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Die liebe, alte Frau

 

Meistens fuhr sie auf den Radwegen zwischen den Feldern, doch heute vormittags war sie auf der Alleestraße unterwegs, die sie immer wieder, der alten Bäume wegen, sehr genoss.

Schon von Weitem fielen ihr die beiden Hunde auf, die unschlüssig am Straßenrand standen, manchmal ihre Köpfe bewegten, aber sich nicht entfernten. Die beiden gehörten einer kleinen, alten Frau, oft hatte sie sie mit den englischen Pointern spazieren gehen gesehen. Gesprochen hatten sie nie miteinander.

Unmittelbar hinter den Alleebäumen lag ein steiler Abhang, der zum Bach hinunterführte – und da sah sie die Füße. Sie sprang vom Fahrrad, lehnte es an den nächsten Baum und näherte sich langsam, Schritt für Schritt, der Gestalt, die mit dem Kopf abwärts auf der Böschung des Baches lag. Im Schatten liegend und völlig unauffällig angezogen, war die kleine, zarte Gestalt nur für aufmerksame Fußgänger oder Radfahrer zu bemerken.

Für Angst blieb keine Zeit.

Die Hunde sahen ihr in die Augen, ruhig war ihr Blick, so ließ sie sie an ihrer Hand schnuppern, streichelte ihnen dann den Kopf und kam so näher an die Frau heran. Sie bewegte sich nicht. Lang ausgestreckt, mit dem Kopf abwärts, lag sie auf dem Hang. Ist sie noch am Leben oder liegt hier eine Tote? Viel hätte nicht gefehlt und sie wäre mit dem Kopf im Wasser gelandet. Die Hunde, was werden sie machen, wenn sie ihre Herrin berührt?

Ein Mädchen kam eilig von der nahen Tankstelle. Die Rettung hatte sie bereits verständigt, aber vor den Hunden hatte sie so große Angst, dass sie der alten Frau nicht näherkommen wollte.

Da, endlich, langsam bewegte diese ihren Kopf. Haben sie Schmerzen? Sind sie verletzt? Sie antwortete nicht, aber sie war am Leben. Kein verdrehter Arm oder Fuß, nichts deutete darauf hin, dass sie sich etwas gebrochen hatte. Der Hang aber war so steil, dass sie fast ausrutschte, als sie sich Schritt für Schritt hinabtastete, um die Hand der alten Frau zu erreichen. Schwach wurde diese ergriffen, vergeblich versuchte die Gestürzte, sich zu drehen, sich aufzurichten, denn immer noch lag sie bergab. Irgendwie musste sie heraufgebracht werden. Es gelang auch noch, ihre linke Hand zu ergreifen, verletzt hatte sie sich nicht, bei Bewusstsein war sie jetzt auch. Immer wieder abrutschend, konnte sie endlich hochgezogen werden. Alleine hätte sie dies niemals geschafft, durch jede Bewegung wäre sie tiefer gerutscht, bis in den Bach.

Als sie oben war, wurde sie von beiden gestützt und an den nächsten Baum gelehnt. Aschfahl ihr Gesicht, eingefallen. Dann wurde ihr schlecht und sie erbrach ein bisschen, aber keine Nahrung.

Wann kommt endlich die Rettung?

Damit sie nicht umfallen konnte, sollte sie sich hinlegen. Nur widerwillig folgte sie dem Drängen, sich auf die Erde neben den Baum zu legen. Gegessen hatte sie noch nichts. Damit sie sich nicht verletzen konnte, schob die Radfahrerin ihre Hand unter den Kopf mit den dünnen weißen Haaren. Was soll mit den Hunden geschehen? Ihre Hunde, ihre geliebten Hunde sollten vorübergehend in ein bestimmtes Tierheim gebracht werden. Es sei alles dafür vorbereitet, genau waren ihre Angaben. Kümmern sie sich bitte darum!

Endlich kam das rotierende Blaulicht in Sicht, der Rettungswagen fuhr das kurze Stück gegen die Einbahn, um rascher an Ort und Stelle zu sein. Beschwörend hielt sie auch noch die Hand umklammert, als bereits die Notärztin an ihrem Ärmel zerrte, um ihn hochzuschieben. Bringen sie sofort die Hunde weg! Gutmütig folgten diese einige Schritte beiseite, die Leine war ja vorhanden. Nach einer Injektion wurde die alte Frau in den Rettungswagen geladen – und fort ging es.

Die folgsamen und freundlichen Hunde wurden problemlos untergebracht.

Die alte Frau, lebt sie noch? War das erste Gespräch auch das letzte? Sollten diese wenigen, hektischen Minuten die einzigen Berührungspunkte bleiben?

