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Man fragt sich bisweilen, warum so viele Menschen so kurz vor Weihnachten in die Einkaufsläden strömen. Nun, schwere Zeiten stehen uns bevor: Zweieinhalb Tage werden alle Märkte geschlossen sein. Zweieinhalb Tage, an denen nicht der leckere Pudding, die knusprigen Chips und - ein Grundnahrungsmittel! - die Instant-Suppe im Markt gejagt und an der Kasse zur Strecke gebracht werden kann. Eine Zeit, die das Tier in uns Menschen weckt. So auch in mir, den es samt Kind im Schlepptau in die Unterwelten der Arkaden zog.

 

Die Urahnen des heute handelsüblichen Einkaufswagens sind die sumerischen Streitwagen aus der Bronzezeit. Man sieht ihm noch immer seine kriegerische Provenienz an, besonders am Tag vor Heiligabend. Majestätische 100 Kilogramm Stahldraht thronen auf vier präzise steuerbare Castor-Rollen, die das Kriegsgefährt in alle Richtungen ausschlagen lassen kann. Sogar einen Fahrersitz haben diese Ungetüme, für die Schrecklichsten aller Krieger der Weihnachtszeit: Kinder. Sie sind die eigentlichen Lenker ihrer Schubtiere, uns Eltern. Sie bestimmen mit ihrem Kriegsgebell, welche Gänge angesteuert werden sollen. Diese kleinen Schreihälse treiben uns Verzweifelte durch die Gänge, mit ihrem Verlangen nach noch mehr knallbuntschillerndem Tinnef. 

Eine Frau schob sich schweißgebadet an mir vorbei, ihr Wagen randvoll mit Spielzeug. An diesem Ort muss ein epischer Kampf um die letzte Packung Knete geschehen sein. Ihre Augen waren glasig, wie die einer Kriegerin, die zu lange an der Front gekämpft hatte. Ich war erschrocken von ihrem Anblick und wendete mich meinem Sohn zu. “Morgen ist Bescherung!”, knurrte ich den Knirps vor mir beinahe drohend an, auf dass er gar nicht erst auf die Idee kommt, uns in die Schlacht um das letzte Spielzeug zu stürzen.Es wirkte. So überließ ich den anderen Wagenlenkern das Feld.

 

Ich spähte über ihre Reihen hinweg, suchte den Weg zu den begehrtesten meiner Ziele: Lebkuchen, Schoko-Nüsse und natürlich die legendären Marzipankartoffeln. Der Knirps vor mir war mit meinem neuen Ziel einverstanden und trieb uns mit tönenden Fanfaren - genau genommen: seiner quietschende Spielzeugtrompete - in Gang fünf, der Heimat der Weihnachtskekse, wo sich bereits ein erbittertes Scharmützel anbahnte. Zwei Kontrahenten hatten gleichzeitig nach der letzten Packung Zimtsterne gegriffen. 

Die Frau links zischte: „Ich hab sie zuerst gesehen!“ 

Der Mann rechts hielt dagegen: „Meine Tochter hat morgen Geburtstag!“ 

Ich duckte mich instinktiv, als die erste Packung Dominosteine als Wurfgeschoss durch die Luft flog.

„Bleib ruhig“, sagte ich mir selbst. „Du bist nicht hier, um den Held zu spielen.“ 

 

So zog ich weiter zur Fleischtheke. Doch schlimm stand es um sie. Die Bestände leerten sich. Nur noch wenige Braten waren in der Auslage, und ringsherum ein Getümmel aus Wagenlenkern auf der Jagd nach dem letzten Stück Fleisch.

In ihrer Mitte lag es, verheißungsvoll auf seinem Podest, bewacht von Harry, dem Metzger mit entschlossener Miene. Es wurde geschubst und gegrölt, ein Geruch von Zimt und Verzweiflung machte sich breit. Zimtgeruch, dachte ich, toller Trick der Marktleitung, um uns Verzweifelte noch mehr kaufen zu lassen. Hier wird nur noch nach Bestellung bedient. Denn vor der Erfüllung des eigenen Begehrs hat der liebe Gott (und der Metzger) ein perfides Nummernsystem gesetzt. Bedient wird, dessen Nummer aufgerufen wird. 

