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lch habe geglaubt, zu träumen. Ja, ich habe einer Welt vertraut, einer schönen, runden Welt. Nun gut, vertraut nicht im Sinne dessen, was wir unter Vertrauen in eine exakte und plausible Realität verstehen. Aber ich vertraute einer in aller Wirklichkeit vollständigen Welt der langen grauen Gänge, Hallen und Räumchen eines großen Gebäudes nüchterner Selbstlosigkeit: Meine Schule zuerst, dann die Stätte meiner Internierung als Auszubildender, dann meine Kaserne, dann Ort meiner Lehrtätigkeit. Am Ende stand ich schließlich mit geöffneten Augen mitten in einem lebenslangen Justizvollzug ohne einen Ausweg. Eine Welt, der ich anfangs aus Routine und opportuner Alltäglichkeit vertraute, in der ich dann allmählich mißtrauisch auf Distanz gehalten zur Seite geschoben, und schließlich als Unschuldiger eingebunkert und umhergeführt wurde als lebendige Akte. Gemustert als Objekt einerseits justizwissenschaftlicher Kühle, die an mir ihre Bewährung suchte, andererseits als Objekt der Begierde vieler Prozeßbeobachter und Zuschauer, die einen Schauer meiner ansichtig erleben wollten, um den Genuß eigener Sicherheit an mir zu befriedigen. Unter dem Mäntelchen gesellschaftlich beschränkten Mitgefühls gegenüber dem Verhafteten. So hilflos zu befriedigen. Sonst wären sie nicht zum Zuschauen gekommen. Sie alle waren sich nicht sicher, lebten orientierungslos in einem inneren Labyrinth der Angst, und in ihre Gehirnwindungen hatten sich längst die Gänge und Hallen und Verwaltungsstuben der Welt, in der wir leben, tief eingegraben.

 

Und erst Kirchenglocken am Nachmittag beendeten einen Traum, der kein Alptraum, aber ein trauriger Traum war. Ich empfand keine Erleichterung, als ich erwachte, denn ich hätte gern mehr erfahren, egal, wie trist all das Geträumte auch war. Denn dieser Traum war ein Teil des Lebens auf der Erde selbst, und keine skurrilisch bedrückende, pure Phantasie, der man mal wieder durch ein Erwachen aus dem Mittagsschlaf entronnen ist: Und es wartet nach der Dusche ein brötchengedeckter, sonnenbeschienener Frühstückstisch mit dem Duft der Bohne der Kaffeekirsche und dem behaubten Frühstücks-Ei, Marmelade und Honig funkeln im Glas wie flüssiger Edelstein dazu ...

 

 

Als frischgebackener junger Lehramts-Kandidat hatte ich einer Unterrichtsstunde beigewohnt, die von einer Polizei-Razzia interruptiert wurde, und unter einer Schulbank nächstens meines Sitzplatzes wurden 300 Gramm Haschisch gefunden

 

Fatalerweise lief alles darauf hinaus, daß mir in die Schuhe geschoben wurde, es in die Schule geschmuggelt zu haben, um mich bei schwierigeren Schülern "einzuschleimen". Ich hatte von vornherein keine Chance, meine Unschuld zu beteuern. Zumal die Jungenclique dahingehend geschlossen gegen mich aussagten. Auch deren Eltern waren rasch gegen mich eingenommen. Und die Lehrer der Schule betonten die relative "Anständigkeit" ihrer Buben, und daß "ein solches Verhalten von Schulkindern" ausgeschlossen sei: “Im Unterricht mit solchen Mengen das Risiko einzugehen, Handel zu treiben?! Das glauben nur Erwachsene kalkulieren zu können, die sich, wie dieser Lehrer hier, an einer Schule überhaupt sicher fühlen.” Auch wenn die Zöglinge etwas härtere Burschen seien, wäre diese Menge für deren Alter und immerhin auch familiäres Milieu einfach zu groß. Und so schrien und argumentierten sie, Eltern, Polizisten, Schüler und Lehrer höhnten, spotteten klug und sich gegenseitig bestätigend alle, alle gegen mich an, weil ich alles abstritt.

 

Sie gaben erst Ruhe, als ich einräumte, daß Andere als ich über die Wahrheit oder Unwahrheit meiner Aussagen eine Entscheidung zu treffen hätten. Daß ich mich einer Untersuchung meiner Unschuld beugen würde. Darauf hatte man gewartet, alle wurden gleich still, aber nicht freundlich. Alle sahen mich ernst und für verloren an, und atmeten auf.

