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Teehaus-Sermon (Single-Fassung)


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(Ein Festsaal in einem Teehaus, eine Versammlung von etwa 70 Männern und Frauen, bunt gemischt, Ältere, Junge, Päärchen, Einzelne, es wird Blütenschnaps, Honigwein und herber Tee mit reichlich Jasminblättern darin ausgeschenkt, auch Karaffen mit Wasser stehen bereit. Man sitzt auf Kissen am Boden an niederen Tischlein und auf Stühlen wahlweise. In der Mitte brennt eine Feuerstelle unter einem zentralen gußeisernen Kamin, draußen eine gebirgige Waldlandschaft im Vollmond, die Luft, die durch geöffnete Fenster hereinströmt, ist von leiser würziger Kühle, durchsetzt mit feuchtherbem Pflanzenduft. Man kennt sich lose, manche näher. Es wird schon einige Zeit getrunken, als ein jugendlich behende anmutender, aber schon ein wenig in die Jahre gekommener Redner vor die Versammlung tritt, und zuerst kaum, dann immer mehr beachtet, zu sprechen beginnt.)

 

Hier In dieser Welt begegnet man der Unsterblichkeit!

 

("Ohoo!" "Aber gewiß doch!" "Oh, ja!" einige klatschen)

 

Aber eben nur in der Nachbarschaft des Todes.

 

("Ooooch!" "Mmmh!" "Sag, was wird das!?")

 

Gibt es Gegenwart von Unsterblichkeit, ohne den Betrug des Todes? Und ohne das Opfer einer Geburt?

 

Sich Selber gebären? und nicht ein Anderes? und immer dieses Andere: Zeugt und gebiert es miteinander nicht wieder?: Ein Anderes? Ein Ähnliches nur zudem und nie ein Abbild, nie ein Gleiches!?

 

Väter und Mütter gleichzeitig spiegeln sich in Antlitz und Gebärden des Neugeborenen, noch lange auf seinem Weg ins Leben hinaus! Schillernd und irisierend zwischen seiner Erregung und Beruhigung, in seinem spontanen Ja und Nein regen sich anteilnehmend seine Ahnengeschlechter in ihm, doch anders als je zuvor!

 

Und dann ist die Fackel schon weitergegeben! Eine neue Jugend macht sich daran, ihr Schicksal zu erproben, und die Alten bleiben. Mehr und mehr zurück, und manche fragen sich, ob es ein gutes Leben gewesen war, noch ist? Und was es sei, und was es war? Denn ein Leben erscheint kürzer und kürzer, mit den Jahren, auch zuvor schon gewesen zu sein, im Blick zurück: Wird alles kürzer Jahr für Jahr, auch vergangene Zeit..

 

("Ja, das ist so!" "Kann ich noch Wein.. danke!" "Ich nehme noch etwas Tee, aber mit Blütenschnaps, hier!" )

 

Und auch die Jüngeren fragen sich so manches, wollen wissen, über sich, über das Leben, was es sei!

 

("Über das Leben!! Nimm ja den Mund nicht zu voll!" Schallendes plötzliches Gelächter einiger..)

 

Wer von Euch kennt sie nicht, die vorletzte Frage, die wir stellen?

Denn: Bevor wir uns selber fragen, was es sei, da schauen wir uns um:

War es Anderen beschieden und gegeben, was wir, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, vermißt haben? Zuwenig ist es immer, solange wir fremdem Glanz allein nachspüren. Ein Anderer hat immer etwas, was uns scheinbar fehlt!

Niemanden tröstet es über ein trostloses Dasein hinweg, nur weil eine große Seligkeit eines Anderen doch einmal verrinnt. Den Untergang - eines Glücks - interessiert niemanden, wenn es ein fremdes Glück war, der Untergang interessiert noch flüchtig für ein kurzes öffentliches Schaudern. Einen Aufgang - wenigstens mitzuerleben - ist das Höchste, was unsere Sterblichkeit uns schon selten genug gewährt. Wer möchte da nicht auch!? Glänzen. Auch! Haben! Mehr!! Aber ja nicht das Unbezahlbare daran später bezahlen mit Abschied und Verlust und Schmerz!

 

Später. Bitte später. Bitte viel später. Nie! :

Nie weinen. Nie trauern. Niemals leiden! Nie enttäuscht und zornig sein! So träumt sich die Menge das Glück. Und fürchtet es doch, weil sie alle ahnen, daß es einmal endet. Und so versuchen sie es nicht. Aber glauben es zu kennen,..

 

("Komm endlich zur Sache, heraus damit, hä?!" "Still, du trinkst zuviel!" "Wir sind zum Trinken und Hören ja hier!" "Jawoll!!" "Fang endlich an!" "Jaaa!" anfeuerndes klatschen)

 

Es gibt nichts Erbärmlicheres, als Abweisung!!

Zurückweisung Deiner leidenschaftlichen Liebe!!

 

(„Ohoooo!“ „Hört, Hört!“ heitere Pfiffe, schallender Applaus, Jubeln)

 

Jeder so Abgewiesene ist gezeichnet: Fürs erste ein Stück Hoffnungslosigkeit für die Schöpfung, auf den Müll geworfenes, ausgesondertes Material. So fühlt man sich dann; und wer könnte dann und wollte dann: Das noch verbergen; und alle reine Freude am Leben ist zunächst dahin.

 

("Hoooo!" Murmeln und .. "Hahahaaa, erzähl mehr von Dir!" "Ruhe jetzt!!")

