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Nachtfuchs

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  1. Eine Weile saß er still in der dunklen Küche, bevor es aus ihm herausbrach und er hemmungslos zu heulen begann. In derartiger Intensität waren die Tränen noch nie aus seinen Augen geströmt, überhaupt konnte Lainer sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt geweint hatte. Er hörte Margareta gar nicht in die Küche kommen. Bevor sie fragen konnte, sprudelten die Worte aus ihm heraus, mehrmals verschluckte er sich beim Reden. Es war, als würde sich etwas in seinem Inneren lösen, seine Ausführungen gingen weit über die Geschehnisse vom Jahrmarkt hinaus. Da war der Wanderausflug, bei dem er Jonas` ständiger Meckerei zum Trotz dessen Bergschuhe in den Wald gepfeffert hatte. Der erste Tag am Gymnasium, von dem Jonas tieftraurig zurückgekehrt und Lainer nur schroff reagierte, er solle sich gefälligst nicht so anstellen. Die schier endlose Diskussion um ein verkorkstes Diktat, bei dem sein Sprössling es fertiggebracht hatte, das Wort Mannschaft fehlerhaft zu buchstabieren und anschließend trotzig dagegenhielt, er spiele eben in einem Team (insgeheim mochte Lainer diese Pfiffigkeit an seinem Jungen). Während ihm Margareta still und regungslos zuhörte, redete er weiter ohne Unterlass, aus tiefstem Herzen rauschten die Worte weiter aus seinem Mund wie Wasser aus einer endlosen Quelle. Er ließ alles raus, redete bis er buchstäblich nicht mehr konnte und erschöpft in Margaretas Schoß sank. Als Erstes nahm er nach dem Erwachen ihre Stimme wahr. Mit fester Stimme telefonierte sie gerade offenbar mit einem Beamten der Polizei. „Ja genau, Lainer Jonas. Zuletzt hat mein Mann ihn gestern Abend auf dem Jahrmarkt gesehen. Okay, vielen Dank, ich hoffe, Sie finden etwas heraus. Wiederhören.“ Er bewunderte die Klarheit seiner Frau in diesem Moment, wenngleich ihn die nüchterne Tonlage doch etwas irritierte, es klang fast so als würde sie ein vermisstes Schmuckstück melden. Lainer selbst wusste ob seines Berufes auch in schwierigen Situationen selbstbewusst aufzutreten, bei familiären Problemen dagegen misslang ihm dies regelmäßig. Dann wurden seine Ausführungen brüchig, abgehackt und er gab Laute von sich, die man am ehesten einem stimmbrüchigen Teenager zuordnen würde. Während er sich aufrappelte und sich routinemäßig zur Kaffeemaschine schleppte, versuchte er einen Blick von Margareta zu erhaschen. Er war unschlüssig wie sie auf seinen Offenbarungseid vergangene Nacht reagieren würde. Mittlerweile hatte sie den Telefonhörer beiseitegelegt und die Küche verlassen. Lainer rekapitulierte nochmals den gestrigen Abend. War ihm etwas entgangen? Hatte er in seiner Aufregung wichtige Details übersehen? „Karl-Heinz!“ drang es zu Lainers Ohren und er wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen. Du musst noch in der Gemeinde anrufen!" Lainer hatte ganz vergessen, dass er ja noch einen Job besaß. Termine mussten abgesagt, Sitzungen verlegt werden, sein Stellvertreter würde übernehmen. Ein flüchtiger Blick zur Uhr verriet ihm, dass es bereits nach acht Uhr war. „Wir nutzen den Tag heute am besten dafür, um alle möglichen Indizien zu sammeln und zu ordnen. Sprich, wann genau hast du Jonas zum letzten Mal gesehen. Wo seid ihr überall gewesen. Hast du irgendetwas seltsames bemerkt?“ Margareta sprach mit der Frequenz eines Maschinengewehrs, Lainer hatte Mühe mitzukommen. Sie verlor jedoch keine Silbe über Lainers Monolog von letzter Nacht, fast so als wäre es nur im Traum geschehen. Es verwunderte ihn, wie schnell seine Frau in den Kampfmodus geschaltet hatte und alles Unwichtige auszublenden wusste. Lainers Gefühlschaos gehörte offenbar zur letzteren Kategorie. Der schrille Ton der Kaffeemaschine ließ ihn aufmerken, wie ferngesteuert nahm er die volle Tasse und begab sich zum Küchentisch. Margareta setzte sich zu ihm und sah ihn zum ersten Mal direkt in die Augen. „Karl-Heinz, es geht hier um unseren Sohn. Ich kann mir vorstellen, was du aufgrund eures schwierigen Verhältnisses gerade durchmachst. Ich habe selbst kein Auge zugemacht, seit du gestern nach Hause gekommen bist. Und glaub mir, auch ich habe eine Heidenangst, unseren Jungen nie wieder zu sehen. Aber wir müssen uns jetzt zusammenreißen, die ersten Stunden nach dem Verschwinden sind bei der Suche am wichtigsten. Deine Eindrücke von gestern sind noch frisch, vielleicht kannst du dich noch an Details erinnern, die dir gestern in der Aufregung nicht aufgefallen sind. Verstehst du, wir dürfen keine Zeit verlieren, nur zusammen schaffen wir es unseren Sohn zu finden. Wir sollten heute nochmal den Jahrmarkt besuchen, vielleicht hat jemand der Standbetreiber etwas beobachtet. Wir dürfen uns keinesfalls zu sehr auf die Polizei verlassen, die legen solche Fälle inoffiziell schnell zu den Akten. Das heißt wir müssen selbst tatkräftig ermitteln, wenn wir den Entführer aufspüren wollen“. Befand sich Lainer seit dem Erwachen noch in einem tranceartigen Zustand, packte ihn nun Margaretas feurige Tatkraft, instinktiv überkam ihn der inadäquate Wunsch an Ort und Stelle mit ihr zu schlafen. Entschlossen hievte er sie auf den Küchentisch, rasch kam er zum Orgasmus. Als er sich keuchend seine Hose wieder hochzog, stutzte er plötzlich: „Woher weißt du so sicher, dass es sich um einen Entführer handelt?“
  2. Nachtfuchs

