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Schmuddelkind

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Alle erstellten Inhalte von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind

    30.7.2012

    Liebe Babsi, man könnte glauben, es sei gut, dass die Zeit vergeht. Du weißt, Babsi, was der Volksmund über die Zeit und die Wunden zu sagen weiß. Aber es ist Unsinn, der nur deshalb aller Orten zu hören ist, weil diejenigen, die unter unheilbaren Wunden leiden vor Schmerz und Resignation stumm geworden sind; in ähnlicher Weise verbreitet sich übrigens allerlei Unsinn in der Welt. Oft ist die Zeit in solchen Fällen eine zweite Wunde, da sie dem Gefühl der Unerträglichkeit das kalte Diktat, diese selbst zu ertragen zur Seite stellt. Dass ich das kostbarste Privileg verloren habe, kann ich jedenfalls, selbst wenn ich mich eines wunderlichen Tages nicht mehr daran erinnern sollte, in meiner unerfüllten Seele spüren. Manchmal versuche ich mich darüber hinweg zu trösten, indem ich mir in all den schönen Bildern einer dahin geschiedenen Seligkeit vergegenwärtige, dass ein erhabener Geist von mir Besitz ergriffen und eine einzigartige, nicht wiederholbare Entität sich nur mir allein offenbart hatte und dass es mich mit Dankbarkeit und Sinn erfüllen sollte. Doch wie ist es mit den Geistern? Wenn ich näher an mich heranfühle, dann weiß ich, dass selbst die wahrhaftigste, glücklichste Erscheinung, dass, nur um den Abstrakta zu entkommen, etwa das Genie eines Shakespeares, das seiner Zeit wie ein befreiender Atem die ganze Menschheit erfüllte, zu einer anderen Zeit wertlos sein muss.
  2. Vielen lieben Dank für eure Kommentare! Ich musste mich erstmal erholen von der Begeisterung, die ich in euren Worten zu erkennen glaube. Klasse Gedicht, lieber gummibaum! Ein wenig verlegen bin ich, dass mein Gedicht dich wohl dazu inspiriert hat. Wieder und wieder? Ach, welch schöneres Lob kann man erhalten, als dass ein Gedicht nicht nur einmal gelesen wird, lieber Elmar? Liebe Lichtsammlerin, ich freue mich sehr, dass du die Nähe aus dem Gedicht aufgespürt hast und offenbar deine Freude an der Lektüre hattest. Auch hast du das zentrale Thema ganz in meinem Sinne gedeutet: Ein Mangel ist nicht nur etwas, das nicht da ist, sondern es ist allgegenwärtig, ständig spürbar. So sehe ich das auch. Das LI versucht ein Stück Welt zu finden, das von dem fehlenden, geliebten Menschen absieht. Aber eine solche Luftblase scheint es nicht zu geben. In der Tat! Gut aufgefasst! Insofern muss man sich seinen Dämonen stellen, um sie besiegen zu können. Nur das volle Empfinden kann zur Überwindung des Schmerzes beitragen. Dankeschön! LG
  3. Schmuddelkind

    Teich im Herbst

    Geheimnisvolle Hieroglyphe! So schwebt ein Blatt und sinkt doch wieder und lässt sich auf dem Weiher nieder, beinah als ob es friedvoll schliefe. Zugleich aus Traumes dunkler Tiefe entsteigt ein Blatt dem Sog zuwider den Teich empor - nun sind sie Brüder - als ob man es zu Lichte riefe. Doch wie der Augenblick vergeht, zwar widerwillig, fast schon spät, doch wie die Abkehr guter Zeiten, so werden beide eins und gleiten in jene Dunkelheit hinab, worin ich keine Einsicht hab. (Aus dem Fundus)
  4. Hui, vielen Dank für eure intensive Beschäftigung mit dem Thema Zarathustra und DD! Bin ganz geplättet und weiß gar nicht, ob ich auf alle Gedanken wirklich adäquat eingehen kann. Aber ich schreibe einfach mal, was mir dazu einfällt: Dieser Vergleich wird ja oft benutzt. Und ich denke, er funktioniert ähnlich wie der Vergleich, den ich gerne verwende, nämlich, dass der Geist ein Lied ist und der Körper ein Instrument. Gibt es ein Lied ohne Instrument, also ohne dass es gespielt wird? Ich denke schon: Die Idee des Liedes kann existieren, die Melodie, der Rhythmus, die Harmonie etc.. Um aber wirklich manifest zu sein, braucht ein Lied ein Instrument, muss gespielt und gehört werden. Das könnte man ja auch so ähnlich beim Hardware/Software-Vergleich sagen. Und so ähnlich sehe ich die Beziehung zwischen Geist und Körper. Es gibt eine Wechselwirkung und der Geist braucht wohl auch den Körper, um wirklich manifest zu sein (weswegen ich eher skeptisch bin, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, zumindest so, wie es meist kommuniziert wird), aber zunächst sind Geist und Körper aus meiner Sicht zwei verschiedene