 

Zwar wurde mir versichert, daß der Fall untersucht würde, und alles ans Tageslicht käme, und daß ich, falls meine Unschuld nachgewiesen würde, “nicht das geringste zu befürchten!!” hätte. Gleichwohl wurde ich tagelang durch lange Gänge von Beamten begleitet, wurde in verschiedenen Zimmern festgehalten, um dort Fragebögen auszufüllen, verschiedene Tests an Apparaten zu machen, zwanglose Gespräche mit unbekannten Leuten in Zivil, Uniform oder weißen Umhängen und Kitteln zu führen, Unterschriften unter Listen und Erklärungen zu setzen, bis man mich schließlich in einer Art Absteigezimmer, als “freier Mann", “...Sie können von hier aus gehen, wohin sie wollen!!". Quartier zu nehmen nötigte.

 

Ich solle meinen guten Willen bekunden, und doch bitte, rein freiwillig, versteht sich, darauf verzichten, zum Essen und Schlafen immer zwischendurch nachhause zu gehen. (In meine kleine Wohnwabe in einem Mittelkomfort-Silo für Junggesellen im Ausbildungszölibat.) Ich begriff diese Einladung der Verwaltung zuerst wirklich als willkommene Abwechslung und war froh, meine entgegenkommende Offenheit, auch im Umgang mit Menschen in autoritärer Position unter Beweis stellen zu dürfen.

 

Das Zimmer befand sich in einem Flügel des riesigen Vollzugskomplexes mit Büros, Untersuchungsgefängnis, Krankenstation, Gerichtssälen, Schreibstuben und Bibliotheken, Parkhäusern und kleinen Imbiß-und Zeitungsbuden. Auch Polizeiaufgebot war dort großzügig stationiert, was schon an den gepanzerten Fahrzeugen auf einem Parkfeld zu sehen war, und an einem mäßig frequentierten Hubschrauberlandefeld inmitten einer der Dachpark-Anlagen mit Wasserspielen.

 

Gelbe Gardinen am Fenster. Die automatische Jalousie vor dem Fenster aber konnte nur extern geschlossen werden, im Zimmer selber suchte ich vergebens einen Schalter dafür. Schmales Bett. Waschbecken. In dieser Vollzugs-Stadt lebte ich jetzt etwa sechs Tage, aß belegte Brötchen, trank Mineralwasser und las Zeitungen. Der Kiosk eben, auf dem Gang meines Stockwerks.

 

Während zwei Sekretärinnen, die mit meiner Sache beauftragt waren, mir dauernd sich verschlechternden Bericht über mein Verfahren gaben. Das gibt sich, dachte ich. .. Das gibt sich.

Ich aß ruhig und mit Appetit die Wurstebrötchen vom Kiosk auf dem Gang. Bis mir von uniformierten Beamten verkündet wurde, daß nun mein Vorverfahren eröffnet werde. Man wolle und dürfe mir nicht verschweigen, daß ich nach einem ungünstigen Vorverfahren bis zum Hauptverfahren mit zwei Jahren Vorbeugungs-Haft in einer Engzelle zu rechnen habe, die jedoch 8 Stunden pro Tag zum Anstaltskomplex hin geöffnet werde, um die Gefangenen zu Arbeitsverrichtung und zum Exerzieren und Hymnen-Chorgesang anzuhalten .. .“All das macht die Besinnungsübung der Engzelle gut erträglich und schult sehr human Körper und Geist, wie jeder weiß!”

 

Engzelle, das wußte jeder Bürger des Glücklichen Republikanischen Bündnisses bedeutete nicht bloß 1,5 m x 1.5m Fußboden, sondern auch 1,5 m Deckenhöhe. Denn mehr Raum brauche ein Mensch nicht, um ordentlich über sich selber nachzudenken - Man dürfe auch lesen dort. “Erstmal dran gewöhnt, ein Urlaub für den Geist!”

Es sei alles Gewohnheits-Sache und stärke den Charakter der Gefangenen nachhaltig weit über jegliche Haft hinaus, wie mir ein rundlicher Beamter warmherzig und fettig mit saurem Mundgeruch aus rotem Kopf versicherte, als sie mich zum Auftaktprozeß der Einleitung des Vorverfahrens "leider" abholen mußten .

 

Jetzt schon verlor die Situation alles von der anfänglichen Gemütlichkeit.