    Jahrmarkt

    Lainer hasste Volksfeste. Eifrige Ramschverkäufer, pöbelnde Freizeitalkoholiker und immer diese Ansammlungen von Halbstarken. Er verabscheute das ganze Schauspiel. Blöd nur, dass er als Bürgermeister der örtlichen Gemeinde kaum umhinkam, sich auf derlei Veranstaltungen zumindest blicken zu lassen. Am schlimmsten waren dabei jedoch die Erinnerungen. Es war Margaretas Idee gewesen. „Geh doch mal mit Jonas auf den Jahrmarkt, du weißt doch wie sehr es ihm dort gefällt“, riet ihm seine Ehefrau, obgleich sie sich Lainers Aversion vollends bewusst war. Nicht zum ersten Mal herrschte eisige Funkstille zwischen Vater und Sohn. Die Pubertät halt, das lege sich irgendwann ganz von allein, vernahm Lainer aus seinem Umfeld. Er registrierte es mit einem Achselzucken. Die meiste Zeit in sein Arbeitsleben vertieft, hatte er die Erziehung zu großen Teilen Margareta überlassen. Eine echte Verbindung zu seinem Jungen verspürte er, wenn überhaupt, in dessen frühen Lebensjahren, kurz nachdem er zur Welt gekommen war. Danach fiel es ihm schwer ihn zu verstehen, den mangelnden Ehrgeiz, die latente Faulheit, die schlechten Schulleistungen und und und. Vereinzelt ließ er den Gedanken zu, ob Jonas überhaupt von ihm sei. Letzterer dagegen litt unter der häufigen Abwesenheit seines Vaters, ständig kämpfend mit dem Gefühl ihm nie etwas recht machen zu können. Es entwickelte sich über die Zeit ein wortkarges Zusammenleben, geprägt von Missverständnissen und mangelhaften Kommunikationsversuchen, selbst Margareta wusste die Spannungen nicht immer auszugleichen. Und dann war er weg. Nachdem sie eine halbe Stunde schweigend über den Festplatz getrottet waren, hatten sie elf Uhr als Treffpunkt beim Eingang vereinbart. Zuerst dachte Lainer an einen Scherz, Jonas würde ihm bestimmt eins auswischen wollen. Ein grandioser Einfall dieser Jahrmarktbesuch, der Bengel würde was erleben. Mitternacht ging vorbei, Lainer bekam es langsam mit der Angst zu tun, lief planlos durch das Getümmel. Er fragte bei Jugendlichen nach, die er für Jonas` Freunde hielt. Sie hätten nicht einmal gewusst, dass er heute hier gewesen sei, hatte er nicht Hausarrest? Lainer versuchte sein Glück bei den Süßwarenständen, klapperte jedes Fahrgeschäft ab. Nichts. Er durchstreifte das große Bierzelt, inspizierte jede Sitzreihe. Die feiernde Meute blickte ihn an als stamme er von einem anderen Planeten. Keine Spur. Von Minute zu Minute wurde er fahriger, fühlte etwas Dickes in seinem Hals heranwachsen, verspürte den Drang sich zu übergeben. Mit zittrigen Fingern tippte er Margaretas Nummer, erwischte zweimal den falschen Kontakt, beim dritten Versuch entglitt ihm das Handy aus den schweißbenetzten Händen. Lainer unternahm gar nicht erst den Versuch das in seine Einzelteile zerfallene Mobiltelefon vom Asphalt aufzusammeln, sondern rannte einfach los. Rannte, bis seine Lungen brannten. Rannte durch, bis er zuhause ankam und hoffte beim Eintreten, wie er noch nie auf etwas gehofft hatte.
  3. Hallo Freiform, vielen Dank für deine Antwort! Würde mich freuen, wenn du auch in Zukunft was von mir liest
