Ziellos wandern meine Füße die Wohnung auf und ab.
So oft streichen meine Finger über die Tasten, spüren die wohlige Vertrautheit in jeder Hebung, jeder Nuance im Schwarz und Weiß meiner Fantasie.
Anfangs schreckten meine Hände reflexartig zurück, wenn die Spitze eines Fingers intuitiv zum Auftakt ansetzte und einer Taste Sinn zu entlocken versuchte. Als wäre ich im Begriff, mich darin zu verlieren, wenn ich erst nachgebe. Wochen vergingen. Monate. Quälende Stille.
Klänge sind gnadenlos, und ihre unnachgiebige Präsenz kann quälender sein, als jede Stille.
Ich ertrug es nicht. Als meine Hände nicht mehr zurückschreckten, setzte ich mich ans Klavier und starrte auf die Tasten. Fuhr mit den Fingern jede Hebung entlang, ohne den nötigen Druck auszuüben, der einen Ton entstehen lassen würde. Ich stellte mir vor, welche Melodien sich aus meinem Gefühl auf die Finger übertragen würden, welche Bewegungen sie erschaffen, welcher Raum sie tragen würde.
Und es blieb still.
Der erste Ton ließ mich aufkeuchen, dann schlug mir etwas in den Magen, dass die Luft wegblieb. Mir war schlecht. Meine Hände waren zurück gezuckt, aber der Ton hallte noch nach, ein tiefes G, grub sich schmerzhaft durch meine Ohren ins Gehirn.
Noch nie hatte ich derartiges erlebt. Dieser selbsterschaffene Raum tiefer Geborgenheit, erbaut aus den Melodien eines Augenblicks.. schien mich abzustoßen. Mir den Einlass zu verweigern, mir, die ihn erst erschaffen hat.
Ich schaffte es gerade noch auf die Toilette, bevor ich mich übergeben musste.
Diese Kälte, diese Abweisung der Töne, schmerzte mich mehr als ihre gänzliche Abwesenheit.
Tage vergingen. Ich verschob das Klavier aus meinem inneren Blickfeld. Leugnete seine Anwesenheit in meiner Wohnung. Meine Finger strichen nicht mehr das Holz entlang, die Klappe blieb geschlossen, wie auch der Zugang in meinem Herzen.
In Gedanken errichtete ich weiter Bauwerk um Bauwerk aus Tönen, um sie letztlich mit einer energischen Handbewegung zum Einsturz zu bringen, bis ich in Trümmern einstiger Melodien stand. Was bleibt von Tönen, wenn sie die Stille nie verlassen?
Was bleibt von mir?
Alles in mir drängte danach, die Töne aus der Stille zu holen. Ihnen Klang einzuhauchen, wie man einem Menschen Leben einhauchen möchte, wenn er im Begriff ist zu gehen. Ein verzweifeltes Drängen. Dem ich manchmal kaum widerstehen konnte.
Jedes Mal wenn ich tatsächlich einen Ton anschlug, schmerzte es mich, als würde es mir die Eingeweide zerfleischen. Also blieb es wieder still. Nächte vergingen.
Schlaflose Nächte, und solche, die nur im Schlaf ertrinken, um in Erinnerungen zu wühlen. Zeit, zu entfliehen. Nur ist die Vergangenheit kein guter Ort, für eine Flucht.
Dann wachte ich ohne einen einzigen klaren Gedanken auf. Und doch trieb mich etwas aufzustehen, blind, nur geleitet von Gefühl, saß ich am Klavier. Ich ließ es aus. Einer der Vorteile eines guten E-Pianos - ausgeschaltet bleibt es so stumm, wie ich selbst.
In meinen Gedanken hatten die Klänge nichts bedrohliches, sie wiegten mich in alter Geborgenheit und konnte mich ihnen hingeben. Nur das Hören war mir unerträglich geworden.
Ich wurde gewahr, dass meine Finger sich auf die stummen Tasten legten und in die Stille hinein spielten. Melodien, die in den vergangenen Monaten nicht gewagt hatten aufzutauchen. Zu groß, zu wichtig ihre Bedeutung, um eine wegwischende Handbewegung zu riskieren.
Aber dort kamen sie. Zögernd. Als rein abstraktes Gebilde in meinem Innern, noch scheu, tatsächlichen Raum zu betreten. Dies war die Kraft, wenn Finger und Herz sich verflechten und als Eines agieren. Getrennt voneinander mochte keines von beidem dies zu schaffen.
Wie ein Bauwerk wuchs mein imaginärer Tonpalast in die Höhe. Der Stille dabei zu lauschen, glich einer gebannter Erwartung, ein gigantisches Erleben.
Und dann
stürzte das Kartenhaus in sich zusammen, von dem ich bis dahin gar nicht wusste, dass es ein Kartenhaus war.
Ton um Ton fiel wie in einem chaotischen Zusammenbrechen der Partitur in haltlose Tiefe.
Immer wieder finde ich mich in einem Zustand der Trance, wie ich sie in diesem Augenblick erlebte, greife nach etwas, das nicht mehr ist. Taste nach Melodien und stoße mich an der Leere wund.
Jetzt ist es in mir so still, wie um mich herum.
Und welchen Grund gibt es schon, die Stille zu durchbrechen?
Ich bat nie um sie, doch legt sie seit je her ihren Mantel um mich. Ich bat nie um sie, und nun weigere ich mich, den Mantel wieder abzulegen. Ich bat nie um sie, doch ist sie das einzige, was mir im Moment noch von den Klängen und Melodien bleibt, wenn auch nur in Form ihrer Abwesenheit. Der ich mit jeder Faser meines Körpers nachspüre.
Die Zeit wird zeigen, ob etwas aus der Stille zu wachsen vermag.
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