Dinge wie Musik und Instrument. So sehe ich das zumindest, aber das ist ein sehr tiefer Gedankenraum, den man in stundenlangen Diskussionen auch nicht durchdringen kann. Ein Argument für die dualistische Position (also die Position, dass eine Person aus zwei "Dingen" besteht - Körper und Geist), das ich wirklich bemerkenswert finde, stammt von Descartes: Da man sich sein Denken und Fühlen ohne Körper vorstellen könne, sei bewiesen, dass Körper und Geist getrennte Entitäten seien. Was er damit nicht meint: Was ich mir vorstellen kann, existiert. Das wäre natürlich bescheuert. Sein Argument besagt nur, wenn ich mir A ohne B vorstellen kann, dann müssen A und B zwei logisch distinkte Dinge sein, denn andernfalls würde ich mir ja A ohne A vorstellen, würde mir also eine Sache ohne sich selbst vorstellen und das wäre ein Widerspruch. Mit einem Gegenbeispiel kann man das ganz gut veranschaulichen: Kann man sich ein Lächeln ohne Mund vorstellen? Nein*! Warum nicht? Weil Lächeln keine eigenständige Sache ist. Es ist nur etwas, was ein Mund tut. Es ist eine Funktion des Mundes (so wie die Materialisten argumentieren, der Geist sei nur eine Funktion des Körpers). Das Wort "Lächeln" ist also nur eine bestimmte Art und Weise über den Mund zu reden; es ist nichts vom Mund Unterschiedenes. *Man mag versucht sein, bei der Bemühung um die Vorstellung eines Lächelns ohne Mund auf irgendwelche Bilder zu stoßen, wie z.B. ein "lächelndes" Auto, denn manchmal sieht etwa der Motorgrill wie ein Lächeln aus, wenn er eine bestimmte Form hat. Was man dabei aber tatsächlich macht: Man erkennt in dem Gegenstand (z.B. dem Motorgrill) Ähnlichkeiten mit einem Mund, stellt sich den Gegenstand (den Motorgrill) dann also als Mund vor und dieser "Mund" kann lächeln. Man sieht also letztendlich auch nur einen lächelnden Mund und keinen lächelnden Motorgrill. Ich auch, wobei meine Bedenken nicht nur auf eine bestimmte Umsetzung beschränkt sind. Wenn eine Maschine so intelligent ist, dass sie einen eigenen Willen entwickelt, gelangt sie über die Programmierung hinaus. Das ist ja auch genau das Ziel bei KI. Man möchte ja Programme haben, denen man nicht alles explizit sagen muss, sondern die selbst lernen und sich gewissermaßen selbst programmieren. Aber genau das ist bereits das Gefährliche, weil man nicht weiß, wo man dann am Ende rauskommt, denn KI mag so intelligent wie ein Mensch werden (oder gar um einiges intelligenter), aber es bedeutet nicht, dass sie auch menschlich denken. KI könnte Entscheidungen treffen, auf die Menschen nie im Leben kämen, weil wir eine bestimmte Vorstellung von Prioritäten haben, die eine Maschine u.U. nicht teilt. Ein schönes Beispiel dafür ist das fiktive Briefmarkensammelprogramm, das sich alle möglichen Dinge einfallen lässt, um möglichst viele Briefmarken zu sammeln, dabei auch die Grenzen des Gesetzes überschreitet (sich z.B. in die Notenbank einhackt, um statt Geld, Briefmarken drucken zu lassen) und schließlich die ganze Menschheit auslöscht, um aus dem in Menschen vorhandenen Kohlen- und Wasserstoff Papier zu gewinnen, worauf sie dann Briefmarken druckt. Ja, das sind natürlich coole Simulationen, die zwar immer ein ganz kleines Stück weit Spekulation bleiben, aber die natürlich auf einer ganzen Menge Wissen aufbauen, die wir über die Wahrnehmung dieser Tiere haben. Ich denke auch gerade an eine Simulation, bei der man Musik aus den Augen einer Synästhetetikerin sehen kann, die Töne "sieht" (also Töne werden in ihrer Wahrnehmung immer mit einer Vorstellung von Farbe begleitet). Was diese Beispiele zeigen: Wir wissen, dass es eine Menge Unterschiede gibt, wie wir die Welt wahrnehmen. Die Frage ist aber auch, von wievielen Unterschieden haben wir keinerlei Kenntnis? Wieviele Unterschiede werden für immer verborgen bleiben und werden daher für Gemeinsamkeiten gehalten? Wie einsam sind wir tatsächlich? Ja, das ist natürlich auch eine zusätzliche Eigenschaft von Wahrnehmung, dass sie selektiv ist. Bewusst und unbewusst filtern wir 99% dessen aus, was wir wahrnehmen könnten. Wir sortieren je nach Kontext, Erfahrung, Grundhaltung, Empfinden etc. heraus, was wir für relevant halten und was nicht. Insofern sehen niemals zwei Menschen exakt dasselbe. Daher hat sich Sprache auch als kleinster gemeinser Nenner herausgebildet. Mit der Sprache können wir das benennen, was sowohl du