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Die Schneekugel - Kurzgeschichte


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Die Erinnerungen verblassen nicht. Sie haben es niemals getan. Realität. Ein seltsames Wort. Ein Symbol. Implikation eines Gedanken. Der Versuch dem Chaos einen festen, unumstößlichen Rahmen zu geben. Ist Realität nicht einfach nur eine Lüge des menschlichen Gehirns? Der verzweifelte Versuch, Ordnung in ein Chaos zu bringen, welches dem menschlichen Verstand zu groß zum Erfassen ist? Das Reduzieren auf eine Oberfläche, auf der man selbst mit Ketten an den Füßen ausrutscht? Ja. Chaos und Obsession. Zwei mächtige Wörter. Man sollte sie nicht leichtfertig verwenden. Traum. Ein noch viel mächtigeres Wort. Die Mutter. Die Amme. Der selbstgekrönte König. Der Aufseher. Der Verführer. Kokon der Obsession. Vom Traum in den Wahn. Und am Ende bleibt die Realität. Man konvertiert ohne Willen. Man will ohne Freiheit. Wille ist eine sprachliche Verwirrung. Spricht man es laut aus, „ich will!“, dann glaubt man aus freien Stücken einen Entschluss gefasst zu haben. Doch sitzen die Drahtzieher woanders. Man ist Puppe. Spielzeug der Drahtzieher. Dämonen die man selbst schuf, ohne sie erdacht zu haben. Sie sind nicht gebeten, haben keinen Namen, haben keine Ordnung. Sie sind erträumt. Ein Traum ist niemals gewählt. Er wird nicht gesucht, er sucht. Und er wird finden. Geboren wird er im Außen. Leben kann er nur für sich. Doch sterben wird er in uns. Nachdem er alles genommen hat, alles, was es wert wäre geglaubt zu werden, sinkt er in die dunkelsten Ecken der Seele, um dort zu verrotten. Die Erinnerungen sind das Aufstoßen der aufgeblähten Einfältigkeit dieser Leiche. Ihr Gestank ist unerträglich. Unter dem Kadaver begraben, liegt, was ich verträumte. Was ich verträumen musste. Ein kleines Mädchen mit einem Schmetterling in der Hand. Versiegelt unter dem fauligen Morast, dennoch konserviert. Kannst du atmen?

 

„Endlich angekommen!“, ist sein erster Gedanke als er die verfaulte Masse erblickt, welche er unerbittlich suchte. Eingepackt hatte er nicht viel, alles was er braucht ist eine Schaufel und einen Dolch. Er nähert sich dem Hügel aus verstorbenen Gedanken, Erinnerungen und Träumen und ist fest entschlossen, es diesmal zu beenden. Ein Röcheln ertönt aus dem Dunkel. Angst hat er keine, aber er hat gelernt vorsichtiger zu werden. „Erbärmlicher Mensch. Deine Anwesenheit verstößt gegen alle Sitten. Nimm deine Sachen und verschwinde von hier!“. Mit der Gewissheit, dass das Wesen ihm nicht schaden kann, ignoriert er die Aufforderung. „Ihr Menschen seid die widerlichste Kreatur von allen! Ihr führt eure Kriege aus Gier nach Rache und Gerechtigkeit. Einen Krieg gegen den Krieg, den ihr in eurem Inneren nicht länger ertragen könnt. Wie schwach. Ihr werdet niemals lernen. Was nützen alle Weisheiten? Denn das Einzige, was ihr zwischen Gut und Böse sehen könnt, seid ihr selbst! Wenn du dein Vorhaben beendet hast, werde ich dich zu Boden reißen und dann werde ich mich über dir erbrechen!“.

 

Er setzt die Schaufel an und beginnt den Schlamm abzutragen. „Zu lange suchte ich einen Weg hier her. Niemand wird mich davon abhalten, dich aus diesem Dreck zu ziehen“. „Deine Egozentrik wird dich vernichten. Und ich werde dabei zusehen“, spottet das Wesen als letzten Satz. Dann wird es still. Mit jedem Spatenstich brechen Erinnerungen aus den letzten Jahren hervor.

 

„Wie lange ich dort lebte weiß ich nicht mehr genau. Jahre? Vermutlich. Für einen Hass der alles vergiftet. Für eine Verachtung die Sätze spricht, mit denen man ganze Armeen vernichtet, bedarf es Jahre. Wir träumten uns. Wir hassten uns. Diese Jahre waren ein Kompendium meiner Wahrheit. Und einer Lüge. Du hast sie zerbrochen. Du, hast sie zerbrochen!

