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Menschen sind nichts als Schlingpflanzen im Treibsand


Hera Klit

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Menschen sind nichts als Schlingpflanzen im Treibsand

 

Ich ziehe meiner Schwester die Jeans über den bewindelten Hintern.
Sie hat immer noch die Figur der Sportlehrerin,
aber ihr Hirn wurde von der MS inzwischen stark perforiert.

Sie hat sich wieder den Katheter rausgerissen und die
einzige Schwester, die ihn reinbekommt, hat heute frei.

 

Mutter mosert über den Uringeruch, als
ich ihre Tochter über die Schwelle schiebe.
Wie konnte ich sie so rüberbringen?
Ich schweige, weil Schweigen
den Wutstrom in mir drinnhält.

 

Bin ich nun endgültig zum Dulder geworden?

 

Wir feiern heute zu dritt den sechsundsechzigsten meiner Schwester,
obwohl sie erst morgen Geburtstag hat.

Morgen ist Sonntag und ich komme immer mittwochs und samstags.
Alles in mir hält an dieser Regel fest, um dies alles irgendwie zu ertragen.
Ich feiere meinen Geburtstag seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr.
Ich bin es mir nicht wert und ich verachte Leute, die es sich wert sind.
Die Geilheit der Menschen aufs Geburtstagsfeiern regt mich entsetzlich auf.

 

Mutter und ich haben ihr Schuhe, eine Handtasche,
ein Top und Ohrringe gekauft.

Alles gefällt ihr sehr gut.
Sie scheint Sekundenbruchteile glücklich zu sein.

 

Sie hat jetzt einen neuen Pfleger, mit dem sie sich
eine Zukunft vorstellen kann.

Er ist sechsunddreißig und kommt aus Syrien.
Ich bringe meine Mutter zum Schweigen und
sage, dass wir nichts dagegen haben.

 

Die zweieinhalb Stunden ziehen sich wie Kaugummi,
dann schiebe ich meine Schwester zurück ins Heim.
Zweieinhalb Stunden verrückten Plänen lauschen,
mit der Angst, sie versucht sie tatsächlich umzusetzen, schlaucht.

 

Dies ist eben ihre Hochphase in ca. einer Woche,
wird sie wieder down und planlos im Bett liegen.
Auch nicht schön, aber entspannter für die Beteiligten.

 

Als ich zurückkomme, gesteht Mutter,
sie spüre, sie wird langsam wahnsinnig.
Vielleicht ist das das Beste, für uns alle?

Man lebt und lebt und irgendwann spült es einen
wie hirnverbrannte Küchenschaben den Ausguss runter.

 

Auf der Heimfahrt lausche ich der Rede von
einem, dessen Existenz mir bisher unbekannt war,
zur Verleihung des Hölderlinpreises.

Er lehne es ab, in Depression und Melancholie zu verfallen.

So schal und nichtssagend klingt auch sein Text, den er nun zum Besten gibt.

Warum bekommen in diesem Land immer die Luftpumpen die tollsten Preise?

Ich bedaure Hölderlin aufs Neue.
Das hat der Mann nicht verdient.
 

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