  4. Im Rausch der Gedanken Für einen Samstagabend war die U-Bahn gut besetzt, platzte aber, anders als an Wochentagen, keineswegs aus allen Nähten, wodurch man nicht nur in den Genuss einer Sitzgelegenheit kam, sondern obendrein – solange man nicht ins Visier eines Schaffners geriet – seine Beine bequem am freien Platz gegenüber ausbreiten konnte. Den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt betrachte Philipp seine Finger. Mit jeder Station, der er sich seinem Ziel näherte, hatte sich das Zittern intensiviert und machte sich nun daran, auch von seinem Unterarm Besitz zu ergreifen. Wenige Minuten zuvor hatte er sich im Hotel noch einen Single Malt einverleibt, den er, in der naiv-vagen Hoffnung er könne ihn an diesem Abend noch mit jemanden teilen, eigens mitgebracht hatte. Sogleich spürte er zwar dessen sanft brennende Wirkung durch die Bahnen seines Körpers strömen, seine Nervosität allerdings war damit nicht zu bändigen. Obgleich er, so gut es eben ging, seine Muskelzuckungen im Zaum zu halten versuchte, verstand er die körperliche Unruhe als positives Zeichen. Schon immer war er aufgeregt gewesen, wenn etwas Bedeutendes bevorstand. Ganz gleich, ob es sich um eine wichtige Prüfung handelte, Vorträge vor großen Zuschauerscharen oder prestigeträchtige sportliche Wettkämpfe: Die Nervosität erwies sich als ständig wiederkehrender Begleiter, dessen Auftauchen den Dingen eine Wertigkeit zuzuordnen wusste. Zu Philipps Glück trat diese Aufregung meist nur äußerlich in Erscheinung, innerlich empfand er für gewöhnlich eine tiefe Ruhe und Ausgeglichenheit. Es kam ihm in jenen Augenblicken so vor, als hätte er alle verfügbaren Antennen seines Körpers ausgefahren, sämtliche Sinne seines Körpers aktiviert, das Höchstmaß seines Konzentrationsvermögens erreicht. Das Geschehen vor ihm schien langsamer von statten zu gehen und seine Augen nahmen Eindrücke in derart scharfer Präzision wahr, dass er im Anschluss beinahe seine Sehkraft zu verlieren befürchtete. Könnte man das Leben nur immer auf diese Art und Weise wahrnehmen., echt und ungefiltert, lebendig und aufregend, messerscharf und sonnenklar. Freilich war ihm bewusst, wie es die meisten Leute wissen, dass dieser Zustand nicht von ewiger Beschaffenheit war und, ebenso launisch wie das Wetter, seine Beschaffenheit jederzeit zu ändern vermochte. Doch wo auf Regen eigentlich wieder Sonne folgen sollte, fühlte sich Philipp seit geraumer Zeit in einem Nebelschleier abgestumpfter Emotionslosigkeit gefangen und sehnte sich nach seinem aufgeregten Wegbegleiter, der ihn aus dem grauen Wolkendickicht herausführen würde. Er vermisste das lebendige Gefühl, es war ihm entglitten, abhandengekommen, schlichtweg nicht mehr aufzufinden. Er glich einem Chefkoch, der das Geheimrezept seiner Lieblingsspeise verloren hat und damit gleichbedeutend auch jeglichen Appetit. Aber heute schien sein verschollener Gefährte zu ihm zurückzufinden, der Hunger wiederzukehren, der Nebel sich zu lichten. Heute schienen die Dinge endlich wieder eine echte, wertvolle Bedeutung zu besitzen: Heute würde er zum ersten Mal Marie begegnen. ______________________________________ „Maarnblotz“ schallte es ohrenbetäubend aus der in die Jahre gekommenen Sprechanlage der U-Bahn. Schon oft hatte Philipp den Sinn derartiger Durchsagen hinterfragt, wo doch zum einen aus diesem genervten, von Dialekt getränktem Genuschel bairischer Mundart ohnehin fast nichts zu entnehmen war, zum anderen quasi überall Fahrpläne aushingen und darüber hinaus sämtliche Ansagen auch auf Englisch durchgegeben wurden. Nachdem er sich ein paar hundert Meter durch die vielbewanderte Fußgängerzone geschlängelt hatte, traf Philipp bereits etwas früher am ausgemachten Treffpunkt ein. Um inmitten der vorbeieilenden, von Hektik getriebenen Menschenmassen nicht gänzlich fehl am Platz zu wirken, beschloss