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Die rundliche Bäuerin in ihrer mausgrauen Kluft hatte Hilbert nicht gegrüßt, als er in seinem bunten Jogginganzug an ihr vorbei in Richtung Berge rannte, aber um ihren Mund spielte ein ziemlich abfälliges, zynisches Lächeln.

Dies war er mittlerweile gewohnt. Man brachte ihm Unverständnis entgegen, in all seinen Haltungen und Strebungen und man wollte ihn blockieren und umerziehen mit Gesten, Worten und Taten. Sicherheitshalber hatte er nicht
voreilig zuerst gegrüßt, denn er wollte sich die Schmach und das Gefühl des herabgesetzt worden seins, durch ein nicht zurück grüßen durch Dorfbewohner, wirklich nicht mehr antun.

 

Dies würde seine letzte Joggingtour in dieser Gegend sein. Morgen war es so weit. Morgen beabsichtigte er endlich in die Stadt zu seinem Freund Franz zu ziehen. Seinen Vater würde dies hart treffen.

Davon war auszugehen. Hilbert war sein einziger Sohn und er war von Geburt an vorbestimmt, den Hof weiterzuführen. Hilbert war streng erzogen worden, von einem rechthaberischen Vater, der seine Sicht der Welt

für die einzig richtige hielt und dessen Wahlspruch sich Hilbert schon von klein auf immer wieder anhören musste:
„Wir machen unsere Gesetze selbst.“ Ja, dies sagte der Vater allen Ernstes immer wieder und bestätigte damit eindeutig, dass er ein Dickschädel war, mit dem man nicht reden konnte.

 

Bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr hatte Hilbert auch im Sinne seines Vaters funktioniert und alle Arbeiten auf dem Hof ganz in dessen Sinne erfüllt. Er hatte Schweineställe ausgemistet, Schafe auf die Weide getrieben und zurück, hatte Hühner geschlachtet und war hinter der Sämaschine hergelaufen, um die Schare zu lenken, während der Vater droben auf dem Traktor so schnell fuhr, dass Hilbert Mühe hatte, hinten Schritt zu halten. Der Vater verlangte stets viel und er erwartete null Fehler und keine Widerworte.

 

Jetzt bog Hilbert in den ersten lichten Laubwald ein. Die Blätter der Bäume waren gerade dabei ihr saftiges Grün zu verlieren. Der kalendarische Herbst war ja nicht mehr fern. Hilbert kannte die Strecke wie seine Westentasche, er konnte sie quasi per Autopilot nehmen und dabei seinen Gedanken nachhängen. Diese Gedanken kreisten einzig und allein um den Akt seiner Befreiung von der Leibeigenschaft auf einem rückständigen Hof, der betrieben wurde von einem hinterwäldlerischen Patriarchen.

Womöglich hätte Hilbert auch bis ans Ende seiner Tage nicht rebelliert oder aufbegehrt gegen den, ihm vom Vater vorbestimmten, Lebensweg, aber spätestens, als es soweit war, dass man ihn ständig aufforderte sich doch jetzt endlich mal eine Frau fürs Leben zu suchen, wurde es ihm unmöglich gemacht, ein braves Rädchen im Räderwerk der anständigen Dorfgemeinschaft zu sein. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich eine Frau zu nehmen, lieber wollte er allein bleiben. Aber ein Bauer ohne Frau, das ist ein Unding, so etwas kann und darf es nicht geben. Das verstößt gegen jegliche überkommene göttliche Ordnung. Und woher bitteschön soll denn der künftige Hoferbe dann kommen? Man trieb ihn zu Dorffesten mit dem Befehl eine Frau kennenzulernen. Möglichst eine, mit einem Hof im Hintergrund, aber wenn das nicht ginge, wenigstens eine anständige Frau. Hilbert lernte partout keine kennen.
Irgendwann zeichnete sich dann ein handfester Skandal am Horizont ab.

 

Doch dann kam die Sache mit den Bären auf. Sie hatten auf Beschluss der Landesregierung hoch oben in den Bergen zehn Braunbären angesiedelt, weil die schon immer dort oben gelebt hatten und langsam drohten auszusterben.
Hilberts Vater war natürlich dagegen gewesen, aus Angst um die Schafe auf den oberen Weiden. Er hatte als Knabe noch die Kämpfe seines Vaters miterlebt, der nachts dort oben immer wieder hatte Wache halten müssen, um die Schafe vor Übergriffen durch gefräßige Bären zu schützen. Den Bär, dessen Fell heute noch vor dem Kamin lag, hatte der Großvater einst in seinem heroischen Abwehrkampf erlegt. Irgendwann waren dann die Bären soweit dezimiert gewesen, dass keine Gefahr mehr von ihnen ausging.