Sollte ich irgendwann zurück in dieses Haus finden, werde ich mich dort zur Ruhe setzen. Dort, in dieser kleinen Schneekugel, in der es immer schneit. In dem nur ein einzelnes Licht brennt. Ich werde mich an den Kamin setzen und in das Feuer schauen. Mich fragen, weshalb es so still geworden ist und warum es dennoch nie aufhört zu schneien. Ich werde aus dem Fenster schauen, sehen wie drei Menschen im Schnee stehen, lachen und freudig in den Himmel winken. Zusammen. Dann werde ich die Gardinen zuziehen und mich wieder in den Sessel setzen um mich zu erinnern. Und während ich die Augen schließe werde ich Zeugnis ablegen. Die Lüge, die man mir gab, wird zu meiner Wahrheit führen. Denn das Versprechen, das ich gab, habe ich nicht vergessen. Seltsam. So gedankenlos wie ich diesen Satz sagte, so zerschmetternd ist er heute. Niemals hätte ich damit gerechnet wie Recht ich damit haben würde. Ich winke für drei. Ich winke…“

 

Jede abgetragene Schaufel steigert seinen Wahn. Während das Blut in seinen Adern brennt, sucht er vergeblich nach Haut. „Sie atmet. Mein Mädchen atmet. Solange der Schmetterling lebt ist nichts verloren“. Das Geräusch eines Schrittes lässt ihn stocken. „Seltsam, es ist, als hätte ich jemanden schluchzen gehört. Zweitrangig, ich darf mich nicht durch meine Phantasie ablenken…“, er bemerkt dass unter dem fauligen Grab ein Arm zum Vorschein kommt und erstarrt. Die Schaufel schmettert an die Wand und er gräbt wie besessen mit seinen Händen den Körper eines Kindes frei. In einer gekrümmten Haltung, mit gefalteten Händen vor der Brust sieht es aus, als ob sie schliefe. Er geht zu seiner Tasche und zieht einen Dolch hervor. „Nein!“, ertönt es aus einer Ecke und eine Frau rennt auf das Mädchen zu. Sie wirft sich vor ihren Körper und beginnt ihn anzuschreien. „Sie haben sie mir schon einmal entrissen. Du hast sie mir schon einmal entrissen. Ich werde nicht zulassen dass du es wieder tust. Lass uns in Ruhe!“. „Geh beiseite, Geist!“, herrscht er sie an. „Du wirst sie mir nicht noch einmal nehmen!“, verteidigt sie sich mit gebrochener Stimme. Sie bewegt sich auf ihn zu. Die Entschlossenheit in ihren Augen beunruhigt ihn weniger, als das Gesicht des Geistes. Der Hass droht ihn zu verbrennen. Sie geht mit langsamen Schritten auf ihn zu, als sie auf einmal ein Geräusch hinter sich bemerkt. „Mein Herz, du lebst?“, sie dreht sich um und setzt sich neben das Mädchen. Ein modriger Geruch liegt in der Luft und er sieht, wie sich kleine Sandsteine von der Decke des Raumes lösen. „Das leise Priseln des Sandes hat sie also getäuscht. Jetzt ist Schluss mit diesem Drama“, er stellt sich hinter die Frau und reißt sie an den Haaren weg von dem Kind. Er zwingt sie auf die Beine und dreht ihren Rücken zu sich. Dann setzt er den Dolch an und lässt ihn durch ihren Hals fahren. Sie fällt auf die Knie, streckt die Arme nach dem Mädchen aus und sinkt unter Tränen zu Boden. Ein paar Worte versucht sie noch zu sagen, doch mehr als ein Röcheln wird sie nicht mehr los. Das Wesen erscheint neben der Toten Frau und klagt ihn an, während er sich mit dem Dolch zielstrebig in Richtung Kind bewegt.

 

„Das ist sie also. Die Kreatur, die Gott mit all seiner Liebe erschaffen hat. Mit aller Hingabe und Vertrauen schenkte er euch die Freiheit zu entscheiden. Nun sieh, was du getan hast! Wie grausam ist ein Tod, der dem Fliehenden nicht einmal mehr einen letzten Schrei gewährt? Kein Tier eurer Welt ist so verdorben“.

