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„Das ist pures Talent! Die Leute haben das sofort begriffen!"

Ein  Zuschauer

 

Jason Walker ist ein Superstar. Jeder möchte einen Namen für die Nacht von ihm gelegt bekommen. Seine Namen haben ihn auf der ganzen Welt bekannt gemacht und gehören seit Wochen zu den am meisten nachgefragten Suchbegriffen im Netz. Jeder möchte zu ihm, möchte die Gewissheit haben, durch einen wahren Namen für die Nacht nicht mehr verloren gehen zu können.

 

Dass die Stadtmenschen in den Nächten verloren gehen, ist keine neue Erkenntnis. Sie ist viel älter als Jason Walker. Dass Menschen, die sich abends zufrieden zu Bett gelegt haben, über Nacht verschwinden und am nächsten Morgen einfach nicht mehr da sind, ist eine Tatsache und die Ängste der Städter sind real und begründet, obwohl das Phänomen nicht so häufig ist, wie die Aufregung darum vermuten lässt. 

 

Tatsächlich trifft es nur die Wenigsten, aber die Endgültigkeit, mit der diese armen Menschen in den Nächten verschwinden: Das ist es, was so furchtbar weh tut. Die Gewissheit, dass sie nie wieder kommen werden, niemals die Möglichkeit haben werden, sich von ihren Lieben zu verabschieden, zu betrauern, zu bereuen. Sie sind einfach verschwunden, die Betten leer, zerwühlt, so als seien die Schläfer nur kurz zur Toilette gegangen. 

 

Die Menschen haben begonnen, Theorien zu entwickeln, wen es treffen wird und wie man "das große Verschwinden" vermeiden kann. Knoblauch und jeden Tag frisches Gemüse sollen helfen, sagte die alte Frau aus dem Gemüseladen, bis sie verschwunden war. Drogen sollen helfen, sagten die Dealer, die ihr Zeug auf dem Rudolfplatz in der Nähe des Roxy verkauften. Dann waren sie verschwunden. Beten soll helfen sagte der Priester. Er ist verschwunden. Eine Zeitlang pilgerten die Städter zu einem kleinen Mädchen, das behauptete, es würde helfen Ganeshas Rüssel vor dem Einschlafen zu streicheln und das die handgemachten Ganesha-Figuren ihres Vaters für einen sehr stolzen Preis verkaufte. Doch es half nichts. Als schließlich die fleißigste Streichlerin, eine junge schüchterne Frau aus der Gemeinde verschwand, kaufte niemand mehr bei ihr Ganesha-Figuren.

 

Ein Guru aus dem Oshos-Place füllte schnell die Sehnsucht nach Verständnis und Bedeutung und behauptete nur regelmäßige Tantra-Massagen in seinem Tempel können helfen davor, verloren zu gehen. Er vögelte sich durch die gesamte Stadt: Männer, Frauen, Zwitter, Transen,  Binäre,  bis zwei seiner Schützlinge ebenfalls verschwanden. Von da an ging es mit seinem Geschäft abwärts und bald musste er wieder vegan gekochte Gerichte verkaufen, um überhaupt überleben zu können.

 

Obwohl die Städter, allen voran die Narzissten, Stadtneurotiker und Devianten, schon vor dem großen Verschwinden voller irrationaler Ängste und Heilserwartungen gesteckt hatten, hat sich nur das Gegenteil in ihrem Handeln manifestiert, so dass Vieles dem Unbewussten anheimgefallen war. Seit das große Verschwinden in den Städten wütet, suchen die Menschen, selbst die Rationalisten unter ihnen, nach etwas, irgendetwas, um ihre Seele, die das Ungewisse nicht ertragen kann, zu beruhigen und all die unterdrückten Ängste und Sorgen sind nicht nur schlagartig bewusst geworden, sondern bestimmen mittlerweile in einer Art "General-Paranoia" das städterische Handeln.

 

Nach dem ruhmlosen Abgang des Gurus aus dem Osho Place begannen die Städter die Schuld für ihre Miesere bei den Dörflern zu suchen, die ab und an in die Stadt kamen, um ihr Gemüse auf den Marktständen zu verkaufen.