 

Der neue Mond ist reif geworden. Mögen unsere Herzen einander gewachsen bleiben, so wie sie es heute sind. Ich heiße euch willkommen zum Vollmondfest und möchte nun den Sermon, den ich für heute vorbereitet habe, euch nicht mehr vorenthalten (Jubeln, Pfiffe, Raunen). Jasmintee und Blütenschnaps, eure Herzen zu entflammen und zu kühlen, so wie es euch vonnöten sei – und reichlich Wasser - für die Mühlen eurer Gehörgänge! (Klatschen, Jubel, allmählich in Raunen und Flüstern übergehend) Viele Herzen wurden im verflossenen Frühling und diesen Sommer bereits gebrochen. So ist mir zu Ohren und auch zu Augen gekommen (Pfeifen, Protestrufe). Möget ihr nun neue Freundschaft schließen oder den Blick auf immer voneinander abwenden: Es spielt keine Rolle mehr. Denn Entscheidungen sind gefallen und jeder Lebensfaden ist ein Stückchen kürzer geworden. Ich habe die Schere „Schnipp-

Schnapp“ machen hören (er zeigt mit dem linken Zeigefinger nach oben, Pfiffe,

vereinzelte Buhrufe). Wer mich hören will, der höre jetzt gut zu:

 

Geschlechtliches Liebeswerben, wenn es nicht erhört oder erwidert wird, ist fast ein kapitales Verbrechen. Belästigung eines fremden Menschen! Und dazu gibt auch eine aus voller Seele werbende Person gerne ihre ganze Würde preis: Wird zur Ausgeburt geil schamloser Aufdringlichkeit. Das ist obzön wie ein auf offener Straße erledigtes „großes“ Geschäft. Hat das zu sein.

 

(Pfiffe, „selber schuld, Menschenskind!“ „Nein, er hat recht,“ „ach so ein Käse, jeder weiß es doch vorher schon!“ „Rruhe!“ Psst, ..“ „Zuhören!“)

 

- Aber wenn ein Werben erhört und erwidert wird! Sofort wird es zum höchsten im Leben zu erreichenden Zustand, höchste Form des diesseitigen Glückes, die Krönung der körperlichen Gesundheit blühender Jugend, aber auch einer bewahrten blühenden Jugendlichkeit. Aller lauerndem Siechtum und langsamen Absterben wehrensollenden geregelten Lebensführung eine Nase drehend, der verhärteten Askese spottend. Die behagliche Souveränität finanziellen Reichtums und die Ausgeliefertheit bedürftiger Armut gleichermaßen verhöhnend. Angesichts des echten Liebespaares erbleicht jeder verbitterte Falschspieler und jeder seriöse und wohlanständige Mensch!

Wo ist jetzt euer sorgsam gehütetes bißchen Glück? Euer Stolz auf Wohlanständigkeit, auf gesunde Kost und wollene Unterwäsche? Auf euer intrigantes Geschick, andere durch doppelzüngige Kritik von eurer Taschenspielerei abzulenken, oder in Geschäften klug über den Tisch zu ziehen?

 

(„Hee, aber jeder weiß jaa: Echte Liebespaare, haha, die sind so selten!“

„jaa, für dich vielleicht, schau doch nur mal in den Spiegel,“ „heee, Schnauze!“

„Ruhe, hört halt mal zu!“ „Ja, laßt ihn endlich reden!“ „Maauuul!“ „Ich hab mir geschäftlich nichts vorzuwerfen! Hier!“ „Frauen wollen eh nur Geld!“ „Und Männer nur das eine, du Sack!“ „Wer gut aussieht und gut bestückt ist, läßt andere für sich sorgen, oder? Hähähä!“ „Schäm dich was, Spitzbube!“ „Pssst!“)

 

Stellt euch nur vor, es gelänge irgendwo einmal! Zwei, die sich echt und uneingeschränkt lieben, ohne Kompromiß und wenn und aber, ohne Hintergedanken und Notdürtigkeit. Frei beide! Beide souverän und schön!

 

(„Meinst du? Daran glauben doch nur blauäugige Minderjährige!“ „Ist ja nich waahr!“ „Ich glaub da nich dra..“ „Bist auch nicht gefra..“ „Ruhä!“)

 

Und nur vielleicht, vielleicht gelingt es ja manchmal doch!

Hier! Oder dort, da, irgendwo!:

Fangen zwei Unscheinbare an, wo sie stehen! Sind wie sie sind! Komme, was kommen soll. Morgen? Nein: Heute! Heute? Nein: Jetzt!

Genau heute und nur hier und nur jetzt, so ist die Gegenwart! ..

Ein ganzer Kerl, der einer durch Liebeswerbung belästigten Person eben noch als selbstloser Beschützer und Kavalier zu Hilfe eilen wollte, sieht jetzt einen Abgrund vor seinen beherzten Schritten klaffen.

Eine hochmütige langhälsige Gans, die eben noch einen süßen Kerl für eine Nacht vernaschen wollte, oder für eine Woche, muß abdrehen und ihre tränenden Selbstzweifel hinter Fächer und Taschentuch kaschieren.

Ein Liebespaar: Oh, welche Macht!

 

(“Jawoll! Bravvoo! Hurra!“ Allgemeiner Jubel bricht aus, klatschen!)

 

Kräftige, tiefste Seligkeit den so Beglückten! Aber ein Wert – nicht käuflich, allen dies Duldenmüssenden! denn jeder fühlt die Tatsache der Auserwähltheit sich auf einmal gegenseitig Liebender.

 

Nicht: Durch insgeheime Frömmigkeit von Himmeln und Göttern unsichtbar angenommen sein.

Sondern: Wer sich in der Liebe glücklich und erfolgreich sieht, ahnt sich von der Natur ausersehen. Erwählt von einer Göttlichkeit, deren Triumphe sofort jedem spürbar und sichtbar sind, so, wie ein gefüllter Sack Silber bezahlen kann, ein scharfes Schwert schneidet, zwölf starke Männer im Handgemenge gegen nur drei Schwächere einfach die Stärkeren sind.