als auch ich sehen. Insofern ist Sprache zugleich ein Werkzeug, unsere Wahrnehmungen ein wenig anzugleichen, sie engt aber auch unseren Blickwinkel ein, weil wir dazu neigen, Dinge zu sehen, die wir benennen können und das ist nur ein kleiner Teil der komplexen Sinneseindrücke, die uns umgeben. Also, was ich mit der Frage suggerieren wollte: Vor dem Tod werden wir diese Unterschiede nicht erfahren können. Ob dies nach dem Tod möglich ist, bleibt eine offene Frage, die ich aber aus dem Bauch heraus auch eher mit "nein" beantworten würde. Ich kann zwar ein Leben nach dem Tod nicht ausschließen, bin aber eher geneigt, nicht von einem Leben nach dem Tod auszugehen (zumindest nicht in der klassisch tradierten Form). Interessanterweise sagen ja Einige, dass die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod eine Erfindung unseres Geistes sei, um Trost zu finden und dieses schwer verständliche Ereignis besser akzeptieren und sinnhaft einordnen zu können. Aber bei mir ist es eher so, dass ich dazu neige, mich zu verdächtigen, aus psychologischen Gründen nicht an ein Leben nach dem Tod zu glauben, weil ich mir die Ewigkeit an sich als etwas quälend Langweiliges vorstelle und diese dann rein geistig, nur im Denken und Fühlen zu verbringen, ohne einen Körper (denn der ist ja nachweislich beim Tod kaputt gegangen - das ist ja eben die Bedeutung von "Tod") - das ist kaum auszuhalten. Wenn ich mich in einem solchen Zustand wiederfände, hätte ich spätestens nach 10.000 Jahren (was nichts im Vergleich zur Ewigkeit ist) eine Todessehnsucht, der ich nicht nachgehen könnte, weil ich tot wäre. Insofern fällt es mir auch schwer, etwas Tröstendes in einem Leben nach dem Tod zu erkennen und ich kann von diesem Standpunkt aus nicht ganz nachvollziehen, warum es psychologischer Selbstschutz sein soll, an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Ja gut, solche Nahtodmomente sind für mich auch ohne wissenschaftliche Erklärung kein gutes Argument für ein Leben nach dem Tod. Schließlich berichten sie ja nicht von Wahrnehmungen nach dem Tod (sonst gäb es diese Berichte ja nicht, weil die Leute tot wären), sondern von Wahrnehmungen nahe des Todes. Das sind aber dennoch ganz interessante Berichte, auch weil sie sich oft in den krassesten Sachen ähneln. Gut, Vakuum würde ich jetzt schon als Nichts durchgehen lassen, aber tatsächlich ist es deshalb nicht möglich, sich das Nichts vorzustellen, weil das Nichts bedingt, keine Vorstellung zu haben. Jede Vorstellung vom Nichts ist eben... eine Vorstellung, ist Denken und vielleicht damit verbundene Gefühle. Ist also keine wirklich gute Annäherung an das Nichts. Es gibt eben keine Erfahrung, die wir gemacht haben, in deren Mitte wir nicht standen. Wir kennen die Welt nur in Bezug auf uns selbst und es ist in der Tat schwierig, geistig zu akzeptieren, dass es eine Welt ohne uns gibt. Dennoch habe ich bei dieser Erklärung meine Zweifel. Ich meine, jede Nacht schlafe ich und die meiste Zeit träume ich nicht (ich weiß, ich weiß: Vermutlich träume ich schon, aber kann mich nicht erinnern, läuft aber auch darauf hinaus, dass ich meiner Wahrnehmung nach für ein paar Stunden "weg" bin). Das heißt, jede Nacht wird mein Bewusstsein für sieben oder acht Stunden abgeschaltet, als wäre ich in der Zeit nicht existent. Das ist eine Erfahrung, die wir täglich machen und vor der wir absolut keine Angst haben. Es ist doch schon so etwas wie ein Tod, den wir jede Nacht "erleben", ohne dass wir das Gefühl haben nach dem Aufwachen, es wäre schrecklich gewesen, nichts wahrzunehmen, nicht zu denken oder zu fühlen. Das heißt im Grunde müssen wir wissen, dass der Tod nichts Schlimmes ist und etwas, das sehr wohl stattfinden kann, ohne dass wir eine Vorstellung davon haben müssen. Ich denke nicht, dass es von dieser Perspektive aus wirklich notwendig ist, ein Leben nach dem Tod zu erfinden, nur weil das Nichts nicht vorstellbar ist. LG
  5. Schmuddelkind

    Was ist Kunst?

    Die Kunst ist eine Meerjungfrau und nur in ihrem Reich gefunden. Nur wenn ich mich zum Grunde wage, wenn ich in ihre Augen schau, so sind mir jene seltnen Stunden ein Blick in alle meine Tage. Nur in geheimnisvoller Tiefe, nur wenn ich ihr mein Leben schenke, gewährt sie mir die Ewigkeit, die sonst in meiner Seele schliefe. Doch wenn ich ihr an Land gedenke, so stirbt sie in Vergessenheit.
