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Tagebuch-Eintrag von Heinz am 41.Tag nach seiner Trennung von Elvira:

Sie sind überall – die lebenden Toten – wir begegnen ihnen manchmal und wollen sie nicht wirklich sehen. Wir schauen weg, wenn diese Noch-Menschen mit starrem Blick, trüben, müden Augen und schleichendem Gang an uns vorbeigehen. Nichts ahnend welche seelischen und körperlichen Qualen sie erleiden müssen. Mitten im bunten Leben, im quirligen Gefüge von lauten Autos, eilenden Menschen oder Fußgängerzonen mit schön dekorierten Schaufenstern und einladenden Cafes, in die sie nie gehen können. Die Abgehängten unserer Gesellschaft, jene von Drogen zermarterte Körper mit Gehirnen, die nicht mehr richtig funktionieren – weibliche oder männliche Penner, die irgendwo in ihrer Black Box leben, unter den Brücken oder provisorischen Zelthalden, festhaltend an Alkoholflaschen, weil sie sich und ihr Leben aufgeben haben und die Alten, Gebrechlichen mit zu wenig Rente, allein gelassen mit den Monstern der Bürokratie, die sie nicht bewältigen können, um Hilfe einzufordern. Die psychisch Kranken, die mit sich oder imaginären Personen diskutieren, uns etwas Angst machen, weil sie aus ihrer Welt mit Halluzinationen oft nicht mehr herausfinden und wir diese Krankheit nicht verstehen wollen. Wir schauen weg, vielleicht peinlich berührt, vielleicht kurz nachdenkend, dass hier jemand Hilfe leisten sollte.

Doch die gut durchgetaktete Freizeit erlaubt kein Innehalten oder einen zweiten Blick und die  schweren Einkaufstüten mit den Designerartikeln warten auf das Verstauen in den Kofferraum unseres respektablen Gefährts, mit dem wir wieder in unser bequemes Leben nach Hause fahren.  Und während wir gut gelaunt vom Kino- oder Theaterbesuch am Abend ins nächste Pub gehen, auf einen Absacker, durchsuchen die lebenden Toten die Abfallkörbe nach leeren Flaschen. So wie an jenem Abend. Sie waren die letzten im Pub, Elvira bestand auf einen dritten Caipirinha. Auf dem Heimweg begegnete uns ein Mann im zerschlissenen Pullover und dreckiger Hose, der wohl eine Tüte Pfandgut ergattern konnte. Teilnahmslos stand er neben dem Schild mit blinkender Reklame auf dem schmalen Bürgersteig und machte Platz, damit unsere kleine Gruppe vorbei gehen konnte zum Parkhaus.  Zwei, drei Sekunden sahen wir in dieses eingefallene, fahle Gesicht mit den Falten, die sein uns unbekanntes Leben ins Gesicht gezeichnet hat. Walter sah ihn nicht gleich und rempelte selbst den Mann an. Walter ärgerte sich darüber und zischte dem Mann zu: Pass doch auf, u Pdenner-Zombie. Ich ging vor ihm und dachte kurz - muss das sein - unser junges Pärchen weiter vorne lachte und spekulierte laut, wie viel Pfandgeld  mit der Tüte Flaschen zu holen sei.  

Später, als wir, Elvira und ich noch ein Glas Wein tranken, bevor wir ins Bett gingen, dachten wir an den angenehmen Abend, an unsere guten Beziehungen, unser großes Netzwerk dass wir uns aufgebaut haben und wie gut doch unser abgesichertes Leben verläuft. Dass der siebte, der letzte in der Gruppe, ein Single, bei diesem Penner stehen blieb, kurz mit ihm sprach und ihm etwas gab, hatten wir nicht mitbekommen. Roland ist eher der Schweigsame unter uns.. Er schien immer über irgendetwas nachzudenken und zu grübeln. Er gehörte trotzdem dazu, ein Verwaltungsangestellter im gehobenen Dienst im Bauamt, kann immer nützlich sein, wussten alle.

Wie Heinz zu seiner Entscheidung kam

Ein paar Wochen später waren alle überrascht. Selten ging eine Initiative von Roland aus. Diesmal lud er in sein schmuckes Stadtrandhaus zum Sonntags-Brunch ein. Alle waren neugierig. Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren lebte er allein, hatte viel Arbeit mit seinem Vollzeitjob im Amt - das Haus hielt ihm eine Zugehfrau in Schuss. Mit edlen Pralinen oder einem guten Tröpfchen Wein bestückt, trudelte die Sechsergruppe der gehobenen Gesellschaft ein.