(„Und das soll einfach so?“ „Da mußt Du aber was für dich tun, mußt an dir arbeiten, sowas geht nicht durch puren Zufall, hä?“)

 

Nun, Männer kann man bestechen, Geld vielleicht einmal erfolgreich stehlen, - falls es dringlich jetzt und sofort daran mangelt, - oder fleißig über lange Zeit zusammentragen. Die Muskeln kann man trainieren und als Redner sich durch Übung in heimlichen Wortgefechten auf die Öffentlichkeit und ihre hinterhältige Scharfzüngigkeit vorbereiten. Aber vom anderen Geschlecht geliebt werden! Das ist eine Gabe, worauf Einzelne keinen Einfluß haben, auch wenn manche glauben, sie würden diesen Einfluß tätigen: Tätigen die Tatsache des Charisma? Sicher sieht es leicht für Alle auch so aus. Aber wen die Natur fallen läßt, der wird spüren, daß seine Künste und Kniffe nicht die seinen waren, sein vermeintliches Können und sein Wissen ihm in der Glücksträhne so wenig genutzt wie geschadet haben - und daß es keine Tricks, sondern in der Natur nur Leben oder Tod, Glück oder Unglück gibt.

 

(„Donnerwetter!“ „Ja, das glaub ich auch!“ „Klar, Kopf oder Zahl!“ „Schwätzer!“ „Selber!“)

 

Du kannst mit Trug und Gaukelspiel, vielleicht gestohlenem Silber, durch eine Erbschaft, vielleicht durch geschickte politische Intrige, dich selbst und andere betrügen und dich für eine Zeitspanne aufführen wie ein Gott auf Erden. Jeder wird mehr oder weniger gezwungen sein, mitzuspielen, oder dich zu ignorieren, aber jeder weiß im Grunde: Es ist alles daran Trug und Schein. Auch der Erfolg beim anderen Geschlecht ist dann nur ein wirtschaftlicher oder ein Spiel mit der Versuchung fremder Neugier. Aber die Frau, die von Männern geliebt wird, der Mann, der von Frauen geliebt wird: Nicht um einer oder mehrerer Eigenschaften der Person, sondern rein um ihrer oder um seiner Selbst willen ? – werden beide einfach Teil eines vollkommen einverstandenen Ganzen!: Dies ist ein vollgültiges Spiel – der Natur und jeder insgeheime Stachel der Empörung dagegen will keine rechte Spitze haben. Denn hier verschmelzen Schein und Sein in Eins. Ist da Betrug?

 

(„Was ist denn schon ein Menschenleben, hä? Angesichts des riesigen Weltalls, angesichts der Jahrmillionen Leben, meine Güte, was faselst du da nur?“

„Klar, sind halt die anderen mal neidisch, das Leben geht weiter, ich bleib bei meinen Leisten und bei meinem Fach! Von großen Gefühlen da, davon versteh ich nichts!“ „Und schau nur das riesige Meer, die hohen Berge an, und dann lieben sich halt zwei, hähähä, na aber wenn schon!“

„Ja, das stimmt, wir sind doch allesamt nur kleine Würstchen, die sich da als was besonderes vorkommen, ein Erdbeben, in Vulkanausbruch, und alle sind wir weg!! Hahahaa!“ „Jawolll! Bravoo! Genau! Hahahahaaaa!” Allgemeines Gelächter, zynisch und derbe..)

 

Schaut euch das Leben an, denn die Steine sind tot, die hohen Berge und Wüsten sind nichts als Geröllhalden voll Schutt und Sand. Umpanzert mit starrem Eis und Schnee - oder gebrannt bei Tage in sengender Glut, starrend im Frost klirrend kalter Nacht. Da ist Zerfall ohne rechte Erneuerung und ein dauerndes Hin- und Herwehen von bunten Sanden und Staub. Aus Vulkanen kocht flüssiges Gluhtgestein herauf, toter und todbringender Sud, der erkaltet, um wieder zu zerfallen. Doch überall, wo Leben ist, gibt es keine gläsernen öden Halden, die nur Orte bröselnder Dauer sind, sondern da ist Sprießen, Gebären, Knospen – und Hinfälligkeit und Verletzbarkeit und schließlich Tod, ja. Betrug?

 

(... Husten und Hüsteln Schweigen Räuspern...)

 

Aber das Leben selber hört nicht auf zu sein. Überall wuchert es hervor, wächst, kribbelt und krabbelt, senkt seine Wurzeln und Fäden klammheimlich in härtesten Fels, erschafft von grünem Saft strotzende Stämme, die Steine sprengen, spannt Muskeln und durchmißt Ströme, Lüfte und Ebenen.. Das Leben nährt, hegt, erdrückt und erdrosselt sich selbst in seinen vielfältigen Wesen, gegenseitig. Umschlingt, würgt und saugt aus, frißt sich selbst auf, ersäuft in Sturmfluten, verdorrt, erfriert, verbrennt im Wechsel der Klimaperioden und der Jahreszeiten und ihren Katastrophen, kriecht aber einen Augenblick später wieder in großer Vielfalt und zahlreich aus allen Ritzen und Höhlungen hervor, taucht aus den ungeahnten Tiefen der Ozeane auf.

 

Eine Wiese, sie sprießt auf und wächst: bis sie triumphierend und summend vor Insekten in brennender Blüte steht. Aber das ist ihr Ende. Nach der Blüte verdorrt sie allmählich, verstummt, und wie Asche ihres Blühens knistert das Stroh und inmitten hinterbliebener Aschengerüste, in denen zuvor aromatische Säfte kochten: Verdorrte Samenkapseln

 

Die einzelne Pflanze, das einzelne Tier ist nie das Leben selbst, sondern ein Totgeweihtes, was nichts anderes will und kann, als: unbedingt am Leben bleiben: Ein Teil dieses riesigen, sich selber verschlingenden und immer wieder selber gebärenden Leibes zu bleiben, der so ganz ein anderer Leib ist, als der der steinigen Gebirgshalden, die nach langen Zeiträumen von Winden und Wassern fein vermahlen zu Sandstränden, staubigen Wüstendünen werden. Der ganze riesige Leib des Lebendigen nährt sich aus den Wassern und sehnt sich hin zu leuchtender Wärme, nämlich zur Sonne hin. Auch wenn das Lebendige sogar manche seiner unzähligen Glieder bis in die ausgetrockneten Wüsten hinein, in dunkle Grotten, finsterste Meerestiefen ausstreckt, aber das Licht auch dort in körperlicher Erinnerung behält. Überall als plötzlicher Niederschlag erscheinen könnend, flink, schmiegsam und bebend, behende wie Wasser, aber zehrend und sich ausbreitend, dabei alles angetroffene in sein eigenes Prinzip verwandelnd, wie ein Feuer! So sucht es die beiden Elemente in irgendeiner Weise immer auf, führt sie mit sich, und ahmt sie nach. Um lebendig zu bleiben.