 

Mit dem Dolch in der Hand kniet er neben dem Mädchen nieder. „Endlich“, sagt er, während er über ihre Haare streift. „Ah, das Kind! Auch sie durfte niemals schreien. Auch ihr hat man das Leben entrissen, ohne ihr ein Wort zu gönnen. Und jetzt kniest du hier in einem Sud aus Selbstmitleid und getrieben von deiner Egozentrik. Befähigt jene zu ermorden, der du einmal ewige…“, „Schweig, Dämon!“, unterbricht er ihn mit hasserfüllter Stimme. „Einen Krieg gegen den Krieg hast du das Leben eines Menschen genannt. Meiner ist hiermit vorbei“. Er öffnet die Hände des Mädchens und findet den Schmetterling, den sie all die Zeit bei sich trug. „Das kann nicht sein! Er ist tot. Sie ist tot“. „Siehst du es jetzt endlich ein? Einen Krieg kann man nicht gewinnen. Ab jetzt wirst du alles verlieren. Ich werde dich zu Boden reißen und mich über dir erbrechen, Mensch!“, sagte der Dämon mit immer ferner verhallender Stimme. Mit dem Dolch schneidet er sich eine Wunde und benetzt die Lippen des Mädchens mit seinem Blut. Den Körper wickelt er in seinen Mantel und trägt sie Richtung Ausgang. Als er die Treppe betritt, verbrennt der Leichnam mit jedem Schritt aufwärts. „Sie wird leichter. Sie verbrennt. Ich werde sie verlieren wenn ich weiter gehe. Aber zurücklegen, in diese Grotte, kann ich sie auch nicht“.

 

Oben angekommen ist sie gänzlich zu Staub zerfallen. Er nimmt ihre Asche und streut sie unter den Baum, an dem sie einst gedankenverloren ihren Schmetterling fand. „Seltsam, der Schmetterling ist unversehrt“. Er hebt ihn aus der Asche und hält ihn in seiner Hand. Plötzlich beginnt ein Flügel zu flattern. „Er lebt wieder?“, fragt er erschrocken. Der Schmetterling richtet sich auf und fliegt zurück zu ihr auf den Boden, benetzt seine Flügel mit Asche und fliegt zum Himmel hinauf. „Ich verstehe, er bringt dich nach Hause. Vielleicht werde ich eines Tages nachkommen. Bis dahin wünsche ich dir einen Platz zwischen den Lichtern. Leb wohl, mein Sternenkind“.

 

Das alles ist nun schon lange her. Aber die Erinnerungen verblassen nicht. Sie haben es niemals getan. Kurz nach dem Abschied zerbrach das Glas und die Schneekugel stürzte ein. Über mir, eine ganze Welt. Meine ganze Welt. Ich stürzte zu Boden, genau wie der Dämon sagte. Der Horizont erbrach sich über mir. Es war ein Moment der Apathie. Und es war der Blick auf den letzten Schnee.

 

Ich begriff damals nicht ganz, was es hieß, sich aus Scherben und einem See aus Blut zu erheben. Das Licht anzuschalten und im Spiegel zu betrachten. Die entstellte Fratze als eigenes Gesicht zu erkennen, die zerschnittenen Hände fortan als Hände zu gebrauchen. Splitter verursachen beim Entfernen zwar Schmerzen, aber irgendwann gewöhnt man sich an das Ziehen, das Reißen, das Bluten. Wenn man glaubt alle Splitter entfernt zu haben, sucht man weiter und will nicht wahrhaben, dass keine mehr vorhanden sein sollen. Man bewegt sich Richtung Außenwelt, sieht den Winter und färbt ihn ein. Die Welt welche einem entgegen strahlt, verursacht ein schmerzliches Brennen in den Augen. Man öffnet den Mund, krächzt einen zerbrechlichen Ton und atmet die frische Luft. Jeder Schritt aus der Schneekugel heraus ist eine Art Neugeburt. Man weiß nicht was einen erwartet. Man weiß nichts. Als die Wände einstürzten, das Wasser in die außenliegende Welt drang, es aufhörte zu schneien und das Glas in tausend Scherben brach, wusste ich nicht, wohin ich rufen sollte. Mit jedem Schritt den ich machte, erkannte ich, auch in dieser Welt kann man Träumen. Man träumt trauriger, oft nur in der Nacht, aber man träumt. Und bei all dem Vertrauten gibt es etwas, das man nie vorher erahnt hätte. Etwas, welches man nur innerhalb der Schneekugel vermutet hätte. Licht.

 

Ende.

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