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Im KOZ

 

Es gab diesmal ein Putenschnitzel mit Kartoffelbrei und feinen Erbsen mit Karotten. Ein Essen, das ich in der Mensa schon oft zu mir genommen hatte und das sogar mit Genuss.

Ich war einer der Studenten, die in einer geheimen Umfrage, die von der Verwaltung der Fachhochschule kürzlich durchgeführt worden war,

angekreuzt hatten, das Mensaessen sei gut. Die meisten fanden es mangelhaft.

Mit meinem Tablett in der Hand steuerte ich auf die Treppe zum KOZ zu, die etwas verborgen am Rand der großen lichtdurchfluteten Mensa lag.


KOZ bedeutete Kommunikationszentrum. Ich habe nie erfahren, ob dieser Name von Studenten aus Häme erfunden worden war

oder ob er irgendwann sogar offiziell vergeben wurde von den zuständigen Stellen.

Nichts an diesem nicht allzu großen Raum im Keller der Mensa, deutete darauf hin, es befände sich hier ein besonderes Zentrum,

das der Kommunikation in außerordentlichem Maße dienen könnte. Es standen dort dieselben einfachen Tische und Stühle wie oben.

 

Als junger aufstrebender, neuer und frischer Student hatte ich diese Treppe nach unten gar nicht wahrgenommen.

Es war für mich damals üblich gewesen, mit meinem gut gefüllten Tablett den nächst besten freien Tisch im Erdgeschoss anzusteuern,

ihn einzunehmen und dort oben mit geradem Blick und freundlichem Wesen allen Mitstudenten- und Studentinnen in ihr freundliches Gesicht hineinzulachen.

 

Aber diese Zeiten des Anfangs in Hoffnung auf eine große Zukunft waren lange vorbei.

Ich zählte nun zu den verlorenen Seelen, die die Regelstudienzeit längst weit überschritten hatten

und die sich jeden Mittag im KOZ einfanden, einem Auffangbecken der Gestrauchelten.

 

Man kannte sich und wusste ziemlich genau, wie viel Scheine dem einen oder der anderen dort unten noch fehlten.

Von machen wusste man, dass ein Studienabschluss für sie unmöglich geworden war. Man sprach das freilich nicht an,

sondern man tat ihnen gegenüber so, als wäre alles in Ordnung und als zweifele man nicht im mindesten daran,

sie könnten noch ein Diplom ergattern. Womöglich brauchten sie auch nur noch zwei, drei Semester, um selbst einzusehen,

wie sinnlos ihr Unterfangen war. Es konnte auch sein, dass sie sich noch eine Ausrede für ihre Familien zu Hause überlegen mussten, die immer noch fest an ihren Erfolg glaubten.

 

Es gab auch im KOZ, wie in jeder anderen Konstellation in der Menschen sich zusammenfinden, gewisse Hierarchien und Abstufungen.

Da waren die, die nach dem Essen noch Unterlagen herausholten, um sich auf irgendeine Vorlesung vorzubereiten, voller Hoffnung, dieses mal den Schein zu bekommen.

Dann gab es das breite Mittelfeld derer, die nur aßen und schwiegen und die nach dem Essen noch eine Zeit lang auf die Tischplatte vor sich starrten,

bevor sie behäbig wieder nach oben strebten. Weiter fortgeschritten in ihrer Hoffnungslosigkeit waren jene, die Skat oder Poker nach dem Essen miteinander spielten und laut lachten und grölten.
Spiele können viel Trost spenden und die Härte im Dasein mildern.

 

Die am schlimmsten dran waren, erkannte man daran, dass sie missmutig in ihrem Essen stocherten, kaum einen Bissen herunterbrachten und die egal,

was man zu ihnen sagte oder was man sie fragte, beharrlich schwiegen. Das waren die, so ahnte man, die ernsthafte Selbstmordabsichten hatten.