  6. Vielen Dank, ihr beiden! Der Widerspruch zwischen der Leichtfüßigkeit und Erhabenheit Maradonas als Spieler und sein Scheitern als Mensch ist in der Tat äußerst faszinierend. Damit hast du diesen Widerspruch gut auf den Punkt gebracht, lieber gummibaum. Danke! Jetzt, da du es sagst: Stimmt! Klingt tatsächlich irgendwie nach Rilke, obwohl ich das so gar nicht angepeilt hatte. Richtig! Aber wie bei allen Dingen kommt es wohl auf die Dosis an. Zu viel Anerkennung ist einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung wohl auch hinderlich. Es ist verdammt schwer, ein Mensch zu bleiben, wenn man als Gott verehrt wird und bei Maradona führte das vielleicht auch dazu, dass er einige sehr unglückliche Entscheidungen getroffen hat. Insofern kann man seine Geschichte wohl auch stellvertretend betrachten für all jene, die Großes leisten und deren größte Herausforderung es jedoch ist, weder an dem damit verbundenen Druck zu zerbrechen, noch der Versuchung zu erliegen, sich für einen Übermenschen zu halten. LG
  7. Der Ball umspielte seine Beine, beinahe schon sich selbst belassen, und folgte gleichsam seinem Willen. Und in des Flutlichts grellem Scheine, beim Jubel der gebannten Massen fand er zu sich ganz tief im Stillen. Doch trennte man ihn von dem Ball, als wär das Leben ihm versprungen, so trennte man ihn gar von sich. Für einen Mann zu laut der Hall, als Gott nicht laut genug besungen. Ein Freund nur, der von ihm nicht wich.
  8. Wenn meine Tage abwärts wanken, so flücht ich mich in die Gedanken, die seither ins Erinnern sanken und finde doch nur wieder dich. Und wenn ich denn im Deingedenken nur Anlass finde, mich zu kränken und ich begehr mich abzulenken, so find ich doch nur wieder dich. Und leg die Hände ich in Falten, um dich vor mir geheim zu halten, kann doch das Feuer nicht erkalten: ich finde doch nur wieder dich. Und wenn ich noch so zornig poch, so find ich doch nur wieder dich. (Aus dem Fundus)
  9. Vielen Dank, liebe Lena! Ich freue mich sehr über dein Lob. LG
  10. Danke, lieber Joshua! Deine subjektiven Eindrücke von der Schule aus der Erinnerung an das Schülerdasein kann ich sehr gut nachvollziehen. Es ist an sich schon etwas sehr Merkwürdiges, dass die Schule es schafft, aus dem Begriff des Lernens, etwas, das uns ureigen ist und von Kindheitstagen an mit Freude und Spannung verbunden ist, etwas zu machen, was im besten Falle langweilig, im schlimmsten Falle quälend ist. Kinder stellen den ganzen Tag Warum-Fragen, haben einen ungeheuren Wissensdurst. Wenn sie in die Schule kommen, ist diese ganze Neugier und Entdeckungsfreude wie weggeblasen, weil das Lernen nun etwas ist, das man nicht nur tun darf, sondern tun muss und zwar nach einem festen, vom Bedürfnis der Schüler entkoppelten Plan, verbunden mit dem ständigen Gefühl, bewertet zu werden und dem Druck, erfolgreich sein zu müssen. Die Schule sei kein Ort für kluge Leute schreibst du. Da stimme ich dir zu. Ich sage immer, was noch ein wenig weiter geht: Die Schule ist kein Ort für Kinder. Und an einen solchen Ort ist man dann mind. zehn Jahre lang gebunden, tagein, tagaus, muss diesen enormen Anpassungsdruck über sich ergehen lassen. Da entwickelt sich mitunter eine ungeheure Verzweiflung, der eine sensible Kinderseele u.U. nur durch verzweifelte Taten begegnen kann. Amokdrohungen sind an deutschen Schulen weiter verbreitet, als man sich eingestehen mag. Zum Glück sind tatsächliche Amokläufe in Deutschland, im Gegensatz zu den USA, die krasse Ausnahme. 20 bis 25% aller Kinder in Deutschland haben Suizidgedanken - Tendenz steigend. Statt das bestehende, seit dem 19. Jahrhundert im Wesentlichen unberührte und auf überholten lernpsychologischen Annahmen beruhende Schulsystem in Frage zu stellen, werden alle paar Jahre irgendwelche oberflächlichen Reförmchen gemacht, damit es so aussieht, als nähme man sich des Problems an. Als ob die Herausnahme des Themas "trigonometrische Funktionen" aus der MSA-Prüfung in Berlin und Brandenburg irgendetwas an der Burnoutrate ändern würde (15% aller Schüler leiden an Burnout-Syndrom)! Naja, ich rege mich schon wieder zu viel auf. Das ist leider ein Thema, bei dem es mir schwerfällt, cool zu bleiben... LG
