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Einfach toll lebendig zu sein


Tobuma

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Es war ein heller, warmer Sommertag. Eigentlich wäre ich lieber in einer Kneipe bei einem Bier oder in der nächstbesten Badeanstalt gewesen.
Stattdessen hockte ich auf meinem Bürostuhl in der Gerichtsmedizin. Es war schwer, sich bei diesem Wetter auf seine Arbeit zu konzentrieren: Obwohl ich mich durch Protokolle der Polizei arbeiten sollte, die über einen Tathergang erstellt worden waren, eigentlich mehr als interessant.

Doch die Hitze war wirklich schlimm und dann keine Klimaanlage...das machte uns allen im Institut für Kriminologie zu schaffen. Ein kühles Eis, vielleicht auch ein Bier, dachte ich mir, würde jetzt genau passen. Sich durch Polizeiakten wühlen, war wirklich nichts für dieses Wetter.


In diesem Augenblick stürmte mein Chef Dr. Rasch, der Leiter des Institutes, ins Zimmer. Ich mochte und schätzte ihn sehr: ein kleiner, gesprächiger, drahtiger Mann, der häufig vor Ideen übersprudelte und mit dem man ausgezeichnet diskutieren konnte. Er gab einem nie das Gefühl wissensmäßig unterlegen zu sein, sondern forderte Widerspruch geradezu heraus. Ein guter Mentor, von dem ich viel lernen konnte, gedanklich ständig in Bewegung und jederzeit für eine Überraschung gut. Ihm verdanke ich viele wichtige Einsichten über die Wissenschaft, die Menschen und das Leben.


„Hey Tom , Sie wollten doch immer mal an einer Demonstration im Leichenschauhaus teilnehmen. Professor Schneider hat uns eingeladen", sagte er, „drüben ist es schön kühl, schon wegen der Leichen. Kommen Sie, wir schauen uns das gemeinsam an. Frank, Andy und Jenny, (das waren andere Mitarbeiter des Institutes) wollen auch mit, sie sind schon draußen."


„Warum nicht", nickte ich, „vielleicht ist das ja wirklich eine Abwechslung" und schloss mich ihm und den Kollegen an, die, in lockere Gespräche verwickelt, draußen auf dem Gang standen.
Von der Tür unseres Instituts aus waren es nur ein paar Schritte, bis wir das schmale Gebäude erreichten, das bis auf den weißen Anstrich wie eine Militärbaracke aussah. Wir drängten uns vor der kleinen, schmalen Eingangstür, die plötzlich von innen geöffnet wurde. Ein langer Kerl in weißem Kittel grinste uns an und winkte uns herein.

„Nur keine Hemmungen, kommen sie doch einfach in unsere gemütliche Stube, hier gibt´s was zu sehen. Ich bin der Hausmeister hier. Professor Schneider werden Sie gleich sehen, dann geht es los".


Sein dunkler Bass wirkte beruhigend. Er war der "Kustos", des Leichenschauhauses, der dem Chef, wie ich gehört hatte, von Zeit zu Zeit zur Hand ging. Kaum waren wir durch die Tür und hatten sie hinter uns geschlossen, verstummten die Kollegen aus der Gruppe, die vorausgegangen waren, plötzlich.

Ein süßlich - stickiger, abstoßender Geruch stieg mir in die Nase, zog sich unangenehm bis in den Magen hinunter. Obwohl mir ein solcher Geruch noch nie begegnet war, kam mir schlagartig ins Bewusstsein, woran ich in meiner Naivität gar nicht mehr gedacht hatte. Der Geruch von Leichen, wie er in Krimis oder Geschichten vom Krieg so häufig beschrieben wird, machte mir echt zu schaffen. Spontan wollte sich mir der Magen umdrehen, am liebsten wäre ich umgekehrt und hätte das Weite gesucht. Aber, vor den Kollegen und meinem Chef schwach werden, das wollte ich nun wirklich nicht, also riss ich mich zusammen.


Diese Blöße wollte ich mir nicht geben. Eine gewisse Neugier war mir, trotz der aufkommenden Furcht, geblieben. Schwer Kranke und dem Tode Geweihte hatte ich schon gesehen, eine richtige Leiche bisher nicht.
Also trottete ich einfach hinter den anderen her, bis wir einen grün - weißen Saal kamen, der unnatürlich grell im Neonlicht erstrahlte. Meine Kollegen gruppierten sich, den Anweisungen des Kustos folgend, um einen der in der Mitte des Raumes stehenden Seziertische.