 

„Warum verschwindet keiner von euch?“, fragen sie argwöhnisch, wenn sie an den Ständen stehen und ihre Brille auf der Nase herunterdrücken, gerade so, als wollten sie die Lüge mit bloßem Auge aufspüren, die irgendwo in dem Dörfler verborgen sein muss und die der wahre Grund dafür ist, dass die Dörfler vom großen Verschwinden verschont bleiben, doch sie sehen nichts.  Sie fassen sich an die Holstertaschen, die auf ihre Gürtel geschnallt sind und in denen sie die Handys aufbewahren, bereit sofort zu schießen. Der Argwohn wächst und je mehr das große Verschwinden nur bei der einen und nicht der anderen Gruppe zuzuschlagen scheint, umso aggressiver werden sie in ihrer Wut und ihrer Angst und so begannen die Überfälle. Man fühlte sich in der Stadt befreiter, wenn man einem der Dörfler stellvertretend für alle eigenen Unsicherheiten und Sorgen die Seele aus dem Leib prügeln konnte. Das ging so lange gut, bis die Misshandlungen so zunahmen, dass die Polizei einschritt und die Täter verhaftete. Zudem blieben die Dörfler aus und die Markstände leer, bis auf wenige sehr mutige Ausnahmen.

 

Der Herbst kommt und die Tage werden wieder kürzer und trüber und die Städter schwanken zwischen Verzweiflung und Wahnsinn, denn immer wieder trifft es einen aus ihrer Mitte und jeder weiß, dass er heute Nacht der nächste sein könnte. Wie viele haben versucht, sich dem Schlaf völlig zu entziehen, wach zu bleiben, einfach nicht mehr ins Bett zu gehen und sind doch irgendwann eingenickt, an einen Pfeiler gelehnt, in tiefster Nacht, am helligten Tag und plötzlich waren sie verschwunden.

 

In dieser großen Verzweiflung und Ungewissheit begann Jason Walker damit, Namen für die Nacht zu verschenken. Eines Tages saß er einfach dort, am Eingang zum Zentralfriedhof und kam mit den Alten und den Einsamen ins Gespräch. Zwar haben die Alten häufig Haustiere, aber keinen zum Reden, und so begannen sie, dem jungen Mann ihr Leid zu klagen. 

 

Jason Walker hat ihnen zugehört und ihre Hand gehalten und dann hat er ihnen einen Namen für die Nacht gegeben. Hat den Namen auf die Seiten einer zerschlissenen Ausgabe von Miltons Paradise Lost gekritzelt, gerade da, wo Platz war.

 

Und keiner, der bei Jason Walker war, ist bisher verloren gegangen.

 

Zumindest behaupten das die Leute, und über kurze Zeit wurde er zu einer Art "Gralshüter der Städterzeit",  zu einem "Schlaflied für die Dunkelheit", einem "Propheten der Hoffnung". Menschen begannen, zu ihm zu pilgern und bereitwillig hörte er allen zu und verschenkte Namen und schrieb sie auf die Seiten der Bücher, die er bei sich trug: Miltons Paradise lost, Dantes Inferno, ein Telefonbuch von Betlem auf Mallorca, eine Gedichtsammlung von Robert Lowell, Liebesleben von Zeruhya Shalev, einige Sachen von Philip Roth, Murakami aber auch das neue Testament und Szandor Marai, die Upanishaden, viele Werke von Mircea Eliade waren darunter und noch viele andere und doch wurden es mit jedem Gespräch, mit jeder Begegnung, mit jedem Namen weniger Blätter, weniger Bücher und sein Gepäck wurde immer leichter und leichter.

 

Jetzt ist Jason Walker befreit von allem Schweren. 

 

Er trägt nur noch seine Sachen am Leib und ein fast leergerupftes „Buch der Bilder“ von Rilke. 

 

Die meisten Seiten sind herausgerissen. Ein großer Teil ist einem Überfall zum Opfer gefallen, ein Wahnsinniger hatte versucht, die Bücher zu verbrennen, wobei einige Seiten verbrannten. Doch je leichter er wird, je freier, umso schwerer ketten sich die Städter an ihn und jedes Wort, das er spricht, jeden Gegenstand, den er berührt, auch berühren wollend. Sie idealisieren ihn und behaupten, solange Jason Walker sich noch an jemanden erinnern könne, dem er einen Namen für die Nacht gegeben hat, so lange könne dieser dem großen Verschwinden nicht anheimfallen, denn niemand, der einen Namen von ihm bekommen hat, ist bisher verschwunden.

 

Jetzt ist Jason Walker ein Superstar der Stadt. Er ist auf allen Kanälen. Die Menschen glauben, ihn zu berühren, bringt Glück. Sie sind sich sicher, dass Selfies mit ihm vor Krankheit und Unheil schützen. Sie bearbeiten Fotos von ihm und ihnen mit Fotofiltern und verschicken sie in den sozialen Netzwerken. 