Am Leben bleiben: Sparsamst, um so verschwenderisch wie möglich zu gedeihen, entfaltet die Kreatur, ob Pflanze oder Tier, ihr Dasein. In Wäldern scheinen Bäume, Sträucher, Moos und Kraut im Wettstreit um Sonnenlicht sich zu umschlingen, gegenseitig sich stützend und erdrückend, gebend und nehmend, triumphierend und sich ergebend. All das atmet in einem großen Schlaf, allmählich sich enthüllend wächst es, und du siehst es nur, wenn du zum zweitenmal vorüberkommst, es verbirgt sich zuweilen gar in Dornen, Nesseln, Stacheln, - so wie auch Schlafende sich ohne Willen möglicher Berührung erwehren, - so fern und nicht ansprechbar ist uns die grüne Welt.

 

Fleißig weiden Tiere über das wehrlos zum Licht schlummernde Wuchern hinweg, legen sich dann nieder an den Wasserlöchern. Aber es bleibt ihnen keine Ruhe. Sie müssen flüchten, um am Leben zu bleiben, hellwach gilt es die Schritte zu setzen, mancher Giftzahn und tödlicher Stachel verbirgt sich in Sand und Kraut, manches kräftige Gebiß lauert hungrig im Dickicht und im seichten Wasser. Scharfe Schnäbel sind bereit, aus der Höhe herabzustürzen. Es dürstet von überall her auf vielerlei Weise nach der kräftigen Würze und Süße frisch dampfenden aber auch erkaltet vergorenen Blutes. Um auch, wie jede Kreatur auf ihre Weise, am Leben zu bleiben.

 

Am Leben bleiben: Der Käfer springt eiligst fort, sobald er errät, daß du ihn mit deiner Sandale erschlagen könntest, läuft aber zuerst hinter die Truhe oder unters Gebüsch, bevor er sich eine ihn verbergende Ritze sucht, worin du ihn so leicht nicht mehr findest. Kommst du einem wehrhaften Tier zu rasch zu nahe, welches errät, daß es dir an Kraft überlegen ist, du aber nicht so schwach oder winzig, daß du ihm nicht gänzlich ungefährlich währest: Es zögert selten lange, dich sogleich unschädlich machen zu wollen, deshalb möchtest du gar nicht erst in seine Nähe, verbirgst dich, um am Leben zu bleiben.

 

Manchen Tieren gaukeln wir etwas vor, dressieren sie, oder wir zähmen welche, um sie zu uns zu holen, damit sie uns Lasten schleppen, Arbeit abnehmen oder um sie zu mästen, zu schlachten, zu verspeisen. Durch List und nicht mit Reißzähnen und einseitiger Körperkraft werden wir zum Jäger. Gräser und Kräuter, sogar Bäume holen wir zu uns, überlisten sie, damit sie uns zu Nutzen und zu Gefallen wachsen. So legen wir Gärten und Felder an. Oder wir ziehen mit gezähmten Tieren durch Savannen und nähren uns mit von ihrer Milch und ihrem Fleisch. Nehmen unseren Tieren in den Sommern die Wolle oder gar den Pelz, um in den Wintern nicht zu frieren, weil wir nackt sind wie frisch geschlüpfte Vogeljungen, oder wie manche neugeborenen Mäuse, die in einer Erdhöhle zur Welt kommen, - und fast gänzlich nackt bleiben unser ganzes Leben lang. Pelzlos, unbehuft, ungepanzert, ohne Horn, Flosse oder Flügel. Wehrlos jedem Dorn und Reißzahn, jeder Hitze, jedem Frost und in den Fluten dem Ersaufen ausgeliefert, ist es dem Menschen gegeben, alle Natur und jedes Leben darin zu überlisten, auch seinesgleichen und als Einzelner sich selbst. Und darum fürchten wir nicht nur Flut, Hunger, Dürre, Hitze und Frost, den Reißzahn und den giftigen Dorn, sondern den Irrtum und die Täuschung.

 

(„Jetzt brat mir einer einen Storch! Irrtum und Täuschung? Jetzt sind wir schon fast bei der Entstehung der Welt angelangt! Worauf willst du hinaus, wenn ich mal fragen darf?“ „Still, mir gefällt das. Trink du deinen Blütenwein und sei still. Gibt es noch Tee?“ „Ich höre ja zu, aber.. Kann ich noch was Wein kriegen? Jaaa, danke, aaah!“ „Sprich weiter!“)

 

Jede einzelne Kreatur, ob schlummernde Pflanze, getriebenes Tier oder sinnender Mensch möchte am Leben bleiben. Denn es scheint schön zu sein, am Leben zu sein. Betrug?

Dem Mißtrauen allein ist alles Betrug. Aber das Leben selber hat keine Zeit, mißtrauisch herumzudenken! Es ist zu vielfältig, um sich in seiner geringsten Regung auf ein „nur weil“ reduzieren zu lassen. Es ist Geburt und Tod. Es kann voller Freude und voller Leiden sein:

Auf Freude folgt Leid? nein, beides gleichzeitig! Daran ist alles echt. Und so verteidigt sich jede Kreatur gegen ihre Vergänglichkeit, leidet ihre Not, um sie abzuwenden: Um am Leben zu bleiben! Und so erhält sich das Leben selbst in ihr. Und beschenkt sich selbst mit der Zeitspanne eines einzelnen Daseins, welches herunterzubrennen scheint, wie das Feuer einer Fackel, die ausgelöscht werden kann, oder einst von selbst erlischt. Dann hat das Leben wieder einen Atemzug getan. Zurück bleiben leere Hülsen, Schalen, Kapseln und Gebeine, so tot wie Sand und Steine.