er sich an einen der verwaisten Außentische, welche aufgrund der winterlichen Temperaturen an diesem Tag nur wenig Beachtung fanden, zu setzen und vor dem Restaurant auf Marie zu warten. Beiläufig registrierte er, dass sich das Zittern seiner Hände etwas gelegt, nun aber seine Beine ein Eigenleben entwickelt hatten und in aufgeregter Vorfreude hin und her wippten. Bei aller Nervosität und Ungewissheit, die ihn die vergangenen Tage umgetrieben hatten, war er froh, dass nun endlich der Moment gekommen war. Bestimmt an die hundert Mal hatte er das Szenario durchgespielt und dabei aber etwas Elementares, obwohl offenkundiges, außer Acht gelassen: Sie waren sich bis dato noch ein kein einziges Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet. Sicher, jeder hatte im Single-Portal ein paar Schnappschüsse des jeweils anderen in dessen Profil zu sehen bekommen, aber Bilder konnten einen in der Realität schnell täuschen, zudem hatte Philipp auch nie nachgefragt wann die Aufnahmen entstanden waren. Was, wenn er aus Versehen die völlig falsche Frau ansprach, am besten noch in Maries Beisein? Vielleicht wäre es doch klug gewesen, ein klares Erkennungszeichen zu vereinbaren und wie auf Knopfdruck setzte sich vor seinem geistigen Auge ein Bild zusammen, wie er mit Rose am Revere und pinkem Luftballon dastand, bestellt und nicht abgeholt, am besten noch mit einem großen Schild, natürlich in Herzform, auf das er in großen Lettern den Name seiner Herzdame gekritzelt hatte. Paradoxerweise vermochte ihn diese absurde Vorstellung in diesem Moment zu beruhigen. Er war einfach nur heilfroh, dieses, vor kitschiger Peinlichkeit triefende, Schauspiel nicht über sich ergehen lassen zu müssen. Nicht erspart blieb ihm jedoch jetzt das Spektakel in seinem Gehirn, die Neuronen feuerten aus allen Rohren, Kopfkino allererster Ordnung. Das nächste Hirngespinst ließ nicht lange auf sich warten, als eine schon etwas betagtere Frau, Philipp schätzte sie um die 50, auf hochhackigen Absätzen in seine Richtung stolzierte und ihm ein Lächeln zuwarf, bei dem sich die Mundwinkel bis an ihre Elastizitätsgrenze verzogen. Selbst mit etwas Abstand erkannte man ihr abgemergeltes, wenn nicht gar leicht gebrechliches Erscheinungsbild, welches sie mehr oder weniger gekonnt mit diversen Aufhübschungsstrategien zu kaschieren versuchte. Die Haare, beim Färben im Friseurlokal wohl als kastanienbraun gepriesen, wirkten in Kombination mit dem unwiderruflich vorhandenem Grau eher wie rostige Metallfäden, welche zu lange der freien Witterung ausgesetzt waren und nun ungebremst korrodierten. Das Gesicht, gezeichnet von den feinen Klingen der plastischen Chirurgie, quoll vor Make-up fast über und zusätzlich zu ihrem überdimensioniertem Pelzmantel baumelte über ihrem rechten Unterarm eine mit Leopardenfell überzogene Handtasche, welche sie in einer übertriebenen Art und Weise zur Schau stellte, wie es nur Leute tun, die sich an ihrem eigenen Spiegelbild nicht satt sehen können. Womöglich war sie in früheren Tagen sogar recht hübsch gewesen, nun jedoch wirkte sie nur noch wie jemand, der eben jenen Glanz jüngerer Jahre konservieren wollte und, koste es was es wolle, dem natürlichen Alterungsprozess zu entkommen versuchte. Fast zwangsläufig drängte sich in Philipps Vorstellung das Klischee einer verbitterten Ehefrau, deren einziger Lebensinhalt darin bestand, beim wöchentlichen Kaffeekränzchen besserwisserischer Manier über ihre Mitmenschen abzulästern. Weiterhin