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I

 

"Schreib ein Gedicht darüber". Er zeigt auf die 105mm Howitzer, die von zwei jungen, unterernährten Privates mit einer Beehive Munitionsladung geladen wird, und grinst, die kalte, ausgebrannte Zigarre fest im Biss der erstaunlich makellosen Backenzähne. Erstaunlich, weil Seargant Bass schon ein Jahr im Dschungel stationiert ist, sich von schlecht verpackten Schokoriegeln, Bohnen und weichem Dosenfleisch ernährt und Trinkwasser hier in Südvietnam ohnehin eine Kostbarkeit außerhalb der Regenzeit ist. Man marschiert hier mit sehr wenig Möglichkeit für ausgiebige Zahnpflege. 

 

Als das Geschoss in den dichten Urwald feuert, ertönt ein Rauschen und Surren. Die kleinen, unzähligen Stahlpfeile  rasen in die Dunkelheit und suchen ihre Opfer: Weiche, warme Fleischsäcke, Körper, Organe, Knochen die durch ihre geschmeidige Struktur beim Auftreffen der Munition dafür sorgen, dass sich die Stahlspitzen im menschlichen Gewebe maximal verformen können und dabei so viel Schaden anrichten, wie möglich. Heute aber finden sich nichts, als die unzähligen Arme eines nahe stehenden Banyabaumes, erschreckte Fasane und ein paar Flughunde. Als das Dröhnen der Haubitze nachlässt und das Piepsen in meinen Ohren wider abklingt, legt er noch einen drauf: "Nenn es doch Flechettes, dein Gedicht. Könnte über ein Feuergefecht gehen, in dem eine Cherry nur mithilfe einer 105er und ein paar Ladungen Beehive überlebt". Er lacht und klopft mir auf die Schulter, während sich sein Blick seltsam in mich bohrt und plötzlich verfinstert. Die leichte Berührung seiner Pranken verwandelt sich in einen Schraubstock um meine Schultern. Er spuckt die Worte zwischen dem Zigarrenstummel mit solcher Verachtung hervor, dass mir übel wird: "Unser Batallion hat alleine im November 200 Leue verloren. Die haben dich zum sterben hergeschickt, Cherry! Denkst du, ich wüßte nichts von deinen Versuchen, den Dienst zu verweigern. Hör zu, mir ist es egal, ob einer verzärtelnde Antikriegsgedichte schreibt, ob er Lieder singt oder ganz die Fresse hält. Aber eins muss dir klar sein, Cherry: Dein einziger Griffel ist ab jetzt das M16 und dein Notizblock sein Reinigungstuch. Wenn ich dich hier nur einmal schreiben sehe, brauchst du keinen Feindkontakt mehr. Verstehen wir uns? "

 

Ich versuche seinem Blick Stand zu halten, doch es ist vergebens. In seinen schwarzen Augen liegt der Tod längst im Hinterhalt. Ich schlucke und sammle allen Mut. Dann nach einer gefühlten Unendlichkeit schaue ich auf und wage doch ein Widerwort: "Liebesgedichte."

 

II 

 

Wir marschieren neben den Wegen ohne jeglichen Feindkontakt. Nervös halte ich das M16 dicht an meine Brust. Sie sagen es sei selbstreinigend, doch das ist eine Lüge. Ich habe mich mit einem Schwarzen aus Louisville angefreundet. Sein Name ist Joseph. Er hat mir erklärt, dass ein ganzes Platoon ausgelöscht worden war, als bei Feindkontakt das M16s Ladehemmung hatte. Sie haben noch im Kampf versucht die Waffen zu zerlegen. Seitdem reinige ich mein M16 zwei Mal am Tag, auch wenn die anderen ihre Witze machen. 