 

Jason Walker ist immer freundlich und doch geht eine fast feierliche Ernsthaftigkeit von ihm aus. Bereitwillig gibt er die letzten Seiten aus dem Buch der Bilder, bis auf die allerletzte Seite. Und doch sind es noch so viele Leute, die einen neuen Namen für die Nacht suchen und ihn erst höflich, dann unruhiger bedrängen.

 

Da schaut er sie lange an und dann, zum ersten Mal, weist Jason Walker sie ab. 

 

Er sagt: „Kein Recht habt ihr, mich zu bedrängen, denn ich bin nur der Bote und nicht die Nachricht, nur der Ort aber nicht die Zeit. Ich gehe nun zum Marktplatz. Noch eine Aufgabe habe ich zu erledigen. Wer aber mich aufhält oder mich bedrängt, dessen Namen werde ich jemand anderem verschenken! Ich werde nicht noch einmal damit drohen. Ich werde es tun!“ Und damit funkelt er sie an und geht hinab zum Marktplatz.

 

Da schauen sich die Zuschauer untereinander an, unsicher, denn sie haben ihn nicht verstanden und keines seiner Worte begriffen. Aber sie haben Angst, ihre Namen für den Tag zu verlieren und da weichen sie von ihm, erst mürrisch und langsam, dann schnell und nachgebend, wo sein Fuß hintritt. Er aber schreitet den Weg hinab zum Marktplatz.

 

Unten tritt er an den Stand mit den frischen Früchten, den Kirschen des Sommers, die noch warm sind von der inneren Kraft und dem guten Boden, auf dem sie gedeihten und warm von den kleinen Händen, die sie so liebevoll gepflückt haben und der jungen Marktfrau gehören, die an ihrem Stand auf ihn wartet, während sie sich verlegen durch die dunkelbraunen Locken streicht. Und die Menge, die ihm nachläuft, teilt sich, wohin er geht. Am Kirschstand aber findet er endlich die junge Frau, die er gesucht hat und ihre braunen Locken tanzen im Kühler werdenden Herbstwind. Sie kichert als sie ihn sieht und zieht den großen, königsroten Schal enger um die Schultern.

 

Da weist sie ihm einen Schemel und beide setzen sich und sie stellt eine Schale mit großen, warmen Kirschen zwischen sie. Dann blicken sie sich lange an und sie legt ihm behutsam eine Kirsche in den Mund. Jason Walker schließt die Augen und lässt das Aroma seinen Körper, seinen Geist ein letztes Mal durchströmen. Dann seufzt er und schlägt das Buch der Bilder auf. Darin befindet sich die letzte Seite. Darauf geschrieben das Gedicht mit dem Titel „die Braut“. Dann beginnt er für sie zu lesen:

 

Ruf mich, Geliebter, ruf mich laut!


Laß deine Braut nicht so lange am Fenster stehn.


In den alten Platanenalleen 
wacht der Abend nicht mehr:
sie sind leer.



Und kommst du mich nicht in das nächtliche Haus 


mit deiner Stimme verschließen,


so muß ich mich aus meinen Händen hinaus 


in die Gärten des Dunkelblaus 


ergießen ..

 

Er lässt das „Ergießen“ von den Lippen fliessen, als lasse er die  Welle eines Ozeans von den Lippen gleiten. Dann schweigen beide eine lange Zeit.

 

„Du hast mir einen Namen gegeben für den Tag“, sagt Jason Walker und die junge Frau nickt und lächelt: „Ja, denn du bist namenlos in dieser Welt. Das ist schlimm“. 

 

Jason Walker blickt hinaus auf den Ozean, die Wellen, den Meerschaum, horcht auf das Rauschen der Flut.

 

Schließlich seufzt er erneut und schreibt einen Namen auf die Seite. Dann reißt er die Seite hinaus und übergibt sie der jungen Frau. Ganz nah kommt er mit seinen warmen Lippen, die noch aus dem Sommer stammen an ihr Ohr, das erst den Herbst noch überstehen muss, und flüstert ihren Namen für die Nacht: „Fayahriel“.

 

Und dann verschwindet er vor ihrer aller Augen und man erzählt sich noch heute diese Städterlegende mit einem halb schmunzelnden, halb furchtsamen Flüstern, denn auch wenn heute niemand mehr glaubt, dass damals wirklich Menschen dem großen Verschwinden anheimgefallen sind, sind doch in letzter Zeit zu häufig einzelne Plätze leer geblieben, hinter Säulen, auf verschatteten Parkbänken, im Bus zum Friedhof. Und wer heutzutage große, warme Kirschen kaufen möchte zur Zeit des aufziehenden Herbstes, der wird es schwer haben, denn sie sind nicht mehr das, was sie einmal waren. So flüstern die Alten. 

 

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