Als sie ihren Namen in Erfahrung gebrachte hatte, besuchte sie sie im Krankenhaus. Sie hatte ein Einzelzimmer, saß am Bettrand und sah viel besser aus. Auf dem Nachttischchen standen Fotos ihrer schönen, englischen Jagdhunde. Wenn die nur versorgt sind und ihre Blumen. Voll ist ihr Balkon davon, fast hat sie selbst keinen Platz mehr. Und dann plauderte sie von ihren Hunden, erzählte von ihrem guten Charakter und dass sie sie in ihrer Wohnung züchte. Wirklich eine liebe, alte Frau.

Im Laufe des Gespräches kamen sie auch auf Tierversuche zu sprechen. Nein, sagte sie, sie habe nichts gegen Tierversuche, auch nicht mit Hunden, für sie ist es keine Tierquälerei. Nur für Kosmetik nicht, das nicht.

Sie habe damals auch solche Versuche gemacht, damals unter Hitler, mit Hunden, auch.

Dann kamen sie auch auf die Nationalratswahl zu sprechen, die unmittelbar bevorstand. Stolz meinte sie, es sei gut, dass es noch viele gäbe, die Recht und Ordnung hochhielten und den werde sie auch wählen, den, der dem Führer am Nächsten kommt, den, der jene Menschen heute noch lobt und würdigt, die so tapfer gegen die Untermenschen gekämpft haben. So einen braucht es wieder.

Entsetzen machte sich in der Besucherin breit. Was verbarg sich in dieser lieben, alten, zarten Frau? Einer Frau, die so liebevoll besorgt um ihre Hunde war und die Blumen so liebte.

Dann plauderte die Genesende weiter, über den Afrika-Feldzug, bei dem sie dabei gewesen war, den Rang eines Hauptmannes hatte sie gehabt. Bei den Nazis war sie eine Frau gewesen, die höher als viele Soldaten stand. In Frankreich war sie auch während des Krieges. Dort hatte sie Leichen seziert. Von oben, erzählte sie, floss immer ein dünner Strahl Wasser, damit sie ungefährdet arbeiten konnten. So konnten sie sich nicht so leicht mit Krankheitserregern infizieren, weil diese mit dem sich zersetzenden Blut weggeschwemmt wurden. Ganz aufgeregt aber wurde sie, als sie schilderte, wie sie irrtümlich einmal den Wasserhahn nicht zu- sondern stärker aufgedreht hatte und ein scharfer Wasserstrahl ihr aus dem geöffneten Brustkorb eines Toten einen Schwall Sekret ins Gesicht gejagt hatte. Sekret und zersetztes Blut eines an Tbc zugrunde Gegangenen. Aber sie erkrankte nicht, ausgemergelte Gefangene schon.

Ihre Aufregung ließ nicht nach.

Gestern wollten sie mit mir auch einen Versuch machen. Aber nicht mit mir!

Einen Versuch? Welchen Versuch denn? Ganz wirr wurde der Besucherin bei den Worten der Greisin.

Mit den Schwestern habe ich gekämpft. Aber eine alte Frau, wie ich, hat keine Chance. Drei Schwestern waren es! Panik zuckt in ihren alten Augen auf. Der Raum, in den sie mich eingesperrt haben, hatte zwei verschlossene Türen. Ich konnte nicht mehr hinaus.

Dann sprudelte es heraus aus ihr.

Um Mitternacht muss man, genau zur richtigen Zeit, die Spritze setzen, sonst ist der Versuch umsonst.

Fast atemlos wird die alte Frau, greifbar ihre Angst.

Nachts sind andere Schwestern da, als am Tag, da geht es leichter. Sie lassen sich auch leichter bestechen, oft lassen sie sich auch überreden, sie wissen ja, was geschieht, wenn sie nicht willig sind. Leicht lässt sich dann etwas ausprobieren.

In ihren Augen flackerte Angst.

Sie war es gewesen!

Sie hatte Versuche mit wehrlosen Menschen, mit Gefangenen gemacht. Und mit Tieren auch.

Sie wusste genau, wie das ging.

Und jetzt glaubte sie, sie wäre an der Reihe.

Gift würde ihr gespritzt.

Eingesperrt würde sie werden.

Drei Schwestern hatten sie überwältigt.

Nachts geschieht das.

Ärzte, die schweigen und Schwestern, die willig sind.

Jetzt ist sie hilflos und ausgeliefert. So wie die anderen, damals, ihr.

Nein, sie hat sich nicht bedankt für die Hilfe bei jener Frau, die sie aus dem Graben gezogen, sich um die Hunde gekümmert und sie im Krankenhaus besucht hatte.

Manchmal wurde sie gefragt, warum sie sie nicht im Graben hat liegen lassen. Auch sie, ein Mensch, gleich wert, gleich an Würde, wenn auch schuldig. Und, um von Panik befallen zu werden, um ein Quäntchen Grauen durchmachen zu müssen, um einen Hauch jener Leiden zu erleben, die sie selbst einst anderen getan.

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