  11. Vielen Dank für eure Sichtweisen zum Thema, lieber gummibaum und liebe Sonja! Die Nuancen bzw. Unterschiede sind es in der Tat, die das Leben wertvoll machen. Gleichförmigkeit bedeutet Tod - deshalb spricht man ja auch davon, dass das Universum irgendwann einen Kältetod stirbt, wenn es sich so weit ausgedehnt hat, das keine Strukturen mehr aufrecht erhalten werden können und das Universum sich der maximalen Kälte und Leere annähert. Dieses Gedankenexperiment war ein Versuch, sich dem philosophischen Begriff der Qualia anzunehmen. Es ist schwierig, intersubjektiv nachvollziehbar über diesen Begriff zu reden, weil er eben ganz nah an unseren unmittelbaren, subjektiven Erlebnissen ansetzt. Da kam mir dieses Gedankenexperiment in den Sinn, das vielleicht dazu helfen kann, dieses Phänomen klarer zu fassen. Immer wenn ich die Farbe von Gras bestimmen soll, sage ich, so wie ihr wohl auch, "grün". Grün ist für mich, wie für euch immer mit dem Wort "grün" verbunden und, wenn wir uns näher mit der Physik dahinter beschäftigen, stets mit demselben Wellenlängenspektrum, wird von uns allen, die wir dieses kulturelle Wissen erlernt haben, als Symbol für Hoffnung gesehen, ist eine kalte Farbe etc.. Aber was, wenn ich dieses Grün so sehe, wie ihr die Farbe rot? Könnten wir jemals herausfinden, dass dem so wäre? Ich schätze, dieser Unterschied im unmittelbaren Erleben der Farbe grün würde uns für immer verborgen sein müssen. Uns sind also exakt dieselben Informationen zur Farbe von Gras zur Verfügung und dennoch gibt es einen himmelweiten Unterschied in der Wahrnehmung. Es scheint also Wahrnehmungsqualitäten jenseits der reinen Informationsaufnahme zu geben und ich behaupte, dass darin der Qualia-Begriff seine Berechtigung findet und dass dies etwas ist, das maßgeblich unser Bewusstsein konstituiert. Was ich dann als Folgefrage interessant finde: Computer können ja mehr und mehr unserer geistigen Fähigkeiten erwerben: Wahrnehmen, Denken, Kreativität, sogar für irgendeine Form von Fühlen könnte man u.U. argumentieren. Aber könnten Maschinen jemals die Fähigkeit aufbringen, diese Qualia zu erleben? Ich bin da relativ skeptisch und das, obwohl ich im Großen und Ganzen wohl nicht dazu neige, das Potential künstlicher Intelligenz zu unterschätzen. Falls es einem reinen Körper (und Computer bzw. Maschinen sind ja nichts anderes als komplexe Körper) nicht möglich sein sollte, empfänglich für Qualia zu sein, wäre das aus meiner Sicht ein Indiz dafür, dass Geist und Körper zwei logisch distinkte Entitäten wären und dass der Geist nicht bloß (zumindest nicht vollständig) eine Körperfunktion wäre. Der Geist wäre etwas, das durch Gehirnaktivität nicht vollständig beschrieben oder gar erklärt werden könnte. LG
  12. Vielen Dank für deine empfindsamen Worte, liebe Sonja! Du hast es ganz gut auf den Punkt gebracht mit deiner Ausführung über das Unwiederbringliche. Das Leben ist eine Einbahnstraße. Man kann kein Wort wirklich zurücknehmen und muss mit den Konsequenzen seiner Handlungen leben. Das ist manchmal verdammt schwer zu schlucken, aber es kann uns auch dazu anhalten, das Beste aus dem Augenblick zu machen, in dem Bewusstsein, dass es einem sonst noch lange verfolgen könnte. LG
  13. Schmuddelkind

    26.7.2012

    Liebe Babsi, es ist nun schon über eine Woche vergangen, seitdem ich sie angeschrieben habe und noch immer kein Wort von ihr. Doch ich kann es ihr nicht verdenken, nach all meinen verzweifelten Ausbrüchen in alle Richtungen, in denen doch auch ein Wunsch des Vergessens geäußert wurde. Ich schrieb ihr, dass es mir Leid tue, was ich darüber in der geistigen Getrübtheit meinte, erkundigte mich nach ihrer Großmutter und ließ erkennen, wie wichtig mir der Austausch mit ihr nach wie vor sei. Ihr Schweigen war ein heftiges Beben, das alles um mich herum und in mir erschütterte. Obgleich ich ahnte, dass ich ihr Ruhe hätte einräumen müssen, schrieb ich ihr noch einige Male, vergeblich, wie du dir sicher denken kannst. Wie kann ein Mensch die Freiheit eines Anderen ertragen, die ihm doch alles nimmt, was Freiheit erst wertvoll macht? Noch nie, seit wir uns kennen, habe ich derart lange ohne einen Gedanken von ihr überlebt. Überhaupt kann ich mich an keinen Tag erinnern, an dem wir nicht den mindesten Kontakt hatten und die Möglichkeit eines Tages ohne sie - dies war eine in ihrer Selbstverständlichkeit nie gedachte Gewissheit - hätte mir absurd erscheinen müssen. Das Leben hat eine nie erdachte Seichtheit und die Zeit eine undurchdringliche Verschlossenheit. Mir ist, als habe man mir das Wesentliche genommen. Es ist die größte Ungerechtigkeit von allen, dass es keinen anderen Umgang unter den Menschen geben kann, als sie an ihren Worten und Taten zu messen, die doch so wenig von dem wahren Gefühl vermitteln, welches sich in unserer Unbeständigkeit nur schwerlich einfangen lässt.
  14. Ich kann nur aus dem Fenster schaun und träumen und eine leise Ahnung reift in mir von Freiheit und von leeren Klassenräumen. Wo wär ich wohl gerade, wenn nicht hier? Der Lehrer stellt mich bloß und nimmt mich dran. Die Schule sei kein Ort für Träumerei. "Ich will euch alle töten", schreib ich an und für den Rest des Tages ha'm wir frei.