mit dem Blick auf ihm haftend, fischte sie während des Gehens einen Lippenstift aus der Felltasche, fehlte nur noch, dass sie sich nach dem Auftragen sinnlich-sehnsüchtig mit der Zunge über die Lippen strich. Gesagt, getan und nun schauderte es Philipp endgültig. Das konnte einfach nicht wahr sein. Natürlich wusste er bereits im Vorfeld seiner Online Dating Aktivität von der Existenz vieler Fakeprofile, die in diesem Milieu kursierten. Er war sich aber eigentlich immer sicher, diese frühzeitig erkannt zu haben, wofür man wahrlich kein zweiter Sherlock Holmes sein musste. Noch keine ganze Woche angemeldet, hatten sich bereits eine Hand voll Blondinen unsterblich in ihn verliebt, bestanden jedoch darauf, die Kommunikation privat und außerhalb des Portals fortzusetzen, da sie leider kein Premium Abonnement besäßen und daher nur eine limitierte Anzahl an Messages tippen konnten. Das einzige was er dafür tun müsse, sei eine Nachricht von seinem eigenen Account an die angegebenen E-Mail Adressen (endless.love@hotmail.com, Heiße-Liebe@googlemail.com oder, sein persönlicher Favorit, Polarstern666@online.de; und das waren noch die seriösen) zu senden. Selbstverständlich gab es auch subtilere Vorgehensweisen, etwa wenn beispielsweise ältere Bilder hochgeladen wurden oder ausschließlich Fotos gewählt wurden, die lediglich einen begrenzten Sichtwinkel auf die Person gestatteten. Offen gestanden war Philipp doch etwas genervt vom hohen Aufkommen besagter Profile, wo der Anbieter doch hoch und heilig versicherte, ihr Produkt sei in Sachen Seriosität das Nonplusultra der Branche. Innerlich bedauerte Philipp bereits die horrende Summe, welche er bereits unwiederbringlich in die ganze Geschichte gesteckt hatte, eine kluge Investition schien es nicht zu sein. Immerhin ergaben sich über die nächsten Wochen hinweg ein paar Bekanntschaften, selten ging das Gesprächsniveau jedoch wirklich in die Tiefe, sondern versandete meist nach den üblichen Standardfloskeln. Bis er eines Tages auf das das Profil einer Brauereiadministratorin stieß. Konkret konnte er mit der Berufsbezeichnung nicht sonderlich viel anfangen, letztlich war es Philipp aber auch gänzlich egal welchen Beruf jemand ausübte, solange er/sie dies mit Leidenschaft tat. Schnell entdeckten sie einige Gemeinsamkeiten und Themen, über die es sich zu diskutieren lohnte und entwickelten eine Art digitaler Brieffreundschaft, an der Philipp zunehmend Gefallen fand, mitunter oder auch vor allem aufgrund der sprachlichen Versiertheit mit der Marie ihren Nachrichten formulierte. Seit jeher besaß Philipp ein Faible für das Spiel mit den Worten und nun saß da jemand auf der anderen Seite des Bildschirms mit dem er sich augenscheinlich auf einer Wellenglänge befand und der ihn auch rhetorisch endlich wieder forderte. Maries Profilbilder taten ihr Übriges und zunehmend, nach einigen Fingernägeln, die beim Warten auf die nächste eintreffende Nachricht dran glauben mussten, wurde die Sache dringlicher und mündete schließlich in dem Vorhaben, man solle sich doch einfach mal in München treffen. Und jetzt sollte er tatsächlich in die Falle gegangen sein, auf`s Glatteis geführt, übertölpelt von seiner eigenen Naivität? Nein, das ging selbst für seine blühende Fantasie zu weit, das grenzte schon an Verschwörungswahn. „Da bist du ja!“, dröhnte es laut und jäh sah sich Philipp in die Realität zurückbefördert. Während seines mentalen Ausflugs hatte er gar nicht mitbekommen, dass er sich von der Bank erhoben hatte und die Alte vielleicht noch eine Armlänge von ihm entfernt war, die Arme freudestrahlend ausgebreitet. „Du musst bestimmt Philipp sein“, rief sie voller Entzückung und wie paralysiert von seinen gedanklichen Auswüchsen öffnete er, innerlich das Universum auf das Übelste verfluchend, ebenfalls seine Arme, bereit die begrüßende Umarmung entgegen zu nehmen