Vor dem Tisch, den darauf liegenden Körper eines älteren Mannes halb verdeckend, stand ein untersetzter Mann mit weißem Kittel und randloser Brille. Seine kleinen, wasserblauen Augen, die neben seiner dicken, roten Nase fast wie Beiwerk wirkten, schauten uns mit lebhafter Neugier an.
„Aha, da sind Sie ja.... schön, schön so, alles zukünftige Kollegen, vermute ich. Ich bin der “Leichen Schneider“ und für den ganzen Schlamassel hier verantwortlich", bemerkte er mit einem spöttischen Lächeln um die Lippen und gab Dr. Rasch die Hand. „Dann können wir ja loslegen, wieder interessantes Material verfügbar, sie werden sehen, Wissenschaft kann selbst hier Spaß machen".

Er wandte sich der neben ihm liegenden Leiche zu.
„Schauen Sie her", sagte er. Seine warme melodische Stimme stand im Gegensatz zu den grünen Kacheln, die den Raum bis in Mannshöhe auskleideten.
Ich hatte jetzt freien Blick auf das gelbe, faltige Gesicht eines alten Mannes, dessen Kopf und Füße irgendwie fremd unter dem weißen Leinentuch hervorschauten. Eigentlich gar nicht so schlimm, dachte ich, wenn dieser Geruch nicht wäre, konnte man meinen, er schläft.


„Selbstmord, aber einer der besonderen Art", sagte Professor Scheider in seinem weißen Kittel jetzt fast genüsslich und zeigte dabei auf die Stirn des Alten. „Fällt Ihnen was auf? Irgendeine Besonderheit? Nein? "
Automatisch schauten wir alle genauer hin.
„Na gut, sehen Sie hier das gezackte Loch in der Stirn? Was sagt uns das?"
Dieses kleine Loch, das ich jetzt auch sehen konnte, war mir bei meinem Versuch, irgendwie Fassung zu bewahren, bisher nicht aufgefallen: Ein kleines, dunkles irgendwie gezacktes Loch, wie das schwarze Daumenzeichen, das man am Aschermittwoch auf die Stirn gezeichnet bekommt.
„Unzweifelhaft ein Schuss mit einem aufgesetzten Bolzen - Schussgerät, schneller Tod," sagte er mit noch immer gleichbleibender, angenehmer Stimme. „damit werden normalerweise Schweine oder Rinder im Schlachthaus getötet.... Man muss schon ganz schön verzweifelt sein, um sich so ein Ding selbst auf die Stirne zu setzen.

"
Jetzt schwang so etwas wie Erregung in seiner Stimme mit, während er forschend über den Rand seiner Brille schaute und seine Stirn in wellige, breite Falten legte.
„Es gibt gar keinen Zweifel, sehen Sie? Sehen Sie den eingerissenen Rand an mehreren Stellen der Schusswunde?"
In unser bejahendes Murmeln tönte provozierend eine weitere Frage:
„Und woran kann man erkennen, dass es kein Pistolenschuss war?"

Seine Augen waren nun fast zu zwei Schlitzen geworden.
„Dann gäbe es einen Einschlag mit glatten Rändern und Pulverspuren", sagte der Kollege neben mir ganz selbstverständlich.
„Genau richtig", sagte Schneider und ein zufriedenes Lächeln glitt über sein Gesicht, bevor er sich daranmachte, mit einem spitzen Instrument die Stellen anzuzeigen, an denen sich bei einem Schuss aus der Nähe für gewöhnlich das Pulver abzusetzen pflegt.
„Hier, genau hier, würde man es sehen können, todsicher.“
Bei diesem Wortspiel grinste er fröhlich vor sich hin. Dann wurde der Seziertisch vom Kustos lautlos hinausgefahren. Ich warf einen letzten Blick auf die Leiche, deren Arme nun in Bewegung gerieten und durch die Fahrt hin - und herpendelten. Wie eine Marionette durchzuckte es mich und für einen Augenblick kam mir diese Vorstellung komisch vor.
„Holen sie jetzt das Kind, das von dem tragischen Unfall, Eddy", sagte Schneider zu einem Helfer, der plötzlich, wie aus dem Nichts aufgetaucht war. „sie wissen ja, wo es liegt."