  15. In der Mitte der Unendlichkeit halt ich gerne einen Platz dir frei, wo am Ende einer Ewigkeit, dein Ersinnen mein Versprechen sei. (Aus dem Fundus)
  16. Wenn du dies liest, so wirst du wissen, dass dieser Brief dir zugedacht. Doch äußerst du auch den Verdacht, so werd ich es bestreiten müssen. Nun weißt du wohl, es geht dich an und mancher Vers muss mir verbleiben. Solch Worte kann ich doch nicht schreiben, die ich dir auch nicht sagen kann. (Aus dem Fundus)
  17. Wir beide kennen rot und grün und können sicher unterscheiden. Rot, sagst du, sieht man Feuer glühn. Grün, sag ich, schimmern jene Weiden. Doch wär mein Grün so wie dein Rot, mein Rot so wie dein Grün gegeben, wie könnten wir noch vor dem Tod wohl diesen Unterschied erleben?
  18. Liebe Lena, freut mich sehr, dass meine Mischung aus philosophischen, lustigen und fehlerbehafteten Gedanken dir gefallen hat, die man in einem Betrunkenen so sehr aufeinander verdichtet sieht, wie wohl sonst nirgends. Finde es auch immer spannend, Betrunkenen zuzuhören, zumindest wenn sie die Schwelle zum Geiszversagen noch nicht überschritten haben. LG
  19. Hier am allzu stillen See "Schaut der Kranich mitgenommen." klage ich mein tiefes Weh. "Denn er weiß, der Herbst wird kommen." Noch will keine Zeit verstreichen. "Noch ein Frühling, das wär schön" Gerne wollt ich nach dir reichen "und dir in die Augen sehn. Halte mich noch einmal fest," Hör ich etwas? Röhricht, singe! "bis ich geh und du mich lässt!" Wenn der Wind nur rückwärts ginge! (Aus dem Fundus)
  20. Schön, lieber Nöck! Einfach nur schön! Ich bin begeistert, wie liebevoll du die kleinen Details dieser Morgenstimmung ausschmückst und das Schreiben selbst dann auch zum Thema machst. Was ich an Naturgedichten ja meist besonders wertschätze: Sie zeigen nicht nur die Szenerie, sondern v.a. wie der Beobachter seine Außenwelt wahrnimmt. Daher verraten solche Gedichte auch viel über die Innenwelt des Beobachters. Hier thematisierst du dies in der letzten Strophe sehr direkt, als wäre es zum Zweck des Abgleichs der Lesererwartung mit der Selbstwahrnehmung des LI geschrieben. Jedenfalls findet nicht nur das LI Ruhe bei diesen morgendlichen Eindrücken, sondern auch ich als Leser. Danke! LG
  21. Ich weiß selbst, wann ich genug habe. Hast du mich gerade angefasst? Lüg mich ja nicht an! Das merke ich, wenn mich jemand anfasst. Nur meine Frau darf mich anfassen. Hast du ein Glück, dass ich betrunken bin! Sonst würde ich dich jetzt so verprügeln, dass du dir wünschst, ich würde dich bewusstlos schlagen. Hast du ein Glück! Weißt du, was du für ein Glück hast? Du hast so ein Glück, dass ich mich morgen an nichts mehr erinnere und dann sind wir wieder beste Freunde. Du bist mein bester Freund. Niemand versteht mich, nur du - nicht meine Mutter, nicht meine Frau, nicht einmal ich selbst. Ich würde dich jetzt auf der Stelle heiraten, ob du willst oder nicht. Nicht falsch verstehen, das meine ich nicht schwul. Du weißt, ich bin nicht schwul. Das weißt du, oder? Nein, ich würde auch gar nicht mit dir schlafen. Nur deshalb will ich dich heiraten, weil ich dich liebe. Wo gibt es das heute noch? Weißt du, was traurig ist? Zeit. Alles verändert sich, verstehst du? Ich meine, alles verändert sich. Ist dir das mal aufgefallen? Alles verändert sich und nichts bleibt, nichts wiederholt sich. Nichts wiederholt sich. Erinnerst du dich, als wir ohne Plan, ohne Ziel einfach drauf losgefahren sind - immer geradeaus? Und irgendwann sind wir, ohne es zu ahnen, ans Meer gelangt, gerade als die Sonne unterging. Es ist doch traurig, dass wir uns überhaupt erinnern müssen. Ich meine, das reicht doch nicht aus, verstehst du? Aber weißt du, was mich tröstet? Die Unwahrheit. Stell dir mal vor, es gäbe unendlich viele Universen! Muss sich dann nicht unser Universum zwangsläufig irgendwo wiederholen? Dann gibt es irgendwo dieses Universum noch einmal, mit uns beiden in der Mitte, wie wir gerade darüber reden. Und dann gibt es unser Universum sicher auch zeitversetzt - eine Stunde, eine Minute, eine Sekunde, einen Augenblick früher oder später. Vielleicht sind all die Universen unbewegt - wie Fotos. Was wir als Zeit empfinden, wäre dann einfach ein Bewusstsein, das in all diese Universen blickt und die Veränderung als fortlaufend wahrnimmt. Und irgendwo stehen wir mit großen Augen an der Küste und blicken ewig überrascht zum Meer. Na ja, ob ich daran glauben soll? Ich weiß ja nichts von Physik. Ich weiß nur: es ist traurig. Alles verändert sich. Eben war mein Glas noch voll, jetzt ist es leer. Komm, wir trinken noch einen! ...Ich weiß selbst, wann ich genug habe...