  5. Unter Strom Für einen Samstagabend war die U-Bahn gut besetzt, platzte aber, anders als an Wochentagen, keineswegs aus allen Nähten, wodurch man nicht nur in den Genuss einer Sitzgelegenheit kam, sondern obendrein – solange man nicht ins Visier eines Schaffners geriet – seine Beine bequem am freien Platz gegenüber anlegen konnte. Den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt betrachte Philipp seine Finger. Mit jeder Station, der er sich seinem Ziel näherte, hatte sich das Zittern intensiviert und machte sich nun daran, auch von seinem Unterarm Besitz zu ergreifen. Wenige Minuten zuvor hatte er sich im Hotel noch einen eigens mitgebrachten[1]Single Malt einverleibt und spürte zwar sogleich dessen sanft brennende Wirkung durch die Bahnen seines Körpers strömen, seine Nervosität allerdings war damit nicht zu bändigen. Obgleich er, so gut es eben ging, seine Muskelzuckungen im Zaum zu halten versuchte, verstand er die körperliche Unruhe als positives Zeichen. Schon immer war er aufgeregt gewesen, wenn etwas Bedeutendes bevorstand. Ganz gleich, ob es sich um eine wichtige Prüfung handelte, Vorträge vor großen Zuschauerscharen oder prestigeträchtige sportliche Wettkämpfe: Die Nervosität erwies sich als ständig wiederkehrender Begleiter, dessen Auftauchen den Dingen eine Wertigkeit zuzuordnen wusste. Zu Philipps Glück trat diese Aufregung meist nur äußerlich in Erscheinung, innerlich empfand er in besagten Momenten für gewöhnlich eine tiefe Ruhe und Ausgeglichenheit. Es kam ihm in jenen Augenblicken so vor, als hätte er alle verfügbaren Antennen seines Körpers ausgefahren, sämtliche Sinne seines Körpers aktiviert, das Höchstmaß seines Konzentrationsvermögens erreicht. Das Geschehen vor ihm schien langsamer von statten zu gehen und seine Augen nahmen Eindrücke in derart scharfer Präzision wahr, dass er im Anschluss beinahe seine Sehkraft zu verlieren befürchtete. So sollte sich Leben anfühlen, echt und unverfälscht, lebendig und aufregend, messerscharf und sonnenklar. Freilich war ihm bewusst, wie es die meisten Leute wissen, dass dieser Zustand nicht von ewiger Beschaffenheit war und, ebenso launisch wie das Wetter, seine Beschaffenheit jederzeit zu ändern vermochte. Doch wo auf Regen eigentlich wieder Sonne folgen sollte, fühlte sich Philipp seit geraumer Zeit in einem Nebelschleier abgestumpfter Emotionslosigkeit gefangen und sehnte sich nach seinem aufgeregten Wegbegleiter, der ihn aus dem grauen Wolkendickicht herausführen würde. Er vermisste das lebendige Gefühl, es war ihm entglitten, abhandengekommen, schlichtweg nicht mehr aufzufinden. Er glich einem Chefkoch, der das Geheimrezept seiner Lieblingsspeise verloren hat und damit gleichbedeutend auch jeglichen Appetit. Aber heute schien sein verschollener Gefährte zu ihm zurückzufinden, der Hunger wiederzukehren, der Nebel sich zu lichten. Heute schienen die Dinge endlich wieder eine echte, wertvolle Bedeutung zu besitzen: Heute würde er zum ersten Mal Marie begegnen. [1]in der naiv-vagen Hoffnung, er könne die Flasche am selbigen Abend noch teilen
  6. Nachtfuchs