Angenehme Temperaturen luden auf die Terrasse ein. Der Tisch war für acht Personen eingedeckt. Weiter hinten sah man das reichlich angerichtete Buffet, und die Getränke zum Selbstbedienen, aufgebaut. Alle fanden lobende Worte nach der Begrüßung für Rolands Idee und im Vorfeld spekulierte man wegen dem Anlass - Geburtstag hatte er nicht. Elvira sprach ihren Verdacht laut aus, als es läutete und Wolfgang aufstand. Eine neue Liebe, er stellt uns heute sicherlich eine interessante Partnerin vor. Das ist doch nur Spekulation, warf Heinz, ihr Lebenspartner ein und erntete einen strafenden Blick von Elvira. Dich fragt ja keiner. Es ist für acht Leute eingedeckt, da kommt eine Neue, beharrte Elvira auf ihrer Annahme. Noch während ihr die anderen bejahend zunickten, sah man Roland mit einem größeren Mann auf sie zukommen. Smarter Typ, frisch rasiert, hell und elegant gekleidet, Mitte fünfzig. Roland stellte ihn vor: Das ist Wolfgang. Wir kennen uns noch von der Ausbildung in der Verwaltungsschule. Später waren wir im selben Ressort tätig. Der Mann lächelte unsicher, nickte grüßend und nahm Platz. Interessant, plapperte Elvira gleich drauf los. Roland hat Sie nie mitgenommen zu unseren Partys und Ausflügen. Nein, das war nicht möglich, antwortete Wolfgang und schwieg dann. Das Buffet ist eröffnet, lenkte Roland ab und dann ging die Esserei los. Manch derbe Witze fielen und als Walter schon zwei, drei Gläser von dem guten Wein intus hatte sprach er Wolfgang und mit seiner arroganten, oft aggressiven Art an. Es läuft alles etwas geheimnisvoll heute. Roland sagt auch nichts. Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, in welcher Behörde arbeiten Sie und wo wohnen Sie in der Stadt? In bin in keiner Behörde tätig, bis vor kurzem habe ich unter der Brücke geschlafen, hörten alle. Ja, wir kennen uns. Vor ein paar Wochen haben Sie mich angerempelt und mich mit Penner beschimpft. Elvira und Bettina schauten sich an, rissen die Augen auf – es war still am Tisch. Das ist ja, das ist ja unglaublich, was macht so einer hier, polterte Walter. Tina und Elias das jüngste Pärchen in der Runde tuschelte aufgeregt. Pfandflaschen ...war zu verstehen und der Rest hatte Fragezeichen im Gesicht. Alle Blicke fielen dann auf Roland und jeder wartete auf eine Erklärung.

Roland war gut darauf vorbereitet und stand auf. Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte. Wolfgang war der Beste in unserer Ausbildung und ich als junger Verwaltungs-Anwärter damals, wollte schon fast die Flinte ins Korn werfen, Da half mir Wolfgang durch mein emotionales Tief und unterstützte mich beim Lernen. Wir sahen uns später immer wieder mal im Job und gingen ab und zu auf ein Bier, wenn es seine Zeit zuließ. Dann erzählte er von seinem kleinen Sohn und wie stolz er auf ihn war. Ich wurde dann hierher versetzt, wir verloren uns aus den Augen und viele Jahre später las ich die Todesanzeige. Schwerer Autounfall durch einen Raser. Wolfgangs Sohn verstarb unverschuldet mit nur 16 Jahren, als er zu Fuß  nach Hause ging. Kurz darauf ging seine Ehe in die Brüche und Wolfgang musste wegen seiner psychischen Krisen lange Zeit in verschiedene Kliniken. Niemand stand ihm zur Seite, die sogenannte Freunde ließen nichts mehr hören und dann schlug das Wirrwarr der Bürokratie zu und er verlor alles, die Eigentumswohnung, das Auto, alles war weg. Wolfgang war wie ein Getriebener und mit seinem letzten Ersparten kam er in unsere Stadt. Doch der Kummer nagte weiter und weiter an ihm – er fing zu trinken an und eines Tages wurde beklaut. Alle Papiere und das Restgeld waren weg. Er floh aus der kleinen Pension die er nicht mehr zahlen konnte und hatte keinen Mut sich bei den Behörden zu melden. Seit fast zwei Jahren hauste er nahe bei der alten Fabrik, ihr kennt ja das Gelände. Neulich, als wir auf dem Heimweg vom Theater waren, habe ich ihn sofort erkannt und zu mir eingeladen.

Er wollte sich nicht gleich helfen lassen – aber ich sah, er schafft das nicht alleine. Gut drei Wochen hat Wolfgang bei mir gewohnt – jetzt haben wir ein kleines Appartement für ihn in Aussicht und die Anträge bei den Ämtern laufen gut an. Ich helfe Wolfgang wieder zurück ins Leben – mit kleinen Schritten aber mit neuen Zielen. Roland machte eine Pause und setzte dann neu an, bevor sich die verdutzte Runde äußern konnte.