Mir fielen sofort die kleinen Blutspritzer auf, die sich über die Vorderseite von Eddys Kittel verteilten und seine dicken, fleischigen Hände, die wohl vom Waschen leicht gerötet waren. Er verschwand für eine Weile, während Schneider unruhig hin und herging und auf sein Wiedererscheinen wartete. Als Eddy endlich den Kopf tief gesenkt, so als würde gleich ein Strafgericht über ihm zusammenbrechen, aus einer Seitentür auftauchte, schaute er von der Seite ganz schüchtern, ja verlegen, und ratlos auf seinen Boss.
„Is nich da, kann es nicht finden, das Kind, weiß auch nicht...", sagte er fast flüsternd und schaute dabei hilflos in die Runde, so als könne er von da Hilfe erwarten „…war gerade noch da, und jetzt isses weg, das Kind", wiederholte er nochmals, wie zur Bekräftigung.
Dabei schaute er Schneider an, dessen Stirn sich für einen Augenblick, so als wollte er jeden Augenblick losbrüllen, zusammenzog. Dann aber entspannten sich seine Züge und hinein in die Stille, die uns plötzlich wie eine Wand umgab, tönte seine Stimme bestimmt:
„Eddy, also wissen Sie, das kann doch gar nicht sein. Versuchen sie einfach nochmal. Sie haben sicher nicht richtig nachgesehen. Wenn das Kind nicht mehr in Box 8 ist, muss es ja irgendwo anders abgeblieben sein. Kann sich ja nicht selbstständig entfernt haben oder?... also wissen sie..."
Eddy trottete mit eingezogenen Schultern wieder davon.
Mit einem prüfenden Blick schaute Schneider zu uns und wandte sich einem der weiteren Seziertische zu, die mit Leinentüchern abgedeckt waren.
„Dann müssen wir uns halt solange mit den Fällen hier befassen." Er deckte ein weißes Tuch auf und begann Stück für Stück einige Organe - Leber, Milz, Magen - aus einer weißen Emaille Schüssel zu nehmen. Sehr detailliert mit Finger und Messer arbeitend, zeigte er Verformungen, Quetschungen, Wucherungen und farbliche Veränderungen auf, um uns deutlich zu machen, aus welchem Grund die Körperteile nicht mehr funktionstüchtig sein konnten und dadurch den Tod ihrer Besitzer herbeigeführt hatten.
Die bereits "abgehandelten" Organe und Körperteile warf er in einen großen blauen Plastikeimer, der sich neben dem Seziertisch befand.
Als er unser Befremden über diese Vorgehensweise bemerkte, sagte er lachend:
„Sie brauchen keine Sorge zu haben, das wird nicht einfach weggeworfen, wir sind ja keine Unmenschen. Wird alles wieder schön zugeordnet und möglichst in den Körper eingenäht, dem es gehört."
Ich muss zugeben, dass ich mich nur noch schwer konzentrieren konnte. Schlachthof ist nichts dagegen, dachte ich.
Obwohl ich es mir eigentlich hätte denken können, dass man die Arbeit in einem solchen Institut nicht anders aushalten kann, war ich doch mitgenommen. Der Gedanke, dass ein totes Kind nicht gefunden werden kann und man Organe oder Körperteile von Menschen in Eimer wirft, die damit jegliche Zugehörigkeit zu einem Köper, einem bestimmten Menschen, verlieren, das machte mir schon zu schaffen.
Als Eddy dann nochmals den Raum betrat und versicherte, er habe das Kind bei bestem Willen wirklich nirgendwo finden können, brach der Professor die Demonstration ab.
„Tut mir wirklich leid, hätte ich Ihnen gerne noch gezeigt. Ist unter einen Lastwagen geraten, die Kleine, sowas sieht man wirklich nicht jeden Tag, " sagte er bedauernd. „Ich werde mich wohl jetzt selbst um die Angelegenheit kümmern müssen, das ist wirklich schade. Ich bedanke mich für Ihr Interesse. Wenn Sie wollen, schauen Sie einfach an einem der nächsten Tage nochmal vorbei ".
Damit verschwand er eilig in einem der Gänge, Eddy dienstbeflissen hinter ihm.


Wir verließen das Gebäude fast fluchtartig.
Dr. Rasch kam später zu mir ins Zimmer. Er hatte wohl gemerkt, dass ich betroffen war.
„Nehmen Sie´s nicht so schwer, Tom ", sagte er, „Das ist das wirkliche Leben. Der Tod gehört dazu, auch wenn wir das nicht so gerne wissen möchten. Ich bewundere Schneider, der seinen Job wirklich beherrscht. Glaube, ich könnte das nicht, muss man ein Typ für sein. Wer eine solche Arbeit annimmt, muss seine Gefühle dabei im Griff haben, sonst kann er den Job auf Dauer nicht ertragen. Wir brauchen solche Menschen, damit wir sicher sein können, dass ein Mensch eines natürlichen Todes gestorben ist. Darüber hinaus kann die Medizin aus den Ergebnissen solcher Untersuchungen Schlussfolgerungen für den Schutz der Lebenden ziehen".