„Nummer 57!“ rief er, und ich sah, wie ein Mann seine Marke triumphierend hochhielt.

“Hier, ich! Haha”, lachte er, sein Glück kaum fassend, wie von Sinnen auf. Der Rest der wartenden Menge stand, wieder einer Hoffnung beraubt, weiterhin wie ein lauerndes Rudel Wölfe um die Theke. 

Meine Nummer war die 59. Wer nun denkt, dass es sich um ein konsekutives Nummernsystem handelt, hat weit gefehlt. Mit den Nummern wurden die Teile des Tieres benannt, die zum Verkauf standen. Bedient wurde zuerst derjenige, dessen Fleischportion zuerst aufbereitet wurde. Meine Nummer stand auf einer Schweinelende.

Als sie schließlich meine Nummer aufgerufen wurde, passierte das Undenkbare: Eine ältere Dame schob sich an ihrem Rollator geklammert ohne Nummer durch die Meute und deutete mit zitterndem Finger auf ein Stück Fleisch in der Auslage. „Das da, bitte“, sagte sie lächelnd, mit der Unschuld eines Engels.

Ein Aufschrei ging durch die Menge. „Das ist Meins!“ rief jemand (nicht ich). “Ey, geht’s noch?! Ich warte hier schon seit einer Stunde!” grölte es von der einen Seite. „Regeln sind Regeln!“ brüllte es von der anderen Flanke. Und ihrer Mitte die trullige alte Dame, die mangels Hörgerät von alledem nichts vernahm und nur blauäugig das Fleisch vor ihr beäugte.

Der Metzger überraschte schließlich mit einer bemerkenswert diplomatischen Lösung: „Wer kann am schönsten singen?” Schweigen griff sich Raum. “Die Dame bekommt ihr Fleisch. Doch wer von euch Lümmeln am schönsten trällert, der bekommt aus meinem privaten Vorrat noch ‘n Stück. Ick bewerte eure Vorträge!“, schob er uns mit einem vielsagenden Blick über die Theke.

Und so erschallten die Gesänge! “Stille Nacht”, wurde angestimmt, teils von “O Tannenbaum” überlagert. kakophonisch, ohne Takt und Tempo, schief und doch irgendwie schön. Ich beteiligte mich nicht an diesem Tenor. Stattdessen stimmte  ich Heinz Erhards “Die Weihnachtsgans” auf der Melodie von “Süßer die Glocken nie klingen” an. Und was soll ich sagen? Ich gewann den Sängerwettstreit!

 

Erschöpft, aber glücklich zog ich mit meiner Kriegsbeute, einer fetten Gans, davon. Mein Einkaufswagen war schwer beladen, meine Nerven dünn wie Lametta. An der Kasse schob sich ein letzter Gegner vor mich: ein Mann mit einem Wagen voll Klopapier. Doch ich ließ ihn gewähren. Schließlich steigen die Corona-Zahlen wieder. Respekt dem, der vorsorgt.

Als ich schließlich hinaus in die kalte Dezembernacht trat, konnte ich nicht anders, als laut zu lachen und zu jubilieren. Der Sieg war mein! Der Knirps vor mir ließ mich gewähren und war ganz vertieft in seine Zuckerschnecke. Doch wem diesen Sieg widmen? Der Familie, vielleicht. Jenen Menschen also, die man sich zum großen Teil nicht ausgesucht hat… Und die bekommen meine schöne Gans? Meinen Schatz? Was tut man nicht alles um des Friedens willen. Es bleibt einem auch nichts erspart.

 

Na, hilft ja nichts.

Frohe Weihnachten!

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