Ihr müsst wissen, heute habe ich euch zum Abschiedstreffen eingeladen. Schon lange fühle ich mich in eurer Gruppe nicht mehr wohl. Es geht euch nur um Oberflächlichkeiten und viel um äußere Statussymbole. Damals als es mir nicht gut ging nach der Scheidung, da kam wenig Mitgefühl von euch. Ich spürte Schadenfreude und eure Worte wie:  Gut dass ihr keine Kinder habt, war zu wenig Anteilnahme. Wolfgang hat meiner Geschichte lange zugehört und mir seine Geschichten erzählt von den lebenden Toten da draußen und dass man viele von ihnen noch erreichen kann. Ihnen und ihrem Schicksal - eine helfende Hand anbieten – darum wollen wir uns kümmern, wenn Wolfgang wieder fester im Sattel sitzt. Wolfgang nickte und sagte leise danke, danke dir Roland für alles. Er war so eine Gesellschaft und das Reden in größerem Kreis nicht mehr gewohnt.  Es war wieder einen kurzen Moment still und alle schauten Wolfgang an. Tina und Elias sprangen auf. Tinas teures, dunkelblaues  Etuikleid verrutschte leicht, sie wurde laut:  Ja dann, dann ist ja alles gesagt, du warst schon immer so ein komischer, langweiliger Typ, Roland. Setzt uns einen Obdachlosen an den Tisch. Sie schüttelte den Kopf und Elias nahm ihre Hand und dann waren sie durch das Gartentor in Richtung Straße verschwunden.

Elvira fand als nächste ihre Sprache wieder. Und was soll das alles hier? Willst du uns ein schlechtes Gewissen machen? Steckst den Mann in saubere Kleidung und denkst er könnte intellektuell zu unserer Gesellschaft passen? Ihr abwertender Blick wanderte zu Wolfgang. Der wurde einen Tick bleicher und sah Elvira fest an. Wissen Sie was, dass was Sie von sich geben, tangiert mich wirklich nur peripher und ist obsolet für mich. Walter stand wacklig auf. Während Rolands Vortrag hatte er eine weitere Flasche Wein in Angriff genommen und kam so richtig in Fahrt. Meine Freunde beleidigen kannst du ja gut, du du … Seine Stimme versagte kurz, dann lallte er weiter. Mit meinen Steuern finanziere ich schon das ganze Flüchtlingschaos und unser deutsches Gesindel dazu. Der schafft es doch eh wieder nicht und säuft sich zu. Es klang wie Hohn  und als der betrunkene Walter wollte noch weitersprechen wollte, verhakte er sich am Stuhlbeim und fiel seitlich auf die Terrasse. Bettina, seine Frau, half ihm auf und zerrte ihn zur Haustür ohne ein weiteres Wort. Wir gehen auch, bestimmte die reiche, verwöhnte Erbin Elvira. Pech gehabt ja, aber uns so etwas zu präsentieren und unsere Gruppe schlecht machen, schimpfte sie zu Roland und warf Wolfgang einen verächtlichen Blick zu. Dann sah sie wie immer tonangebend ihren Heinz an, der nichts zu sagen hatte. Komm! Heinz stand auf.  Tut mir leid, Roland, viel Glück, flüsterte er dem Gastgeber noch zu.  Dann waren sie allein und Roland öffnete eine Flasche Bier und stoß mit Wolfgang an, der noch immer ein halbvolles Wasserglas vor sich hatte. Das war doch alles nicht nötig, ich hätte besser nicht da sein sollen, wagte Wolfgang seinen Einspruch. Genau so war es richtig, mein lieber Freund und schon längst überfällig. In den Spiegel der Wahrheit wollen viele nicht sehen.

Es ging auf den Abend zu, dann vernahmen sie das Dingdong der Klingel. Roland  ging zur Haustür. Heinz stand vor ihm. Du?, fragte er überrascht und sah den kleinen Koffer in seiner Hand. Gibst du mir auch Asyl für ein paar Tage? Deine traurige Geschichte, Wolfgangs Geschichte hat mich heute sehr bewegt. Dieser mutige Mann, der sich dieser Gesellschaft stellte hat mich beeindruckt, hat mich endlich zum Umdenken gebracht. Als wir zuhause waren hat Elvira ihre Freundinnen angerufen und erzählte theatralisch alles weiter. Sie verdrehte die Tatsachen, stellte sich als Opfer des Tages dar und entrüstete sich, wie du es wagen konntest jemandem wie ihr, eine Freundschaftsabsage zu erteilen. Ihr Reichtum, ihre Gier auf mehr und ihre Geltungssucht haben mich endgültig vertrieben von ihr.

Komm rein. Roland führte ihn lächelnd herein und dann saßen sie zu dritt bis tief in die Nacht im Wohnzimmer und fanden viele Gemeinsamkeiten. Heinz lernte einen intelligenten Wolfgang kennen – er verlor kein Wort über Elvira, sondern warf ein Goethe-Zitat ein: Sie bleiben stehen und vergessen, etwas aus sich zu machen – gefangen im Schutt der eigenen Eitelkeit. Wochen später las man einen kleinen Artikel mit einem Aufruf in der Zeitung und sah viele Handzettel bei den Kiosken liegen. Darauf stand:  Willst du nicht länger zu den lebenden Toten gehören, die in ihrer Black Box verharren? Wir helfen dir raus, trau dich und melde dich bei unserem neu gegründeten Verein unter der angegebenen Telefonnummer.

 

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