  22. Ich möchte ungern für Nina oder DD sprechen (und wenn meine Interpretationen falsch sind, bitte ich die entsprechende Person, mich zu korrigieren). Aber nur weil ich gerade die Weichen auf Missverständnis gelegt sehe, möchte ich kurz erklären, wie ich eure Aussagen verstanden habe. Ich glaube nämlich, dass ihr auf verschiedenen Ebenen redet und kann euch beide, jede auf ihrer Ebene, verstehen: Ich lese Ninas Kommentar als ein Bedauern darüber, dass gesellschaftliche Prägung (die im Text angesprochene Höflichkeitspflicht) oft dazu führt, dass Frauen oft "zu leise" widersprechen - dieses "zu leise" könnte man jetzt als Vorwurf an die entsprechende Frau werten (so habe ich DDs Antwort gelesen). Man könnte aber auch sagen, dass es eben leider letztendlich die Täter sind, die perfiderweise darüber entscheiden, ab wann ein "Nein" laut genug ist. Das ist zum Kotzen, aber da Täter Täter sind, lässt sich das nicht so leicht ändern. Meine Meinung: Klar, wäre es wünschenswert, wenn Frauen in solch bedrohlichen Situationen selbstbewusster und entschlossener auftreten können, aber daraus darf natürlich kein Vorwurf an die Opfer erwachsen (so hatte ich jetzt Ninas Einwurf auch nicht gelesen). Stattdessen sollte es uns zu denken geben, warum Frauen oft dieses Selbstbewusstsein nicht aufbringen können. Diesbezüglich hat DDs Text eigentlich einen guten Erklärungsansatz geliefert: Die Abneigung, "nein" zu sagen, wird eben oft in der Erziehung mitgegeben. Sexismus fängt eben nicht erst bei der Zuspitzung zu einer Gewalttat an, sondern ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und wirkt sehr viel mächtiger und sehr viel subtiler durch Rollenzuschreibungen, Normen, Erwartungen, Erziehung und Bildung. Das nur aus externer Perspektive auf das Gespräch. Natürlich möchte ich Nina für sich selbst sprechen lassen und bitte um Verzeihung, falls ich mich zu sehr a priori eingemischt haben sollte.
  23. Würde sich die Welt just eben, wie wir voreinander stehn und schweigen, plötzlich aus der Taufe heben, ich verstünde wohl als Zu-Dir-Neigen jenes ungewisse Schweben. (Aus dem Fundus)
  24. Vor kurzem lud mich ein alter Freund zu Tony's Pizza ein: "Wenn du mal so richtig amerikanisch Pizza essen willst, dann musst du mitkommen. Die haben die besten amerikanischen Pizzen der Stadt." Davon zeigte ich mich allerdings wenig begeistert: "Pizza wurde doch von den Italienern erfunden. Insofern bezweifle ich sehr, dass das wirklich eine Auszeichnung ist. Ich lade dich ja auch nicht in die Jägerklause ein und sage: "Da gibt's die beste deutsche Peking-Ente."" Da hallte es mir entgegen: "Ey, du bist so ein Schwarzmaler! Noch nicht da gewesen und direkt losschießen." Obwohl ich wusste, dass ich recht hatte, war das Argument zu stark, um meinen Widerstand aufrecht zu erhalten. Also willigte ich schließlich ein. Im Eingangsbereich stand ein Mitarbeiter mit eintätowiertem Lächeln, begrüßte uns und erklärte sogleich: "Wir haben heute All you can eat-Büffet. Das kostet 14,99 €. Eine einzelne Pizza können Sie da nicht bestellen. Aber sie bekommen ja so viele Pizzen, wie sie wollen." "14,99!", empörte ich mich an meinen Freund gerichtet: "Bei meinem Lieblings-Italiener kostet eine große Pizza Prosciutto 7,40 €." "Das kannst du doch gar nicht vergleichen. Wir sind dabei." Drin angekommen, sahen wir eine Menge angespannter Menschen, die sich um etwas versammelten, was ich später als den Büffet-Tisch identifizieren konnte. Wir suchten uns erst einmal einen Platz, legten unsere Sachen ab und schritten dem Pulk entgegen. Meine Begleitung bemerkte ungeduldig: "Ich kann gar nichts sehen. Ich nehme dich mal Huckepack." Während ich die Augen rollte, ahnte ich, dass Widerspruch zwecklos sei und stieg ihm auf die Schultern. Da öffnete sich eine Luke und fünf Pfannen mit Pizzen unterschiedlicher Toppings, wie der Belag hier hieß, wurden eilig hindurch auf den Büffettisch geschoben, ehe sich die Klappe blitzschnell wieder schloss. Sofort stürzten sich die hungrigen Tiere mit einigem Gebrüll und Zähnefletschen auf das Futter. Mein Freund warf mich ab und sprang mitten in die Meute und als ich so da lag, hörte ich allerlei aggressive Laute, die die Hackordnung klären sollten: "Du Arschloch hast zwei Stücke genommen." "Versuch sie mir doch wegzunehmen!" "Lassen Sie mich durch, verdammt! Ich hab Kinder." "Wir brauchen einen Arzt!" "Erst wenn das ausgefochten ist." Als sich die Wolke der Gewalt verzogen