 

(„Uhh!“ „Ist doch wahr?“ Husten Räuspern)

 

Wenn die Lebewesen aber auf der Höhe all ihrer Kraftentfaltung beben, geschieht mit ihnen immer etwas Sonderbares. Überall, direkt und unerwartet:

Ihr Leben selber beginnt sich stärker und immer stärker in ihnen zu regen, so stark, daß sie es zu feiern wünschen! Ob Pflanze, Gewürm, Tier oder Mensch: Weite und Ewigkeit selber versprechend drängt es mit einem Mal aus ihnen hervor, als stünden sie alle, alle jetzt kurz vor dem göttlichen Versprechen, sich für immer die Unsterblichkeit erringen zu dürfen! Das Paradies öffnet die schweren Pforten und antwortet der Mühe der Lebenden: Statt schmerzlicher Erhaltung und Entbehrung sprudelt allmehrendes Wachsen geheimnisvoll in allen mühelos auf!

 

(„Die Jugend!!“ „Hä?“ „Naja, die Jugend, fühlt sich unsterblich!“ „Mmmh.“)

 

Und es ist die Unsterblichkeit, und es ist die Ewigkeit selber – und nicht nur das ihnen zubemessene Leben, welches sie sich sonst so mühsam zu erhalten trachten, – an der sie nun teilhaben sollen! Ach, teilhaben! Denn sie selber sind es nicht! Und jede Kreatur fühlt sich unmittelbar und unschuldig auf ihre Weise auf dem Weg zu ihrem ewigen, unsterblichen Sein!

Ewige, unsterbliche Natur! Und jedes ihrer Wesen fühlt es endlich, heute und jetzt:

 

Und war auch alles zuvor gewesene Leben hier an seinen Grenzen angelangt, Diesmal soll es für immer gelungen sein:

Zum ersten Mal! Unsterblich zu werden. Einmal und für immer! Endlich! endlich! endlich.. ...

 

Gewaltig reizt ein jäher Drang, noch mehr, viel mehr, neues, neues, ganz neues Leben, Leben zu zeugen, weil der Erhalt der eigenen Wenigkeit nicht mehr ausreicht, ein Leben selber zu erhalten. Und das Leben in den Einzelnen Wesen fordert dann für sich um ein vielfaches gewaltiger seine Ansprüche, als einst der Drang nach eigener Selbsterhaltung! Denn von allen Wesen anfangs kaum bemerkt, aber immer still ersehnt, kündigt sich in ihnen die Bereitschaft zu Befruchtung, Empfängnis und Opfer an: Verborgen in höchster Entfaltung von Wonne und Daseinsfreude. So aber müssen alle Lebewesen, eben noch auf der Höhe äußerster und eigenster Kraft und Schönheit inmitten ihrer Feier des Lebens, ... ... ...

Sklaven des Lebens werden, - Leben, welches sich unverkennbar als gar nicht mehr ihr Eigenes offenbart! Leben, welches nur durch alles Einzelne, Sterbliche hindurchflutet, um all diese Hülsen am Ende, nämlich inmitten des Triumphes der Lebendigkeit in denselben – im Stich und endlich ganz ..zurückzulassen. Das ist Betrug!

 

(„Ach so meinst du das!“ „Betrug, ja, das ist irgendwie schon wahr!“

„Gebt mir noch Wein, hach, er hat schon recht, aach!“ „Trink doch nicht soviel!“ „.. ja, ja.. wir sind alle bloß Puppen, von der Natur an Fäden gezogen, hurps, hick..“ „Hohoho!“)

 

Was ist uns das Blühen!? Der Kräuter, Stauden, Sträucher und Bäume?

Alle Festlichkeit für das Auge, alle Zier von Hausrat, Kleidung, und sogar Gebäuden haben wir von den Blüten gelernt, weil wir uns durch die Sprache der Blumen hindurch vom Leben angesprochen fühlen. Auch ihr Duft hat uns durch unsere Nasen so vieles erst wirklich erklärt. Zarte Bescheidenheit, hypnotisches Betören, inbrünstig aufdringlichen Geruch gibt es da. Kräftig und stark duftet manche Pflanze, aber schließlich zärter und immer jeweils dann zum vielfältigsten Aroma gesteigert, wenn diese Pflanze ihre Blüte weit geöffnet hält. Wenn Wachsen, Wurzeln und Sprießen und Gedeihen nicht mehr zu genügen scheinen. So wie nun Kraut, Baum und Strauch in Farben und Düften sich entfalten, sind sie jetzt ganz anders, obgleich die Pflanze mit ihrer Blüte einbeschlossen immer noch die gleiche ist. Vielleicht wären Pflanzen ganz so, wie sie blühen, wenn sie nicht am Leben bleiben müßten, sondern einfach >Sein< dürften. Wären vielleicht ganz und nur: Blühen und Blüte. Und vielleicht wäre dies erst der Anfang: Eines bunten Kaleidoskops aus Düften und farbigen Lichtern, und unter all solch reiner Prachtentfaltung wäre manches Dunkle und verschwiegen Funkelnde der uns hier in der Bedingung ihrer Selbsterhaltung nur immer grün erscheinenden Farne oder Nadelhölzer.

 

Das Blühen der grünen Welt tätigt sich nicht, es geschieht. Hier entfaltet sich ein Bild der kühlen Zurückhaltung, dort eines wilder Begehrlichkeit, da blüht es kühl, straff und stolz, dort aber welkt es schon matt, bevor der ganze Fächer erst entfaltet ist. Ein Schauspiel für durstige Fliegen, Hummeln und Bienen? Dieser Wettlauf und Reigen mit leuchtenden Formen aus einer anderen Welt! Dessen Sprache wir Menschen, abseits stehend, selten so durch und durch begreifen: Stimmungen, die in unseren Seelen auf- und abklingen, scheinen sich in den Blumen zu bilden? Aber kleine glänzende Vögel und all das fliegende schillernde Gewürm, die selber bunt und leuchtend, ganz Wesen dieses Vorgangs sind: Wie sie trinken und trinken!