 

Zuerrst ging es in ein kleines Gesprächszimmer, wo ich alleine einige Zeit auf eine Frau in mittleren Jahren warten mußte. Als sie mit einer Mineralwasserflasche hereinkam, roch sie nach Leberwurst und Kaffee. Sie war behaglich gekleidet, so, wie man sich zuhause in der Freizeit bewegt. Sie “wohnte” quasi hier. Soviel konnte ich aus der subjektiven Behaglichkeit, die sie verströmte, zumindest ablesen. “Sie haben einen schönen Beruf!“ sagte ich artig. “Oh, danke, das finde ich auch!” antwortete sie gleich unter roten Flecken, die sich spontan an ihrem Hals und in ihrem Gesicht bildeten. Sie unterdrückte verkrampft ihr geschmeicheltes Lächeln und sah mich streng an. Wir einigten uns auf einen traurigen Blick von ihr zu mir…Unter ihren Zeitungen, die sie dabei hatte, kramte sie einen Block hervor, und las daraus die einzelnen Punkte meiner “Rechtsbelehrung“, die sie mir erteilen sollte, vor. Draußen wartete der dicke Beamte mit dem roten Kopf und dem empfindlichen Magen, um mich nach der Rechtsbelehrung wieder in Empfang zu nehmen. Die Belehrung lautete:

 

Falls im Vorverfahren die Annahme sich als zwingend erweisen würde, daß ich per anschließendem Hauptverfahren zu den zwei Jahren verurteilt werden konnte, müsse man mich in Voraushaft nehmen, in die sogenannte Vorbeugungs-Haft, um Fluchtgefahr sowie eine Bestrafungsversäumnis auszuschließen und ich sei gut beraten, mir keinerlei Protesthaltung äußerlich anmerken zu lassen. Besser sei vorurteilsfreies Wohlwollen und kooperative innere Aufgeschlossenheit gegenüber der Richterin. Mir würde auch bei späterem Freispruch dereinst eine kleine Haftvergütung, spätestens dann, zustehen.. Aber die Hauptverhandlungen würden wegen Personalmangels und der ungeheuren Anzahl noch ausstehender Prozesse nie genau vorhersehbar sein. Bis dahin müsse ich in Engzellenvoraushaft eben aushalten.

 

Ja, daß auf diese Weise neuerdings aus einer zweijährigen eine vier- oder fünfjährige Haft würde, dies sei leider keine Seltenheit. Die längste “Zweijährige” habe sage und schreibe acht Jahre gedauert, aber so etwas, daß dürfe nun wirklich nicht passieren, und diese Sache hätte auch ein gehöriges Nachspiel gehabt, der Prozeß hierüber dauere noch an.. Der so nun wirklich sich als Geschädigter ..er bekäme die doppelte Haftvergütung, das sei schon jetzt so gut wie sicher .. Jaja.. Nun, ich sei ja auch nicht für umsonst in meiner jetzigen Lage, na also, gut, daß ich es einsähe, daß mir nicht einfach geglaubt werden dürfe, alles vieler Prüfungen, nicht?, bedürfe... usw. usw.

 

So ermahnte man mich. Als könnte man jemanden auf etwas Unvorhersehbares einstimmen. Auf einmal bekam mein dicker Wachmann mit dem roten Kopf Verstärkung, da ging es für mich mitten in einer fünfköpfigen Polizei-Eskorte durch viele Gänge. Mal fensterlos und neonbeleuchtet. Mal durch großzügig befensterte Bürotrakte, von diesen Fenstern aus konnte ich nochmals die Dachparks mit den Springbrunnen und hohen Bäumen betrachten, sie waren menschenleer, und die Bänke um die Springbrunnen herum waren es sowieso. Über große Freitreppen hinter Glasfassaden weiter durch Hintertreppenlabyrinthe, wo mir überall auch mancher liebgewordene Bekannte aus meiner Ausbildungs- und Studienzeit begegnete. Und wie sie wieder alle mich zischelnd ermahnten, kooperativ zu sein und mir keine Schuldgefühle, falls ich sie hätte, und keine Widerborstigkeit, falls ich solche fühlte, anmerken zu lassen. “Merke dir, jede Rechtfertigung deinerseits ist eine Selbstanklage, jedes Selbstmitleid mit deiner Situation beschädigt deinen noch vorhandenen Ruf, eine stabile Person zu sein.” “Werde nicht zornig, sonst gibt es schnell mal Medikamente!” Wir kamen schließlich zu einer Barriere, wo mir alle Hosentaschen entleert wurden, meine Jacke mit dem Geldbeutel (für den Kiosk..) und meinen Zivildokumenten beschlagnahmt. Ich mußte mich kurz auf einen Stuhl setzen.