Es hatte Fälle von Selbstmord gegeben, das war bekannt.

 

Ich gehörte zu denen, die noch recht viel Hoffnung haben konnten. Ich war nur hier unten gelandet,

weil eine zerbrochene Liebe mich in einen starken Liebeskummer geschleudert hatte, der dazu führte, dass ich mindestens drei Semester

gar nicht an der Hochschule erschienen war. Zum Glück hatte ich die wirklich schweren Scheine schon vorher in unbeschwerten Zeiten

bestanden und musste jetzt nur noch die Scheine für sogenannte Laberfächer nachmachen. So nannten wir die Fächer, die nicht zu unserem Studienkern zählten,

die aber aus Gott weiß welchem Grund noch mitstudiert werden mussten.

Man konnte diese Fächer meist durch ein zweitägiges Pauken anhand der Mitschrift eines Kommilitonen bestehen, ohne je die Vorlesung besucht zu haben.

 

Mein Liebeskummer und die, mit dem Plötzlich-verlassen-worden-zu-sein einhergehenden Minderwertigkeitsgefühle, nahmen damals einen Großteil meiner Gedanken in Anspruch.
Wenn ich mich zusammen riss, konnte ich aber durchaus noch ein gewisses Leistungsniveau erreichen. Jedenfalls soviel, dass es für das Bestehen eines Laberscheines reichte.

Eigentlich hatte ich sogar eine behandlungsbedürftige Zwangsneurose, inklusive einer mittelstarken Sozialphobie entwickelt.

 

Ich musste oft meine Haare kämmen, denn ich redete mir ein, sie müssten völlig akkurat sitzen, sonst könnte ich der Menschheit nicht unter die Augen treten.

Eine ungeordnete Frisur war damals ein Schrecken für mich. Es konnte vorkommen, dass ich eine Vorlesung platzen ließ, weil ich meinen Scheitel nicht hinbekam.

Ich kämmte dann in meiner Studentenbude, die von meinen lieben Eltern finanziert wurde, stundenlang vor dem Badspiegel weiter, bis ich so ermüdet war, dass ich mich hinlegen musste.

Das passierte so eins zweimal die Woche, an den meisten Tagen gelang es mir schon, mit dem Kämmen noch so zeitig fertig zu werden, dass ich nur verspätet in die Vorlesung kam.

Es war dann natürlich schwer für mich, unter den genervten Blicken des Dozenten und der pünktlich dagewesenen Mitstudenten*Innen meinen Platz einzunehmen.

 

Einen kleinen Teil meines Gehirns hatte ich schon noch übrig, für ein Studium, das mich nicht im mindesten interessierte.

Ich kann bis heute nicht sagen, warum ich es überhaupt begonnen habe. Elektrotechnik, eins der ödesten Fächer auf Gottes Erden.

 

Ich hatte meinem Vater gesagt, ich möchte Journalist werden. Ich höre heute noch sein prustendes Lachen mit seinem Hinweis,

ein Mensch, der die Menschen am liebsten mied, sei zu allem imstande, aber nicht dazu Journalist zu werden.

Also wählte ich Elektrotechnik, ein Fach, bei dem man kein Mensch sein musste.

 

Nach meiner Trennung und meinem Zusammenbruch hatte mir mein Vater wieder einen Rat gegeben. Er sagte mir, es sei nun nötig,

dass ich mich etwas sammele und dass ich danach mit aller Kraft an dem Abschluss meines Studiums arbeite,

denn das sei der einzig mögliche Weg aus meiner Krise herauszukommen. Mit dem erlangten Diplom in Händen käme dann mein Selbstbewusstsein

wie von selbst zurück. Ich müsse nun geduldig und tapfer sein und vor allem nicht mehr an Mädchen denken, bis ich eine gute Stelle hätte und gutes Geld verdiente.