Schließlich drohten sie sogar auszusterben, was ehrlich gesagt, kaum einem Dorfbewohner oder einer Dorfbewohnerin große Sorgen zu bereiten geeignet war.

Man lebte gerne friedlich und ohne Angst. Sogar Hilbert hätte zugegeben, ohne Gefahr durch Bären lieber zu leben, aber er hatte sich inzwischen zum Vegetarier und Tierschützer weiterentwickelt und so nahm es nicht wunder, dass er sich plötzlich, ganz zum Ärger seines Vaters, auf Demonstrationen für den Schutz der Bären in den heimischen Bergen, einfand.

Die Teilnehmer*Innen dieser Demos waren meist Städter und sich einig, dass keinem einzigen Bären ein Haar gekrümmt werden dürfe, denn die Bären hätten doch genau wie die Menschen dieser Region ein angestammtes Recht hier zu leben.
Der Vater, der als Dorfbewohner näher dran war an dem Problem, hingegen, holte Großvaters Gewehr aus dem Keller und war fest entschlossen es seinem wehrhaften Ahnen gleichzutun.

Nun war der Vater-Sohn-Konflikt durch äußere Umstände auf die Spitze getrieben worden.

 

Zum Glück lernte Hilbert dann den zehn Jahre älteren Franz auf einer der Probärendemos kennen und zu diesem Franz, der bald mehr wurde als ein Bruder im Geiste, beabsichtigte er morgen zu ziehen. Franz war ein Mann, der voll im Leben stand und der mit seiner eigenen kleinen Autowerkstatt recht gutes Geld verdiente. Er bot Hilbert nicht nur eine Unterkunft in seinem Haus und einen Platz in seinem Bett an, sondern auch einen Job in seiner Werkstatt, zum Geldverdienen. So hatte Hilberts Weltanschauung ihn stillschweigend aus seiner Misere herausgeführt in Richtung Glück, Liebe und Freiheit und dem, seinen inneren Seelenanlagen entsprechenden, für ihn richtigeren Leben.

Menschen, die in Lebenssituationen hineingeboren werden, die ihren natürlichen Anlagen vollkommen widersprechen, müssen schreckliche Wüsten durchwandern, bis sie in fruchtbare Auen gelangen können. Viele verdursten allerdings vorher.

Hilbert frohlockte innerlich, denn sein Brünnlein würde fortan fließen, das wusste er.


Er würde ein völlig anderes Leben haben, fern ab von Vaters Zugriff, in der Zukunft verheißenden Stadt, mit einem starken Mann an seiner Seite, der die Eigenschaften an ihm liebte, die er bisher hatte verleugnen müssen. Gerne joggte er jetzt täglich, auch weil er wusste, dass Franz ihn, auch wegen seiner sportlichen Figur, sehr gerne hatte.

 

Jetzt wechselte der lichte Laubwald in einen immergrünen, dichten Nadelwald. Hilbert entschloss sich kurzerhand, heute die längere Tour zu machen. Sie ging zwar nicht weiter oben hinauf in die Berge, machte aber einen größeren Bogen an den Wänden des Tales entlang, an dessen Fuß sein verschlafenes Heimatdorf unten lag. Lebenslust durchflutete ihn. Noch war er jung, attraktiv und rundum gesund genug, um seinem künftigen Leben in der weltoffenen Stadt mutig entgegenfiebern zu können.
Etwas taten ihm der herrische Vater und besonders auch die unterdrückte Mutter leid, die zurückbleiben würden und deren Hof mit ihnen wohl einst untergehen wird. Wenn er dann überhaupt noch was zu erben haben sollte, als ihr einziger Nachkomme, dann womöglich überschuldete Ruinen. Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken.