 

Schuhe und Strümpfe wurden mir von den Uniformierten ausgezogen. Ich müsse mich daran gewöhnen, meine Hände in Zukunft in angespannten Situationen vor dem Nabel ineinanderzulegen, Handflächen nach oben, bitte!, - fünfzehn Zentimeter vom Körper weg.

 

Dann mußte ich mir Handschellen anlegen lassen, ich durfte Arme und Hände auf der Vorderseite behalten. Es täte ihnen so leid, sagte jetzt der dicke Beamte, es roch nach Magensäure und nach hellsüß desodoriertem Schweiß, als er an mir herumlaborierte… Aber das Protokoll verlange eindeutig den Schutz von Zuschauern, Richtern und den übrigen Beibefugten. Barfuß und gefesselt ging es weiter..

 

Ich merkte. daß meine Schuld inzwischen beschlossene Sache war: Ein Uhrwerk, längst aufgezogen, um nun heruntertacken mit allem Geläut und sämtlichen Glockenschlägen. Bis ich Jahre später aus der Engzelle zum ersten Mal wieder an einen Kiosk dürfen werde, Wurstebrötchen, Limonade-mit-einer-Zuckerart-und-einer-Art-Trinkwasser und eine Zeitung werde kaufen dürfen.. Es wird ein Jetzt sein, so wie dieses Jetzt. Ich spürte Panik, ich begann zu zittern, es gelang mir aber, diese Attacke zu vergessen. Denn es wurde noch einmal sehr aufregend und spannend. Nämlich überwältigend:

 

Wir betraten eine kleine Arena in einem Kuppel-Saal, dort saßen in den mittleren Rängen nach oben zu die zarten Lehrer, betrübt nach mir sehend, voll pflichtbewußt dokumentierter Abscheu und angstvoll verdrängtem Mitleid, die Schüler saßen mit den Eltern ganz unten, auch ängstlich blickend, aber voll Neugier, dazu sah ich weit oben viele ehemalige Freundinnen von mir, die jetzt bei den Zeitungen arbeiteten -und ängstlich neugierig war ich auch. Ich mußte auf der niedrigen Turnhallenbank in der Arena, als ganz links außen Sitzender in einer Reihe “verschiedener belasteter Leute” Platz nehmen, und sah somit jetzt von ganz unten in das hörsaalartig gestaltete Rund der steil gestaffelten Zuschauerränge Reihe für Reihe hinauf.

 

Ich war sofort mitten in einem Prozeß um eine große Drogenhändler-Bande, die ich gar nicht kannte, die mich aber alle, alle schon barfüßig und gefesselt dasitzend, geheuchelt freudig als einen der Ihrigen begrüßt hatten! Mmmh. Im Halb-Trichter der Zuschauerränge saßen, wie gesagt, weit oben viele alte Bekannte im Publikum, mit entsetzten und mitleidig in die Länge gezogenen Gesichtern, jeder ließ den Unterkiefer bei geschlossenem Munde hängen, und starrte leer, als ich bange hinaufsah und die Blicke sich hätten treffen können. Und mir wurde bewußt. daß ich sie alle auf immer verloren hatte, falls meine Unschuld jetzt nicht an den Tag käme.

 

Doch als ich meine neuen “Freunde", die mir der Prozeß hier zubedacht hatte, alle im “Handschellenschmuck" bearmreift stolz dasitzen sah, wurde mir klar, daß mein bisheriges Leben, mein korrektes, strebsames, aufgeschlossenes, vorurteilsfreies und immer hilfsbereites Leben für immer beendet war. Wir saßen über dem Gummiboden dieser Arena auf der Turnhallenbank ganz unten, sahen nach links hinauf in das Halbrund der Hörsaalreihen zum Publikum, geradeaus vor uns die zweiflügelige Tür, über der die große Uhr hing, unter der viele Polizeibeamte mit kurzärmeligen Olivhemdchen mit vor der Brust verschränkten Armen standen. Sie standen auf der ersten Stufe der Treppe, die von der großen Tür auf den Gummiboden des Saales zu uns hinabführte.