 

Wir haben bei auf – und untergehenden Sonnen und Monden gestaunt, und beklommen geschwiegen, wie auch Vögel zur blauen Stunde, wenn Tag und Nacht sich begegnen, immer schweigen müssen. Zu mancher Zeit auch gejubelt und geweint, weil es wiederkehrte! Wir haben das Farbenspiel mancher Morgen und Abende gesehen mit seinen bunten Überraschungen. Wenn das Licht in Wolken und Lüften spielte! Auch das Blühen der grünen Welt ist mitsamt dem Auf – und Untergehen von Sonne und Mond den Menschen eine vertraute und erwartete Wiederkehr! Auch das treue Leuchten der Sterne, verwandelt, ist für uns in Blüten greifbar nahe zur Erde gebracht und dem blühenden Gewächs ist sein Blühen Vollendung und Bestimmung in äußerster Hingabe, immer zum ersten Mal!

 

Wenn die Frühjahrsnächte hindurch um die Ufergestade die Frösche quaken, ist es eine selige Feier, lauter und lauter möchte es werden. Einer muß den andern übertreffen, als gelänge es Geschöpfen jetzt, wie nie zuvor, zum ersten Mal auf Erden, aus der Wasserwelt heraus in den Luftraum zu tönen, aus einem Wesensinnern heraus die stille Welt mit lebendigem Lärmen zu erfüllen! Wo bisher nur Winde und die Wasser rauschten.

Der flügge Jungvogel, der sein erstes eigenes Singen anfängt, ist sich der erste Vogel der ersten Dämmerstunde über Wassern und Gebirgen der grünen Welt.

Jeder junge Hirsch, wenn er seinen ersten Schrei tut, ist sich selbst der erste Hirsch in der herbstlichen Abenddämmerung des ewigen zeitlosen Waldes.

 

Stark und voller Lebendigkeit sind sie jetzt alle! Kein „noch nicht“ und kein „nicht mehr“ trennt sie jetzt von ihrer Gegenwart. Fast ausgeschaltet ist der Instinkt der Vorsicht und Nachsorge!

 

Leben, sich befreiend von seinen äußeren Bedingungen, um sich hinzugeben an Sich Selbst, und sei es nur möglich, indem es alle Bedingungen einmal wie für immer ignoriert!

Um seiner reinen unzersplitterten Kraft furchtlos gewahr zu sein! Schutzlos preisgegeben aber, wie nie sonst!

 

Mit Kühnheit und Zuversicht umwerben die männlichen Tiere die erwartungsvollen Weibchen, bis so mancher erkennen muß, daß dem Starken immer ein Stärkerer lebt, daß dem Prächtigen ein Prächtigerer lebt. Und sogar manches Weibchen erleben muß, daß der Duft eines anderen bevorzugt wird. Dann fällt ein erster Schatten in den jüngsten Tag.

 

Wir haben den Gesang und den Tanz erfunden, weil wir den Übermut der Tierwelt auf der Höhe ihrer Kraft selber vom jüngsten Tag her in uns fühlen. Das Summen des Biens inmitten süßer Kräuterwiesen, das schwerelose Gleiten der Fische im Wasser, das Sichlosreißen und Aufschwingen der Vögel, um Erdboden und Bäume unter sich zu lassen, das ausgelassene Wiehern der Pferde, wenn sie über die freie Savanne rasen, das ratlose Heulen der Wölfe in Vollmondnächten und viel, viel mehr finden wir in uns, wenn es uns zum Singen und zum Tanzen hinreißt.

 

Auch die Menschenkinder, wenn sie zu sich selbst erwachen, fühlen dann ihr Blut in ungekränkten Adern zu Herzen gehen.

 

Schimmernde Blicke, morgen? morgen? Warum nicht heute?: Hand in Hand mit der besseren Welt! Fernab von Sauerkeit und müder Aufsicht der Eltern machen sie sich jetzt auf die Suche, jeden Menschen ihres Frühlings kennenzulernen! Keine Bedenklichkeiten, kein sich in der Rede wiegendes Haupt, keine Warnung mit dem Zeigefinger! Vorsicht und Rücksicht sind aufgehoben und allein die tiefe Leidenschaft führt sie hinaus ins Leben. Zum allerersten Mal!

 

Ewige, unsterbliche Natur! Jedes Wesen fühlt, wenn sein Leben sich in ihm zu feiern beginnt: Und war auch jeder Frühling zuvor Vergänglichkeit: Diesmal werden sich die von Lust überschweren offenen Pforten des Paradieses nie mehr schließen können!

 

Und es ist ja wahr: Das Leben geht weiter. Die einzelne Kreatur aber muß doch bald leiden, und am Ende gar zugrundegehen und sterben. „Das Leben geht weiter“: Was ein grausamer Spruch für jede alleingelassne Kreatur!

 

Wie ist die Gottheit, die dieses Leben wirklich lebt?

 

Das Wesen alles Lebendigen ist doch niemals mitgestorben! Ist es denn also doch noch nicht die Ewigkeit und Unsterblichkeit selber? Dieses schöne Leben! Es ist vielleicht das Wesen alles Lebendigen, hier in seiner Unendlichkeit von Zeugung und Geburt, nur Spiegelbild eines wirklich Ewigen Lebens in die Welt des Todes?

Die Welt des Todes:

Manches vom Rudel abgewiesene einzelne Tier hetzt verloren hin und her, bevor es totgebissen, oder ohne Schutz und Nahrung verendet.

Umsonst haben unzählige Männchen werbend ihre Kraft gefühlt und auch gezeigt, gehungert gar, gestoßen und gebissen und gekratzt, um keinen Augenblick zu säumen, und viele Weibchen tragen nun den Samen des verhaßten Einen aus, der dick und struppig und zufrieden abseits an bequemster Stelle liegt.

Im Frost des Frühjahrs büßte mancher Strauch und Baum sein allzufrühes Blühen.

Eine Unzahl Pollen rieselt immer in die Regenpfützen und wird zu nichts als Humus.

Nach der Verschwendung einer Überfülle reift schließlich da und dort die Frucht.

