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Max Hayek ~ Ein Mensch der dich liebt (1930)


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EIN MENSCH, DER DICH LIEBT
 

Wenn du einen Menschen gefunden hast, der dich liebt, hast du das Kostbarste gefunden, das auf Erden gefunden werden kann. Dann ist der Schatz dein, den die Schatzgräber vergeblich suchen, die Feinperle über allen Wert, das Kleinod, von dem die alten Bücher sagen. Laß die andern auf Thronen sitzen, laß sie Reichtum haben, Rang und Würden, Ruhm, weltlichen Erfolg, laß sie große Gelehrte und Künstler sein: wenn sie keinen Menschen kennen, der sie liebt, sind sie arm in all ihrer Fülle. Liebe ist ein Wort für viele Dinge. Da läuft einer flüchtiger Freude nach, erreicht sie und nennt sie Liebe. Da liebt einer Tiere, da liebt einer die Natur, die Einsamkeit, die Gesellschaft, da liebt einer tote Gegenstände, Bequemlichkeiten, Speisen und Tränke. Da liebt einer einen anderen Menschen sogar — und liebt nur sich selbst in ihm. Und im Augenblick, wo er nicht mehr geliebt wird, endigt auch seine Liebe, die eine Liebe der Bedingungen und Bedenken war. Aber hier ist die Liebe des einen Menschen zum anderen Menschen gemeint, die Liebe ohne Bedenken und Bedingungen. Die eine wahrhafte, unsterbliche Liebe, die Liebe, die nicht von dieser Welt und doch von dieser Welt ist, die Liebe, die um der Liebe willen liebt. Die Liebe des einen Menschen zum andern Menschen, die sich frei gemacht hat von aller Sucht und Begier und deren oberstes Gebot durch das Wort »Dienen!« umschrieben wird. Diese Liebe ist langmütig und freundlich, sie eifert nicht und treibt nicht Mutwillen, sie ist demütig und stellt sich nicht ungebärdig.
Sie sucht nicht das ihre, läßt sich nicht erbittern, rechnet das Böse nicht zu, freut sich nicht am Ungerechten, doch an der Wahrheit, verträgt alles, glaubt alles, duldet alles — und höret nimmer auf. Ja, die Hymne des Apostels wird verwirklicht und dir vorgelebt durch den einen Menschen, der dich liebt. Vermag ein Mensch so zu lieben? Ist ein Mensch solcher überirdischer Liebe fähig? Er ist es, weil wahrhafte Liebe den Menschen mit überirdischer Kraft begabt. Weil die Liebe eines solchen Menschen gleichsam nicht mehr im Menschensein verwurzelt ist, im süchtigen Selbst, sondern im außermenschlichen Ich, das wandellos ist und über jeden Tod.
Ein Mensch, der dich wahrhaft liebt, ist dein bester Lehrer, dein gütigster Führer, dein weisester Berater. Er ist der Priester, der dich die heiligen Gesetze des Lebens erkennen läßt und dich so zum Menschen weiht. Er ist der Erwecker deiner reinsten Gefühle, deiner würdigsten Impulse, deiner edelsten Gedanken. Er ist vielleicht deine zweite Mutter oder dein zweiter Vater, und vielleicht fühlst du erst durch ihn, was eine Mutter oder ein Vater ist. Du darfst Fehler machen, irren, darfst ihn verletzen, beleidigen, erniedrigen, verkennen, geringschätzen: deine schlechten Taten werden vor diesem Menschen sein wie Wolken, die du selbst vor eine unwandelbar strahlende Sonne rückst, die nicht aufhören kann, dir ihr Licht zu geben. Wenn du ungläubig bist, wird dieser Mensch dich glauben machen an die ewigen Dinge, glauben an deine höhere Bestimmung. Ja, durch ihn erst wirst du erfahren und erkennen, was du bist und was du taugst. Niemand wird dich erbärmlicher machen, niemand erhabener. Durch ihn wirst du etwas vom Wesen Gottes erkennen und deine Vernunft, dein Besser-
wissen besiegt sehen. Denn was dieser Mensch dir offenbart, geht über alles, was die Wissenschaft offenbaren kann. Er ist das lebendige Opfer, das sich hingibt für dich, er ist der Verzicht, damit du nichts entbehren mögest. Ja, er verwirklicht ein überirdisches Prinzip. Ein solcher Mensch ist zurückgetreten aus den Reihen der übrigen Menschen, die spielen und dies Spiel das Leben nennen. Er scheint eingereiht in die Gemeinschaft der Heiligen,
denen Dienerschaft die eigentliche Nahrung und Wonne der Zeit ist, und die nur von einer einzigen Gewalt bis in die Tiefen ihres zarten Wesens erschüttert werden können: von der Gewalt der Unliebe.
Ein Mensch, der dich wahrhaft liebt, ist dir Heimat und Pol in dieser ziellosen, heimatlosen Welt, wo die Seelen darbend suchen und einsam sind in ihren Leiden und Freuden. Hast du einen solchen Menschen gefunden, dann mußt du nichts mehr suchen: dann ist der Schatz dein, die Feinperle, das Kleinod. Mache dich würdig, Schüler und Schützling eines solchen Menschen! Bedenke, Empfänger, Nehmer, Nutznießer einer solchen Liebe, daß die Tage für dich kommen, wo auch du ein solcher Mensch geworden sein mußt: Lehrer, Führer, Berater der andern! Denn viele sind, die nach solchen Menschen verlangen, und wenige, die zu geben vermögen, was verlangt wird.

Max Hayek (1930)

Aus „EIN MENSCH, DER DICH LIEBT“
Betrachtungen, Parabeln und Gedichte
von Max Hayek, Wien 1930


Music: Rion Riz
Bild/Rezitation: Uschi Rischanek

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