 

Rechts, fünfzehn Meter von uns entfernt erhob sich eine schwarze, massivhölzerne treppenbestufte Pyramide, auf der ganz oben auf einem Thron soeben die Richterin Platz nahm, in einem schwarzen Talar mit weißer Halsschleife, in der Manier evangelischer Pastorinnen.

 

Ihr Thron war durch eine ungeheuer hohe, längliche Rückenlehne zusätzlich ausgewiesen, fast lächerlich schon anzusehen.

 

Eine ganze Körperlänge tiefer auf der schwarzen Pult-Pyramide nahmen rechts von ihr der Staatsanwalt, und links von ihr der Verteidiger Platz, auch in schwarzen Umhängen, mit einem hohen schwarzen Stehkragen weit über Ohrenhöhe, beide.

 

An der Basis der Pyramide auf immerhin noch einem Meter Höhe vom Boden vier ältere weißhaarige Protokolleure. Alle in schwarz.

 

Neben mir saß ein gewinnend lächelnder, hellsmaragdäugiger, sommersprossiger rötlicher Blondschopf in einem blauen Jeanshemd, der nach einem guten Rasierwasser und Schweiß roch, und mich lieb lächelnd begrüßte:

“Man sagt doch besser nichts, wenn man nichts weiß, nicht wahr?” und...

 

“Jedes Wort zuviel bringt immer nur weitere Verlegenheiten." raunte er mir innig und freundschaftlich zu, daß ich sogleich von einer menschlichen Wärme ihm gegenüber ergriffen wurde, die mit Traurigkeit gemischt war. "Und noch etwas.." raunte er unvermeidlich weiter, seine beiden, von Handschellen bereiften Hände zum Ausschnitt seines Hemdes hebend. "Schau mal, meine Tätowierung auf der Brust. Sie ist mein verläßlicher Edelstein." "Mhmhh" summte ich, weil ich es ja ahnte.

 

Dennoch sah ich in den Ausschnitt seines Hemdes und links über der sommer­ sproßigen, haarlosen rosa Brust sah ich am dämmerlichten Zelt seines duftenden Hemdes ein Blitz-Messer geschickt verborgen befestigt und ohne daß seine Stimme an Freundlichkeit im geringsten einbüßte, flüsterte er "wir haben ja alle keine Chance, wenn wir etwas sagen, was wir nicht wissen. Das Böse zieht immer sämtliche Register, damit ihm niemand zuvorkommt, nicht wahr? Bist doch ein süßer Kerl, oder? Wir wollen doch alle einen Weg zuende bringen, den wir nicht gewollt haben, oder? Was immer du tust, du bist ein Feigling, verstehst du? Oder tot.”

 

Ich überlegte, etwas zu erwidern, weil ich ihn gleich mochte, um ihm meiner menschlichen Zuneigung auch ohne Nachhilfen zu vergewissern, aber mir deutete die vergebliche komplex gefügte Situation an, nichts zu sagen und nichts zu sein und ich sah seufzend zur Decke hinauf eine Betonkuppel von der sich schlanke beinartige Träger absetzten, die den ganzen Saal umklammert hielten, in Form eines achtstrahligen Sterns. Imposant und neutral, nicht einmal düster. Hier! Jetzt! Den Blondschopf werde ich noch oft auf dem Exerzierplatz wahrend der Enghaft treffen. Dachte ich noch, als die Richterin ganz oben Atem holte, um den Prozeß einzurufen.

 

 

Der geneigte Leser kann sich denken, daß ich enttäuscht war, nun zu erwachen.

Die Glocken einer nahen Kirche läuteten lange..

Mir hätte nämlich eine Ansprache der Richterin, die Anklageverlesung des Staatsanwaltes Gewißheit und damit etwas Erleichterung gebracht.

Nach dem Erwachen war ich noch lange äußerst beunruhigt, und hätte mich nicht gewundert sofort noch einmal zu erwachen, um mich erneut in der Arena des Gerichts wiederzufinden.

Aber vielleicht bin ich dort in Ohnmacht gefallen, erlitt einen Schlaganfall mit tödlichem Ausgang, oder es gab einen Tumult, und der Blondschopf hat mich niedergestochen, weil er mich mit jemand verwechselte, oder ich verschwand nach dem Vorverfahren für immer in der Monotonie eines Strafvollzugs? Das fatalste einer fatalen Existenz ist, wenn ihr Ende offenbleibt, und: Ein offenes Ende ist letztendlich immer auch ein Bild eines Traumes.

 

2004

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