschläfernd ruhig. Beruhigend ruhig. Ich könnte mir vorstellen, dass ihre Stimme Dämonen vertreiben kann”

 

“Wow. Das hat noch niemand zu mir gesagt. Wissen sie, bei uns hat immer meine Mutter gesprochen. Es war immer ihre Stimme, die mich geleitet hat und aufgefangen hat”

 

“Sie war ihnen nah”

 

“Ja sehr nah”

 

“Und trotzdem waren sie nicht da, als sie gestorben ist. Nicht einmal bei ihrer Beerdigung waren sie”

 

“Das stimmt”

 

“Warum?”

 

“Das ist eine schwierige Frage”

 

“Vielleicht haben sie sie zu sehr geliebt. So sehr geliebt, dass sie sie bereits im Leben haben sterben lassen in der Hoffnung, dann ihren Tod besser zu verkraften”

 

“Entschuldigung ?”

 

“Nein, entschuldigen sie bitte. Ich war sehr aufdringlich und unverschämt mit meiner Überlegung. Ich nehme es zurück. Bitte entschuldigen sie”

 

“Nein, so war das nicht gemeint. Das ist ein sehr mutiger Gedanke und ich befürchte einer, der mich noch in  viel zu gutem Licht da stehen lässt. Ich habe mich dasselbe gefragt. Warum bist du nicht früher rüber geflogen. Wieso warst du in ihren letzten Tagen nicht bei ihr. Wieso hast du alles übers Telefon geregelt. Sie hat sich nie beschwert. So, als wüsste sie -unausgesprochen- dass ich nicht gekommen wäre, selbst, wenn sie mich gefragt hätte”

 

“Das ist grausam”

 

“Ja grausam und feige und furchtbar egoistisch. Vielleicht haben sie doch recht und es hat etwas mit meinen Ängsten zu tun, sie zu verlieren”

 

“Mit ihrer Stimme”

 

“Mit meiner Stimme ?”

 

“Seit sie so ruhig und freundlich mit meiner Mutter gesprochen haben, spricht sie nicht mehr zu mir. Ich habe es ausprobiert. Jeden Tag war sie da in meinem Kopf, hat keine Ruhe gegeben, hat geredet, wie sie im Leben geredet hat. Doch heute nicht. Sie hat noch keinen einzigen Ton gesagt dabei habe ich sie schon auf das Übelste beschimpft und geneckt”

 

“Hey. Das ist gut. Habe ich doch gerne gemacht.”

 

“Und wo wir beide auch denselben Nachnamen haben und unser Mütter ja quasi Nachbarinnen sind, da kann ich vielleicht auch ihrer Mutter eine Stimme geben, damit sie wieder mit ihnen spricht”

 

“Aber sie hat doch eigentlich mein ganzes Leben lang gesprochen. Sie war doch meine Stimme. Ich hatte doch eigentlich gar keine eigene”

 

“Das sollten wir sie fragen. Oft ist es doch so, dass wir das Gefühl haben, alle um uns herum, würden nur Masken tragen und wären nicht wirklich real"

 

“Dann schließen sie einfach ihre Augen und ich singe ihnen etwas vor oder lese ihnen ein Gedicht."

 

"Sie sind ziemlich mutig, junger Mann. Sowas trauen sich nicht viele bei mir"

 

"Ich würde sie gerne auf einen Mokka einladen, Ich habe wunderbaren Mehmed Effendi. Wir könnten später zum Inder gehen”

 

“Das klingt wunderbar"

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Geschrieben

Hi Dio. 

 

Eine interessante Geschichte die mich über das Schicksal meiner eigenen Mutter nachdenken lässt. Niemand war dabei als mein Großvater im Krankenhaus gestorben ist. Wahrscheinlich hat er zwar nicht mehr viel mitbekommen, aber die Vorstellung allein zu sein kurz vor dem Tod ist beängstigend. Vielleicht aber auch irgendwie dumm. Mitkommen kann ja sowieso niemand. Trotzdem würde ich es mir bis an mein Lebensende nicht verzeihen wenn ich nicht da wäre um ihre Hand zu halten. Ich weiß es nicht... 

Ich mag auch gar nicht daran denken. 

Das ist für mich was ich als Kern der Geschichte herausnehme. 

 

LG JC

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