 

Dann bindet sich das allzulose Leben wieder, Höhlen werden gegraben, Nester gebaut, Herdenzüge, Schwärme und Rudel setzen sich in Bewegung um reichere Nahrungsgründe zu erkunden. Und das den Einzelnen fühlbar nahe Paradies wird eine Last. Schwerer den Muttertieren jeden Tag. Sie sind den Männchen keine Sehnsucht mehr, sondern Sorge um die Niederkunft.

 

Ausgesetzt in Sturm und Wind, verborgen an schwankenden Zweigen bebt ein Vogelnest. Zart und verletzbar alles daran und darin, gerade noch so versteckt. Ein übermütiges Wagnis!

 

Oder: Aus oft erschöpften, manchmal schon angegrauten Leibern schlüpft unversehrt von Kränkung und ohne die Vernutztheit des Fells der Alten der Frischling. Jedes Jahr aufs Neue, irgendwo. Schon zeitenlang.

 

Schnee und Eis erliegen der Versuchung der ersten milden Sonnenstrahlen und schmelzen. Die Samen springen auf, die Feuchte ergießt sich in den Keimling, der jung und glatt und schön zum Schößling eregiert. Die Hoffnung ist befreit. Nackt und ohne eine Spur von Fäulnis und Bedrängnis sprießt neues Leben und nimmt sich dankbar an.

 

Wir haben die Sonnenauf – und untergänge schließlich gezählt, die Phasen des Mondes und ihr Verhältnis zu den Sternen bestimmt. Oh, hätten wir es nie getan! Aber wir hatten begonnen zu ahnen, wie sich alles umwendet und zurück- und immer wiederkehrt, also bereiteten wir uns auf die Wendungen und Wiederholungen im Leben vor, unserer Verletzbarkeit eingedenk und manchmal mißtrauisch. Wir haben das Sterben gesehen, und das Gebären, überall! Und alles Geborene wieder sterben sehen! Dazu starben eben auch mit der Zeit einmal alle von uns, uns Menschenkindern. So viele, die wir so liebhatten, starben uns fort. Mancher verhaßte Mensch wurde ebenso hinweggerafft. Keiner wurde verschont. Aber mancher Streit löste sich so einfacher. Wir sahen die Scham derer, die krank und hinfällig wurden, und die Furcht derer, denen die nun siech gewordenen beigestanden hatten. Wir Menschen, wir sterben, samt wie das Kraut, wie das Vieh, wie ganze Landstriche sterben in der grausamen Liebkosung zu heißer Sonnentage, wir sahen da tote Fische im Wasser treiben, sahen da alle Tiere am Land schwach und ausgemagert und tranken das Blut unserer Tiere. Oder es wurde gestorben im Haß des steinigen Frost, da aßen wir mit fremden Tieren gemeinsam den Fisch blutig und auch den Schnee. Viele, viele von uns starben gerade zu diesen Zeiten schneller, als wir glaubten, daß uns Zeit gegeben sei! Ja, mancher lebte gerne und länger, und starb- schließlich auch. Und immer wieder starb uns ein Mensch unter sovielen von uns: Zum erstenmal! Und kam uns niemehr zurück.

 

Auch das Töten untereinander und seine Zwiespältigkeit haben wir durch Jahreszeit und Zufall bemerkt und dann oft zu unserem Leid getan. Wir haben gelernt und erlebt, daß der, der es tut, und der, der es gesehen, manchmal, nicht immer, sich auch selber tötet, und wie ein Toter weiterleben muß.

Wie oft haben gutes Essen und Tränke, Zureden und wohlgesetzte Worte manche lebende Tote wieder lebendig gemacht, - damit das Leben weitergehe!

 

Junge Mädchen und Knaben, Tiere, Felle und allerlei Geschenke wechselten Besitzer und Hüter.

Aber wie oft gab es auch Zeiten, wo fast jeder zum lebenden Toten wurde, in denen uns nur Angst und Mißtrauen voreinander blieben, zur Pein des Überlebenmüssens, welches uns Himmel und Erde doch ohnehin abverlangen! Wie oft einer den andern fürchten mußte, da man nicht wußte, ob der Andere bereits ein Toter oder noch ein Lebender sei! Das wißt ihr alle tief im Herzen.

 

(Es ist alles ganz still geworden.)

 

Wir suchten das Sterben an uns selber und betrachteten uns im Wasser oder auf poliertem Gestein, und erkannten uns im Gegenlicht, ohne die Augen anderer. Wir erkannten auch für uns allein dieses Werden, was man „alt werden“ nennt! Es wurde Zeit! Zeit, die wir zu teilen begannen. Um uns sicherer zu fühlen. Es gelang! Und am Tage und in der Nacht bewachten wir den Himmel, der soviel zu Ertragendes und auch Gutes auf die Erde bringt. Wir haben die Sterne unterschieden in die an der Himmelsschale Wandernden und diejenigen, die durch die Zeiten hindurch ihren Platz nicht ändern. Wir besahen die Wolken und gedachten aber auch dem Lauf der Himmelslichter hinter den Wolken. Es gelang! Wir erfanden den Lauf der Sterne, ohne sie zu sehen! Wir haben das Gewußte unserer Toten durch Generationen hindurch mit dem Wissen der Lebenden verglichen und ergänzt. Mit dem Gewußten der Vergangenen und dem Wissen der Lebenden haben Tote und Lebendige sich verbündet, um die Gezeiten des Lebens zu belauschen. Um die Gezeiten des Lebens bis auf ihren geheimnisvollen Grund zu verfolgen, haben sich auch schon einzelne verirrte Suchende, mit ganzen Völkern, deren dumpfer Getriebenheit sie hörig wurden mit ihnen zusammen, über Jahrhunderte hinweg: Zugrunde gerichtet.

 

Das eigentliche Verlangen nach Gewißheit und das Sehnen zu dem Ursprung des Lebens hin ist dabei in seiner Einfachheit oft in Vergessenheit geraten:

Es muß eine andere Welt sein.

Denn wenn aus bald Hinfälligem immer wieder neue Jugend erblüht, so kann diese herrliche Frische doch nicht aus dem Vergehenden kommen!