 

Trotz strammen Laufs blieb sein Puls gemäßigt. Er hatte sich immer fit gehalten, das zahlt sich eben aus. Er hätte noch viel schneller laufen können, wenn er gewollt hätte. Dann bog er um eine enge Kurve und stand plötzlich vor einer Bärin mit zwei Jungen. Hilbert blieb wie angewurzelt stehn. Angst lähmte ihn. Er hatte für Bären in der Region gekämpft, war aber freilich noch nie einem begegnet. Was tun? Die Bärin schien noch nie einem Menschen begegnet zu sein, denn auch sie verharrte einige Sekunden in ihrer Position auf allen Vieren. Alles Weitere hing jetzt von den Entscheidungen des Tieres ab und was dieses, für die angemessene Reaktion auf die, auch für es, überraschenden Ereignisse hielt. Und dann lief das ab, was die Instinkte einer Bärin in solchen Situationen, wenn ein vermeintlicher Angreifer und Bedroher ihrer Jungen zu nahe herangekommen ist, für angemessen halten. Sie stürmte heran, ging vor dem gebannten Hilbert auf die Hinterbeine und verpasste ihm einen Hieb mit ihrer rechten, mit fürchterlichen Krallen bewehrten Tatze, längs über den blonden Schopf und riss ihm damit nicht nur sein schönes Haar, sondern auch einen Großteil seiner Kopfhaut herunter. Darauf drehte sie ab.

 

Ein Glück für Hilbert, sie forderte für seinen Frevel nicht sein Leben. Ein Denkzettel genügte ihr. Dann trollte sie sich und verschwand mit ihren Jungen im Dickicht.
Hilbert ahnte in dem Moment noch nicht, dass eine Großdemo der Bärenschützer sich später für das Leben der Bärin einsetzten würde und für ihren weiteren Verbleib in den heimischen Bergwäldern, während sein Vater den unverzüglichen Abschuss aller Bären fordern sollte.

 

Er schleppte sich blutüberströmt mehr stolpernd als laufend stundenlang hinunter ins Dorf und brach dann kurz hinter dem Hoftor direkt vor den Füßen des ihm entgegen stürmenden
Vaters zusammen. Ein eiligst herbeigerufener Notarzt konnte sein schon arg im Verlöschen begriffenes Lebenslicht zum Glück wieder soweit anfachen, dass Hilbert gerettet werden konnte. Das Krankenhaus in der Stadt tat dann alles in seiner Macht stehende, um ihn wiederherzustellen. Natürlich war das am Ende nicht mehr der Hilbert, den man vorher kannte. Seine Schönheit hatte schon arg gelitten. Franz besuchte ihn sogar einmal im Krankenhaus, später brach dann allerdings der Kontakt leider ab.

 

Zu seinem nächsten Geburtstag schenkte sein Vater Hilbert das Gewehr des Großvaters.
Blank geputzt, strahlend schön, geladen und jederzeit einsatzbereit, lag es in Hilberts Händen, als sei es speziell für ihn gemacht.

 

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Geschrieben

Hi Hera,

ich finde deine Geschichte sehr interessant. Sie zeigt drastisch, wie ein Mensch aufgrund von Erfahrungen seine Meinung ändert (weil seine Welt vollständig auf den Kopf gestellt wird) - und dass stets der "Falsche" Recht behält. Schade um Hilberts Zukunft - war aber wohl doch nicht ganz echt mit Franz ...

 

Liebe Grüße,

Athmos

  • Danke 1
Geschrieben
Am 5.1.2025 um 15:17 schrieb S. Athmos Welakis:

Hi Hera,

ich finde deine Geschichte sehr interessant. Sie zeigt drastisch, wie ein Mensch aufgrund von Erfahrungen seine Meinung ändert (weil seine Welt vollständig auf den Kopf gestellt wird) - und dass stets der "Falsche" Recht behält. Schade um Hilberts Zukunft - war aber wohl doch nicht ganz echt mit Franz ...

 

Liebe Grüße,

Athmos

Hallo und vielen Dank lieber Athmos für deinen hilfreichen Kommentar.

 

 

Ich muss dir gestehen, dass ich versucht habe eine Parabel zu schreiben,

zu der momentanen Situation mit dem russischen Bären.

Ich diskutierte in Foren mit jungen Leuten, die meines Erachtens

die Gefahr unterschätzen und nicht der Meinung sind, der

Westen müsse wachsam und wehrhaft bleiben.

 

Ich kann natürlich nicht erwarten, dass meine Absicht

irgendjemand transparent wird, das ist einfach zu weit weg.

 

 

Liebe Grüße

Hera

  • Danke 1
Geschrieben

Hi Hera,

ich muss zugeben, dass ich Deine Anspielung nicht erkannt habe. Wahrscheinlich war ich etwas vorgefasst. In dem von Dir gegebenen Wissen finde ich, dass Dein Text noch an Dimension gewinnt.

Transportiert der Name "Hilbert" ebenfalls eine Botschaft?

Nachdem ich Deine Absicht kenne, wird mir beim Gedanken an Hilberts Großvater erst recht übel.

 

Liebe Grüße,

Athmos

  • Danke 1

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