 

Die booby traps der NVA haben sich einen jungen Leutnant geholt. Er ist einfach auf den Weg gerannt in Richtung Hügel, auf den wir seit Tagen zu marschieren. Er hat keine hundert Meter geschafft. Ich habe das erste Mal ein lebendiges Wesen explodieren sehen. Kein Gebet, kein Begräbnis, kein Abschied nehmen. Nur Fleischstücke überall. Und Reste von Knochen und Gehirn. Ich bin 19 Jahre alt. Ich schreibe Liebesgedichte für Nancy und manche davon sind in der Lokalzeitung veröffentlicht worden. Ich möchte gerne überleben. 

 

Die Trockenzeit hat eingesetzt und wir haben unsere Gallone am Mann längst ausgetrunken. Ich musste noch niemals Mangel leider. Ich denke an das frische Wasser aus dem Brunnen hinter der Farm und ich merke, wie Tränen in mir aufsteigen. Ich sehe das Wasser von Blätter tropfen, wünschte, ich könnte das Wasser aus den Stielen der gigantischen Lianen pressen und selbst beim pissen denke ich nur an Wasser. An klares, kaltes, frisches Wasser. Zuletzt hat Sergeant Bass seine letztes Wasser schweigend unter uns Frischlingen verteilt. Er ist schon alt, beinahe 28 Jahre. Ich hasse ihn leidenschaftlich, weil er mich mit meinen Gedichten aufzieht und mit meinen Ängsten. Aber er hat das Herz am rechten Fleck und Joseph sagt, dass er so streng mit uns ist, damit wir überleben. Das ist banal. Aber es ist wahr. Das Platoon vertraut ihm, auch die, die schon länger dabei sind und ein oder zwei Mal Feindkontakt hatten. Aber von der alten Besetzung sind nur noch zwei Mann am leben. 

 

Ich traue meinen Ohren nicht, als der Läufer zurückkommt und von einem Fluss unten in der Senke berichtet. Sofort marschieren wir alle hinab. Die Blutegel spüre ich schon fast nicht mehr. Sie sind überall und wir versuchen sie uns gegenseitig abzupflücken, bevor sie groß werden. Die Landegel sehen so klein und harmlos aus. Nur die Wasseregel sind schon groß, bevor sie sich an dir festsaugen. Sie sind lästig aber sie übertragen wenigstens keine Krankheiten wie die gefürchtetsten Feinde des Dschungels, direkt nach der NVA, die Stechmücken.

 

Wir treten aus dem Wald hinaus in die Senke. Dort fließt tatsächlich der Fluss und wir nähern uns vorsichtig, wie ausgehungerte Raubtiere. Das Rauschen des Wassers in meinen Ohren tut so gut. Ich denke an Nancy und wie wir beide im Pavillon im Garten sitzen und uns Gedichte vorlesen. In meiner Erinnerung haben wir nichts getrunken aber jetzt sehe ich sie genau vor mir, mit einem großen Krug Wasser und bis zum Überlaufen gefüllte Wassergläser stehen überall. Dann sind wir beim Fluss und gerade als wir unsere Kanister auspacken und in das fließende Wasser halten, raschelt es von Gegenüber und wir trauen unseren Augen nicht, als eine Gruppe nordvienamesischer Soldaten aus dem Urwald tritt. Sie halten sofort inne, als sie uns sehen. Doch sie lassen ihre Gewehre baumeln und halten die Trinkflaschen noch. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich klammere mich an das M16 und versuche meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Auch Joseph neben mir hält mit beiden Händen das Gewehr. Er zittert. Wir alle schauen zu Sergeant Bass, der langsam seinen Kanister hoch hält und aufsteht. Die Feinde halten ihrerseits ihre Trinkflaschen hoch und nähern sich ganz langsam, die Gewehre abgewandt. Die Luft ist zum zerreißen gespannt. Dann haben sie das andere Flußufer erreicht. Es sind zehn Mann, zwei weniger als wir. Sie knien sich langsam nieder, beginnen zu trinken und ihre Flaschen zu füllen. Sergeant Bass deutet uns, die Waffen zu senken und beginnt selber damit seinen Kanister zu füllen. Die unwirkliche Szene dauert nur Minuten, aber tatsächlich verabschieden sich unsere Gruppen voneinander mit einem ernsten Kopfnicken. Bald haben wir uns wieder in den Dschungel zurückgezogen, als Bass uns um sich schart: "Zu keinem ein Wort davon. Was hier heute geschehen ist, ist ein Wunder und darüber spricht man nicht", raunt er, spuckt seine Zigarre auf den Dschungelboden und beginnt den Aufstieg. Bis wir oben sind spricht keiner mehr ein Wort. 