Immer zum ersten Mal, mit all der furchtlosen Gewißheit, ganz am Leben zu sein? Das eben Geborene und Geschlüpfte!? Das Gebären selber aber auch: Immer zum ersten Mal! Immer bald mit dem Sterben der älteren Kreatur verbunden, einem Leben selber, was eben noch das Leben neu schenkte: Zum ersten Mal! Nie zuvor!, und wie denn auch: gab es den Tod! Nie gab es für uns das Sterben. Und das Leben selber: Wie sollte es mitsterben? Es soll doch leben! Und Leben selber hört niemals auf, niemals!

 

Wie ist die Gottheit, die dieses Leben lebt und stirbt?

 

Wir fürchten uns erst dann, wenn wir fühlen, wie unsere Unsterblichkeit zuneige

geht! Kein Mensch fürchtet sich, wenn er auf der Höhe seines Lebens ist, und sei ihm der Tod selber jetzt schon im Nacken!

 

Auch wenn heute zum erstenmal Deine aus der Ewigkeit kommende leidenschaftliche Liebe an das Leben selber vom Leben in der Gestalt eines geliebten Wesens zurückgewiesen wird, so ist es nichts anderes, als zu fühlen, daß ein kleiner Anteil an deiner Unsterblichkeit auf Erden verlorengegangen ist, verloren gegeben sein muß. Einmal alleingelassen sein ist nicht schlimm. Nur:

 

Ausgeschlossen sein vom ewigen Leben! Hier liegt die Wurzel von soviel Haß, Not und Trauer im Leben aller Kreatur. Und die Wurzel von soviel Scham, Kummer und Hoffnungslosigkeit auch bei den Menschen selber. Menschen!

Nur Scham und stilles Leiden bleibt. Wo sie sonst soviel zu sagen, zu schreien und zu beweinen wußten.

Eine Kreatur von vielen geworden - , der nur die Mühsal bleibt, noch eine Weile zu überleben? Das „Überleben“ reicht einem Leben selber nicht.

 

Jeder Stärkere schützt Schwächere schon deshalb gern, weil er sie nicht fürchtet. Er wird durch sie wenig verlieren. Aber wer Leidenschaft gezeigt hat, hat auch Stärke offenbart: Wie unter einem Rudel von getriebenen Tieren ist auch ein in Leidenschaft entbrannter Mensch unter seinesgleichen nicht mehr sicher. Er weckt schlafende Verzweiflung auf und reizt manche bodenlose Begierde, der das eigene Feuer fehlt. Wer da nicht auf eigene Kraft vertrauen will, wird nie wieder in Frieden leben können. Es ist gleichgültig, ob sein Werben durch die Anderen erhört, abgewiesen oder verleugnet wurde, wenn Freunde und Vertraute sich nicht bekennen konnten und nicht zu folgen wagten.

 

Dem Schlag des eigenen Herzens folgen? Ein Weg ins Ungewisse. So oder so:

Ein ganzer Lebensabschnitt geht damit für manchen unweigerlich zuende, wenn er oder sie sich einmal nicht gefürchtet hat, wenn er oder sie aus sich heraus zu leben -, wenn er oder sie zu begehren wagten. Wie Unsterbliche es tun würden!

 

Denn: Fangen zwei Unscheinbare an, wo sie stehen! Sind wie sie sind! Komme, was kommen soll. Morgen? Nein: Heute! Heute? Nein: Jetzt!

Genau heute und nur hier und nur jetzt, so ist die Gegenwart! ..

 

Kräftige, tiefste Seligkeit den so Beglückten! Aber ein Wert – nicht käuflich, allen dies Duldenmüssenden!

 

Was ist der hilflose vernünftelnde Zweifel, und all der Neid auf ein echtes Liebespaar anderes, als ein Gefühl vieler, vieler: Viele, die zur hilflosen, schlangestehenden, wartenden Menge geworden sind und jeden ihrer Lebensschritte bedächtig vorhersehen wollen. In der so sicheren Ansammlung sich dennoch so verlassen fühlender Kreaturen scheinbar geborgen, für nichts und Niemanden je gelebt - , immer nur darum gekämpft zu haben, am Leben zu bleiben. Dem Tode jeden Tag entronnen zwar, noch kaum geblüht, die Unsterblichkeit noch nie im Blut gefühlt zu haben. Noch nicht gestorben, doch dem Tod eine sichere Beute. Das Wissen des Überlebenskampfes hat das Wissen um die Unsterblichkeit in ihnen verblassen lassen, und angesichts wirklich Liebender quält sie ein abgrundtiefer Verlust, weil die Liebenden der Schnittpunkt der Unendlichkeitsschleife allen Lebens sind. Jeder noch so vorzüglich Lebende zweifelt an seinem Leben, sieht er, sei es auch nur in seinen geheimsten Gedanken: die Liebenden.

 

Mögen unsere Herzen einander gewachsen bleiben, so wie sie es heute sind.

Möget ihr nun neue Freundschaft schließen oder den Blick auf immer voneinander abwenden: Es spielt keine Rolle mehr. Denn Entscheidungen sind gefallen und jeder Lebensfaden ist ein Stückchen kürzer geworden.

 

(Zarter, langanhaltender Applaus, ohne Jubelschreie)

 

2003 (-2005)

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:idea: Danke, ich fand am Abend nicht sofort die rechte Katekorie! :oops:

Und wie ich selber verschiebe, wußte ich nicht. Zumal ich ja nicht im "inner circle" bin.

Bin erfreut, den Post nicht gelöscht zu sehen. Ich selbst hätte ihn mehr in der Ecke der Philosophosofie gesehen, jedoch ist er in seiner Sprache und Bildlichkeit eben fast schon expressionistisch elegisch, daher "lyrisch"!

Wenn sich unter meinen Händen Texte schreiben, gehe ich nicht von mir gestellten Themen aus, daher weiß ich öfter nicht, wo ich diese dann hier nun einstellen soll. Vermutlich (und ich hoffe doch :mrgreen: :| ) stellte sich diese Frage auf konstruktive Weise hier schon öfter? Herzliche Grüße, Mischa


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