 

Dann fuhr er fort;
„Ich möchte Ihnen noch eine kurze Geschichte aus meiner eigenen Vergangenheit erzählen, die mich damals umgehauen hat:
Es war einige Monate nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Wir waren damals noch nicht so gut organisiert und ausgestattet wie heute. Es gab noch keine Autos für den Transport der Toten. Meine Aufgabe, als junger Arzt, war es, Menschen, die gerade gestorben waren, zu untersuchen, ihren Tod definitiv festzustellen und den Totenschein auszustellen. Eines Tages legten ein Gehilfe und ich, weil wir kein anderes Transportmittel besaßen, einen älteren Mann auf einem Karren, um ihn in die Gerichtsmedizin zu fahren. Er war, da war ich mir ganz sicher, tot. Die Ursachen seines Todes waren aber, nach Aussagen der Verwandten, nicht ganz eindeutig. Wir wollten deshalb natürlich gerne wissen, woran er eigentlich gestorben war und, ob er eines natürlichen Todes gestorben war.


Auf dem Weg zum Leichenschauhaus mussten wir den Karren über ein Stück Kopfsteinpflaster schieben, die Leiche schuckelte hin und her und plötzlich, völlig unerwartet geschah das Unglaubliche:
Wir hörten merkwürdig, gurgelnde Töne, der Tote bewegte sich ruckartig, erhob sich und schaute wie benommen um sich. Meinem Helfer und mir blieb fast das Herz stehen, wir waren fassungslos. Der Tote war plötzlich wieder lebendig geworden, das war gespenstisch.
Ich darf heute noch nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn wir ihn wie üblich seziert und damit vielleicht im Nachhinein umgebracht hätten.
Die Vorstellung von diesem Ereignis hat mich jahrelang in meinen Träumen verfolgt und sie können sicher sein, ab da gab ich mir - obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war - noch mehr Mühe als zuvor, bei jeder Untersuchung mit höchstmögliche Sorgfalt vorzugehen."
Dr. Rasch verabschiedete sich kommentarlos und ließ mich mit meinen Gedanken allein.


Als ich später, nach getaner Arbeit, das Institut verließ und in die frische Abendluft hinaustrat, atmete wiederholt tief ein und ließ die laue Sommerluft an meinem Gesicht vorbeistreichen. Einfach toll lebendig zu sein und die Welt um sich herum bewusst wahrnehmen zu können.
Zum ersten Mal fand ich das Hupen der Autos, die schwüle Hitze und das hektische Drängen der Menschen auf meinem Heimweg als wirklich wohltuend.


© Thomas W. Bubeck “Buntes Leben“ 16

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Lieber Tobuma,

 

die Atmosphäre in der Pathologie ist gut beschrieben (ich habe sie auch als beklemmend empfunden) und das befreiende Gefühl (ein "ich" fehlt hinter "atmete) und der Lebenshunger nach dieser ernüchternden Erfahrung sind nur allzu verständlich.

 

Interessiert und zustimmend gelesen.

LG g 

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Lieber Gummibaum,

Dank dir für Deinen Kommentar.Diese Geschichte, die nun schon Jahrzehnte

zurückliegt, hat mich nicht mehr losgelassen, weil mir bewußt wurde,wie

zebrechlicht der Mensch ist und dass er mit seinem Leben und dem Anderer

möglichst sorgsam umgehen sollte.

Über dem materiellen Tralala vergessen viele Menschen, dass es wichtigeres

gibt,als den äußeren Schein von Wohlstand und Besitz. Im Kopf und in der

Seele lebendig und frei zu werden und zu bleiben, sich zu entwickeln und das

Geschenk des Lebens ,so wie es ist, anzunehmen, darin besteht die Kunst.Sich

in den vielen Kleinigkeiten des Alltags unnötig aufzureiben, nimmt Lebenskraft

und führt  am Ende zu nichts.Man muss nicht alles ernst nehmen,was nach

Aufmerksamkeit schreit,weil schon morgen anderes wichtig zu sein scheint.

 

Dank auch für die positiven likes bei Donna,Sternenherz,Cornelius und Lydia J.

Ich wünsche euch einen guten Start in dieFebruar Woche.

 

Tobuma

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