Er sei bereit, noch einige wenige Semester meinen Lebenswandel zu finanzieren, aber nur, wenn er sähe, dass ich fleißig arbeite und mich dabei durch nichts ablenken ließ.
Mein Frisurproblem verschwieg ich ihm und meiner Mutter sicherheitshalber.

 

Mädchen waren jetzt nicht gut für mich, das wusste ich selbst. Wie hätte ich neben dem Studium und neben meiner Zwangsneurose auch noch ein Mädchen zufriedenstellen können?

Ich hatte gerade meine Mahlzeit beendet und wollte mir eine Zigarette anzünden, da kam sie die Treppe herunter. Ein blondes Mädchen,

mit guter Figur und einer wirklich eng sitzenden Jeans, die zu meiner großen Überraschung auf meinen Tisch zusteuerte und fragte,

ob sie sich zu mir setzten könnte. Ich sagte tonlos ja und machte mir Sorgen, ob meine Haare wirklich ordentlich genug gekämmt waren, für diese unerwartete Begegnung.

 

Sie hatte auch das Putenschnitzel gewählt und fragte mich, ob ich es gehabt hätte und ob es einigermaßen genießbar sei.

Ich beteuerte, es habe mir gut geschmeckt und war froh, dass sie, als sie es zu essen begann, ein anerkennendes „Mhhh“, verlauten ließ,

das wohl anzeigen sollte, es schmecke ihr. Ich versuchte sie nicht aufdringlich anzuschauen und sie in Ruhe unbedrängt ihr Mahl einnehmen zu lassen.

Diese zurückhaltende Art meinerseits musste sie wohl beeindruckt haben, denn meistens waren Studenten ja Mädchen gegenüber wenig zurückhaltend.

Viele belästigten die wenigen Studentinnen der technischen Fächer durch plumpste Anmache. Ich hingegen schwieg und schaute in eine andere Richtung,

der festen Überzeugung, sie würde bald aufgegessen haben und verschwunden sein.

 

Ihre Anwesenheit an meinem Tisch bedeutete auch einen immensen Stress für mich. Ich wusste nicht, ob ich gut genug aussah,

besonders mit meinen Haaren, um von ihr ertragen zu werden.

Um so erstaunter war ich, dass sie nach dem Essen eine Zigarette von mir erbat. Ich gab ihr eine und durch gemeinsames Rauchen entstand

eine gewisse Vertrautheit zwischen uns und wir begannen sogar über unser Studium zu plaudern.

Sie erzählte mir, sie sei erst im zweiten Semester und nicht ganz sicher, ob Elektrotechnik das Richtige für sie war.

 

Ich beschloss im Stillen meine Abneigung gegen das Elektrotechnikstudium ihr gegenüber nicht kundzutun,

sondern mich als einen zufriedenen Studenten zu verkaufen, der bald sein Diplom in Händen halten würde und dann in der Industrie Fuß fassen würde.

Ein Dozent hatte uns nämlich am Anfang meines Studiums verraten, die meisten Studentinnen studierten nur Elektrotechnik,

um sich einen Studenten zu angeln, der sie später durchfüttert. Ich wusste nicht, ob das ein Witz gewesen war, zog aber in diesem Moment ihr gegenübersitzend,

durchaus in Erwägung, der Dozent könnte die Wahrheit gesagt haben.

 

Während ich mich mit ihr unterhielt, ihre Zugewandtheit als Chance deutend, brüllte mir meine Zwangsneurose ins Ohr,

wie ich denn glauben könne, ein Mädchen sei bereit, meine Kaputtheit auch nur einen Tag mit mir zu teilen.
Und natürlich war ich selbst der Meinung, alles zu benötigen, vielleicht hauptsächlich einen Psychiater, aber auf keinen Fall ein neues Mädchen,

das Ansprüche stellte und Anforderungen bedeutete.