 

Ich denke an Wunder. Ich krame Nancys Strumpfband aus meiner Brusttasche. Sie hat es mir zum Abschied gegeben. Wir haben es auf der Rückbank meines alten Ford Mustang getrieben und als ich in sie eingedrungen bin, war es wie ein Wunder. Und darüber spricht man nicht.

 

III

 

Wir sind in einen Hinterhalt geraten und liegen unter heftigem Beschuss. Das ganze zweite Batallion mit dem wir uns auf dem Hügel vereinigt haben, ist in heftige Kämpfe verwickelt. Wir haben überall Feindkontakt. Der ganze Hügel ist von Feinden durchzogen. Zwei Mörsergranaten sind neben mir und Joseph eingeschlagen und haben eines unserer M60s ausgeschaltet. Die beiden MG Schützen liegen in Fetzen gerissen um die Stellung verteilt. Joseph hat ein Stück Gehirn abbekommen und wischt sich zitternd das Blut des MG Schützen aus dem Gesicht, während er sein M16 in die Dunkelheit feuert. Ich höre das verräterische Rauschen der Stahlrohre der feindlichen Mörser. Der Feind muss sehr nah sein. Aber die Dschungelwand vor uns ist so dicht, dass wir nicht einmal die eigenen Leute sehen können, die sich links von uns befinden. Ich höre den Einschlag der Granaten und Mörser und dann höre ich Männer schreien. Es gibt kein schrecklicheres Geräusch, als junge, sterbende Männer schreien hören. Sie schreien um Hilfe. Sie schreien nach ihrer Mutter. 

 

Dann zerreißt ein heller Blitz die Dunkelheit und ein ohrenbetäubender Knall folgt. Als ich wieder aufwache, liege ich auf dem Rücken in meinem Fuchsloch und kann mich nicht bewegen. Ich bin in die Tiefe geschleudert worden, direkt neben die Sandsäcke und das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet, denn Joseph , der links neben mir verschanzt war, liegt leblos halb über mich gebeugt. Ich nehme alle Kraft zusammen und rolle ihn von mir herunter. Er ist leicht. Viel zu leicht. Tränen schießen mir in die Augen. Ich zittere, kann meine Hände nicht am Körper halten und entlasse sie in ihre irren Bewegungen und Krämpfe. Ich spüre Flüssigkeit in der Kehle und denke erst, ich verschlucke mich an meinem eigenen Blut. Doch ich verschlucke mich bloß an meinem Schluchzen, an meiner Verzweiflung, an meiner Angst. Über mit steigen die Flares des Feindes auf und sie erklären die Heftigkeit des Angriffs. Alle Farben sind vereint, die der NVA, des Vietcong und der VR Chinesen: rot, grün, weiß und das tödliche Spiel der farbigen Lichter lässt mich an einen Christbaum denken, an die Schönheit der Kugeln, die Reflektionen der Gesichter darin, das glitzernde Geschenkpapier. 

 

Unter dem Weihnachtsbaum liegen die Glückskekse, die wir am heiligen Abend aufgebrochen haben. Ich nehme einen in die Hände. Weiße, grüne, rote Lichter strahlen und flackern um mich herum, auf mich herab. Ich nehme den Zettel heraus und lese. Und während etwas mich in die rechte Seite trifft und mir die Luft zum atmen nimmt, schreibt sich das Gedicht fast wie von selbst: 

 

Ungelebte Tage zu verschenken.

Nicht angebrochen. Noch 

immer in der ersten 

Uniform.*

 

* Abwandlung der Hemingway zugeschriebenen Kurzgeschichte „Babyshoes for sale“

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