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Geschrieben am

 

Ich trinke eine Tasse Kaffee und
klicke durch die Medien, wie jeden Morgen.
Ist egal, was ich tu’, kein Chef wartet,
bin nur ein Rentner, der seine letzten Jahre sinnvoll vertut.
Ich lese, es steht nicht gut, um den berühmten Schauspieler (neunundachtzig).

 

Dann muss ich los, zu meinen Besuchsterminen.

Ich habe eine Mutter und eine Schwester im Pflegeheim
und beide balancieren im Grenzland des Todes.
Die eine ist siebenundachtzig und die andere siebenundsechzig.
Das Alter ist nicht die Eintrittskarte.

 

Ich besuche meine Lieben in ihren jeweiligen Heimen mindestens zweimal
pro Woche und dabei schreite ich jeweils eine Phalanx des Leidens ab:

 

Verschiedene Mütter und Väter, die ihre Töchter und Söhne nicht mehr erkennen.
Die einen lachen mich an, andere weinen mich an und stammeln Unverständliches.
Sabber läuft aus Mündern.
Blicke gehen ins Nichts.
Eine ehemalige Klassenkameradin von mir, deren Bruder wie
ich heißt, aber nie zu Besuch kommt, ist auch dort.
Ich sage, er hat bestimmt viel zu tun.
Das lässt sie nicht gelten.
Meinen alten Versicherungsvertreter, der mit zerwühlten Haaren
und mit Schlafanzughose im Rollstuhl vor der Eingangstür sitzt und mir immer nachruft:
Hallo, sind sie aus W.? Dann nehmen sie mich mit, ich will heim.“
Ich bin aus W., sage aber ich sei aus G., dann lässt er mich schneller gehen.
Er war immer so adrett gewesen, das schürte Vertrauen.
Der Platz auf der Eckbank im ersten Stock von Herrn Hofmann ist jetzt leer.
Ein schmuckloses Schild an der Wand gibt Auskunft warum.
Fünf Jahre grüßte ich ihn, zuletzt fast schon mechanisch.
Meines Wissens grüßte er nur im ersten Jahr zurück.

 

Conzuela, die liebe Pflegerin aus Venezuela, ist leider momentan krank,
das verschärft die Lage freilich zusätzlich.
Conzuela ist wirklich lieb, sie fing mich neulich im Flur ab,
um mich über Mutters seltsames Verhalten zu informieren.
Ich wunderte mich kaum.

 

Abends les ich weiter auf t-online,
man macht sich Sorgen, um jenen berühmten Schauspieler.
Er stand gestern noch auf der Bühne in einem gefeierten Stück
und heute ist er im Krankenhaus und ringt mit dem Tod.
Es fällt mir schwer, mir Sorgen zu machen um ihn,
eigentlich möchte ich ihn beglückwünschen, dass er gestern noch spielte.
Natürlich ist es ungerecht, verglichen mit Heesters,
der stand mit hundertvier, soweit ich weiß, noch auf der Bühne.
Scheinbar arbeitet der Tod nicht nach der Uhr.

 

Der nächste Morgen findet mich früh im Garten.
Ich räume Reisig und Blätter weg, von
den Büschen, die ich kürzlich schnitt.

Ein munteres Rotkehlchen spring fiepend um mich herum.
Es sucht wohl Beute zwischen den Blättern, die ich aufwirbele.

 

Es ist vermutlich noch jung, seine Bewegungen wirken naiv und keck.
Wahrscheinlich stammt es aus dem leeren Nest, das ich fand, als ich die Hecke stutzte.

Ich halte eine ganze Weile inne und beobachte das winzige Wesen,
dessen wache Augen in die Zukunft zu leuchten scheinen.

 

Plötzlich komme ich auf die Idee, mir endlich einen Bart stehenzulassen.

 

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Geschrieben

@Hera Klit Liebe Hera, dein LI reflektiert meisterhaft das Alter. Das eigene, noch im Besitz der geistigen und körperlichen Kräfte und das Leben/Leiden "im Grenzland des Todes" bei Mutter und Schwester im Pflegeheim. Diese Thema betraf oder betrifft viele hier im Forum als Angehörige, wie ich aus Beiträgen und Fäden weiss. 

Gekonnt auch der Kontrast der Vorhoelle Pflegeheim zum gesunden jungen unveschwerten Rotkehlchen. LG Stephan

 

 

 

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