 

Eine neue Liebe kann uns nicht heilen, sie verdeckt die Leiden am eigenen Selbst nur für kurze Zeit,

die dann um so stärker irgendwann wieder ausbrechen und alles, was bis dahin entstanden ist, wie eine Orkan hinwegfegen.

 

All das dachte ich, während ich versuchte ihrem Smalltalk zu folgen und vernünftige Antworten auf ihre Fragen zu geben,

die mich als einen weltoffenen, lebensfrohen Burschen präsentieren sollten.

Ihr Bleiben sagte mir, ich mache meine Sache gut und es ließ mich daran glauben, es sei etwas im Entstehen zwischen uns.

 

In den nächsten Tagen kam sie immer an den Tisch zu mir und eine schöne Vertrautheit entwickelte sich zwischen uns.

Einmal bat sie mich sogar sie in die Stadt zu fahren, sie wollte Wolle besorgen, weil sie so gerne strickte. Ich tat es und wir liefen auf den Straßen

der Stadt vom Parkhaus bis zu dem Laden nebeneinander her, als seien wir bereits ein Paar.

 

Ich muss auch jetzt noch sagen, sie war schön und sie entsprach genau dem Typ, auf den ich immer am meisten abgefahren bin.

Es gab nur ein Problem: Sie hatte einen Augenfehlstand, der ziemlich deutlich zu sehen war. Manchmal war ich nicht ganz sicher, ob sie mich ansah.


Als sie mir noch ihren Namen verriet, der zufällig der gleiche war, den meine Verflossene getragen hatte, war ich sicher,

das Schicksal hatte sie für mich bestimmt und ich war sicher, sie sogar, trotz ihres Makels, lieben zu können und keine andere jemals wieder begehren zu wollen.

Die Meinung meines Vaters, die zu erwarten war, wenn ich sie ihm vorstellte, würde ich in den Wind schlagen.

Es war ohnehin Zeit für mich, mich durchzusetzen und endlich erwachsen zu werden.

 

Freilich musste ich meine Haare, bevor ich meine Wohnung morgens verließ fast noch intensiver kämmen als sonst,

denn ich hatte doch eine schreckliche Angst meiner neuen Eroberung zu missfallen.
Ich stand deswegen um vier Uhr auf und hatte so genug Zeit, die Vorlesung um neun mit etwas Verspätung zu erreichen.

Meine Wohnung lag ja nur zwei Querstraßen neben der Hochschule.

Manchmal schaffte ich es auch nicht und dann litt ich Höllenqualen bei dem Gedanken, sie säße alleine im KOZ und irgendein Langzeitstudent

könnte sich ungehindert an sie heranmachen. Aber es gab eben diese Tage, an denen meine Neurose die Oberhand gewann, trotz rosiger Aussichten auf eine mögliche gute Zukunft für mich.

 

Ein normales Mädchen hätte ich mir zu jener Zeit nicht zugetraut, aber so rechnete ich ihren Makel gegen meinen auf und kam zum Schluss,

wir könnten miteinander schon zufrieden werden und ein ganz hübsches Leben zusammen führen, wenn auch mit Einschränkungen.

So kam dann der Tag, an dem ich im KOZ bei einer Mittagspause mit ihr, den Mut aufbrachte, sie frank und frei heraus zu fragen, ob sie denn ungebunden sei.

Darauf musste ich leider hören, sie sei mit einem Elektrotechnikingenieur liiert, der auch hier studiert habe und schon einen guten Posten in der Industrie bekleide.
Eine baldige Heirat sei geplant.

 

Ich konnte ihrem Blick nicht entnehmen, ob sie es bedauerte mir dieses Geständnis machen zu müssen. Ihr Mund lachte wie gewöhnlich.

Innerlich stürzte ich jäh ab, wie ein schlechter Kletterer, der an einer läppischen Bergwand scheiterte.

Das war der Tag, an dem ich beschloss, mein Studium endlich abzuschließen.
Dies gelang mir dann auch in sehr kurzer Zeit.

 

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