    So was wie Liebe

    Sei es noch so schwer im Leben Mit dir man immer scheint zu schweben Dein herrlich unverfälschtes Lächeln Lässt noch so starke Gegner schwächeln Im wirren Wunderland der Wünsche Behältst du in der Hand die Trümpfe Bist und bleibst ein froher Realist, für mich nie und nimmer ein Statist In deinen grünen grauen Augen, die nicht selten mir den Atem rauben, liegen reichlich Hoffnung und Vertrauen – weg ist jede Angst und jedes Grauen Von oben kühle, nasse Regentropfen, prasseln nieder Zeit für Zeit. Bis zum Halse unsre Herzen klopfen, ist das jetzt Vollkommenheit? Erst wenn wir uns sind ganz nah, wird mir urplötzlich sonnenklar dass Glück ist nicht gleich Perfektion, sondern eine Herzaktion.
  7. Nachtfuchs

    Im Gras

    Der grünen Halme säuerlicher Duft, schwebt in meine Nase aus der Luft Zarte Sonnenstrahlen kitzeln das Gesicht, Ein Frühlingstag, so schön wie ein Gedicht Ameisen direkt vor meinem Augenlicht, grade tummeln sich in kleinen Paaren als ein Rotkehlchen, noch jung an Jahren mit viel Gesang durch das Dickicht zu mir spricht Klare Karaffen voll mit kühlem Nass, Warten freudig frisch am Gartentisch, glitzernde Perlen tropfen ab vom Fass Im trüben Teich schwimmt ein goldener Fisch Im weichen Grün der saftigen Wiese, entfliehst du jeder durchlebten Krise Wirre Gedanken haben hier stets Pause, es ordnet sich das mentale Zuhause
  8. Nachtfuchs

    Momentaufnahme

    Hallo Eiselfe, vielen Dank für dein Feedback. Ich denke, dass man diese Momente tatsächlich genießen muss, weil diese eben nur vereinzelt vorkommen und man sie auch nicht bewusst herbeiführen kann. LG Nachtfuchs
  9. Nachtfuchs

    Momentaufnahme

    Momentaufnahme Im Bruchteil eines Augenblicks, Nur du und ich, ganz ohne Tricks Ort und Zeit spielen keine Rolle Soll es kosten was es wolle Kein Trommelwirbel, kein Feuerwerk Auf der Stille liegt das Augenmerk Oft Ins Leere läuft viel Energie, in der Schlichtheit meist liegt die Magie Im verführerischen Dunkeln, nicht das poetische Funkeln, vielmehr deiner Augen Klarheit, welche mich verzückt in Wahrheit Die Unbekümmertheit der Jugend, ist unser beider größte Tugend Sturm und Drang statt Angst und Sorgen Hier und jetzt, kein bisschen morgen
  10. Nachtfuchs

    Musik ganz laut

    Hallo Eiselfe, ein tolles Gedicht, das ich mir mit ein paar Wortumstellungen auch super als Songtext vorstellen könnte. LG Nachtfuchs
  11. Hallo zusammen, vielen Dank für euer Feedback, gerade was Form und Struktur betrifft bin ich für jeden Rat dankbar. Der Titel "Zwiegespalten" wurde so aber schon bewusst gewählt
  12. Nachtfuchs

    Die ewige Suche

    Die ewige Suche Du bist am Zenit und willst doch weiter, trotz stechender Wunden immer noch heiter; du steigst die Stufen des Erfolgs empor, der schwerste Gegner allerdings steht noch bevor Im Wunderland der Wünsche bleibst du stets Realist, Selten spielst du aus die letzten Trümpfe; Im Angesicht des ganzen Glücks du bleibst Statist? Du vereinfachst jede Gleichung, die ultimative Formel aber bleibt auch dir verborgen; willst dich aller Ängste entsorgen, die sich finden auf deines Körpers Zeichnung In den schimmernden Scherben der Illusion, erkennst du im Schatten aller Konfusion, dass Glück ist nicht gleich Perfektion, sondern eine Herzaktion.
  13. Nachtfuchs

    Zwiegespalten

    Zwiegespalten Ich steh` am Ursprung, noch kenn` ich die Richtung nicht; es ist Zeit für den Absprung, der Aufbruch erscheint ganz dicht Bin hellwach zu später Stunde, eine Flut an Gedanken liegt dem zugrunde; Im Kopf schwirren die wildesten Ideen, doch genauso heftige Zweifel, die nicht wollen vergehen Möchte frei sein und fliegen, endlich den Zwiespalt besiegen Auf zu neuen Ufern wo die Sorgen sind klein und die Luft ist rein; Auf zu neuen Ufern, wo die Hoffnung erblüht und die Leidenschaft nie verglüht Inmitten allen Überschwangs, erwachsen zarte Knospen des Widerstands die Leichtigkeit und Zuversicht des Anfangs leise schwindet in den Wirrungen des eigenen Verstands Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte Was, wenn die Entscheidung nicht ist die rechte? Einzig das Ungewisse ist verlässlich; so schreit voran und wag den Neustart, selbst wenn es scheint kräftezehrend und hart; der Lohn dafür ist unvergesslich Auf zu neuen Ufern, wo die Sonne scheint und sämtliches Glück ist vereint Auf zu neuen Ufern, wo die Luft ist rein und die Sorgen so klein
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