hatte, näherte ich mich verstört dem nunmehr verlassenen Büffettisch. Alles Essbare war bis auf den letzten Krümel verschwunden. Resigniert ging ich zu meinem Platz und beobachtete mit großen Augen, wie mein Freund die letzten Bissen seines Pizzastückes verzehrte. "Ach, du hast gar nichts genommen? Musst du unbedingt kosten. Ist super lecker." Da kam die Bedienung: "Wollt ihr vielleicht was trinken?" "Ich würde gerne was essen", stieß ich zugegebenermaßen etwas wehleidig aus. "Sorry, die letzten Stücke dieser Runde sind gerade ausgegangen. Aber wenn du dich noch zwanzig bis dreißig Minuten gedulden kannst, kannst du mit etwas Glück bei der nächsten Runde was ergattern." Bei der Erwähnung der zwanzig bis dreißig Minuten, schrie mein Magen ein hörbar wütendes "Nein!". Ich jedoch bemühte mich, gesellschaftsfähig zu bleiben, warf einen kurzen Blick in die Karte und meinte verwundert: "4,90?! Na gut, einen Vanille-Shake bitte, aber ohne Sahne." "Ohne Sahne - das macht dann 50 Cent extra." "Bitte?" "Na, da wird was extra berechnet, weil ich der Küche bescheid sagen muss. "Na gut. Dann soll es so sein." Ich hatte an dem Abend den Krieg miterlebt. Ich hatte schon zu viel gesehen, um mich über unberechtigte Preisaufschläge zu entrüsten und ergab mich resignierend meinem Schicksal. Als der Shake eintraf, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass letzte Spuren, a posteriori beseitigter Sahne zu sehen waren, doch ich schwieg und blickte traurig einige Minuten in mein Glas, während mein Gegenüber über irgendetwas gesprochen haben muss. Ich probierte einen ersten Schluck. Er schmeckte nicht nach Vanille, sondern nach flüssigem Zucker. Ich fürchtete spontane Diabetes, wenn ich den Shake austrinken würde und ließ ihn ehrfürchtig stehen. Dann packte mich jedoch der Ehrgeiz. Ich wusste: dies ist ein Sport, bei dem es um Feldposition geht. Also platzierte ich mich als einer der ersten Gäste nahe des Büffettisches und sah, wie sich die missgünstige Menge langsam um mich herum versammelte. Gleich würde der Moment kommen, für den ich hergekommen war und ich würde mein gottgegebenes Recht auf eine bezahlte Pizza verteidigen bis auf's Blut. Als sich die Luke öffnete und die Gladiatoren ihre Schwerter drohend auf die Schilde schlugen, hatte ich mich längst in einen Tunnel der totalen Fokussierung gedacht. Längst war ich zu einem Tier geworden. Mit ausgestrecktem Arm stieß ich den Feind zu meiner Rechten von mir, während ich mit raschem Griff der linken Hand ein Stück Pizza ergatterte. Unerwartet musste ich einen harten Angriff von hinten einstecken, bei dem ich meine Pizza aus der Hand verlor. Gerade noch konnte ich zusehen, wie ein Mann sie auffing, da stieß mich ein Kontrahent von links so zurück, dass ich dem Dieb unbeabsichtigt eine Kopfnuss gab. Während dieser blutend auf dem Boden lag, riss ich ihm die Pizza aus den Händen, hielt sie mit beiden Armen schützend vor meiner Brust, wie ein Runningback seinen Football schützt, und rannte mit der ganzen Gewalt einer wütend drängenden Bewegung durch die Reihen der Blutrünstigen hindurch, die einen Fumble forcieren wollten. Geschafft! Mich in Sicherheit wähnend, strahlte ich wie ein siegreicher Held, bereit die Früchte meines Sieges zu genießen. Da sah ich ein Mädchen mit traurigem Blick: "Ich hab solchen Hunger." Nach kurzem Zögern gab ich ihr also die Beute und setzte mich, selbst den Tränen nah, wieder an meinen Tisch. Plötzlich hörte ich das Mädchen empört ausrufen: "Ich will aber eine Salami-Pizza!" und sah mein Pizzastück gegen die Scheibe fliegen. Als es kaum 5 cm die Scheibe hinuntergerutscht war, entnahm es ein geistesgegenwärtiger Restaurant-Insasse und verputzte es auf der Stelle. Auch in den nächsten beiden Pizzarunden sollte ich, bis auf Hämatome im Gesicht, leer ausgehen. Als es mir schließlich gelang, doch noch ein Stück Pizza bis zu meinem Platz herüber zu retten, hielt ich ein fetttriefendes, wabbeliges, schleimiges Stück Pizza wie das Erbe der Menschheit vor mir, führte es mit bis zur Unendlichkeit gesteigerter Vorfreude zu meinem Mund und... Die Spitze des unerwartet weichen und elastischen Stückes beugte sich vornüber und der Belag fiel, der Pizzakrümmung folgend, zu Boden. Sofort wuselten Menschen zwischen meinen Beinen herum und stritten sich um Pilze, Mais und Schinken. Ich wollte nicht zulassen, dass die Trauer darüber den Augenblick zerstört, indem ich endlich eine Pizza in der Hand hielt und machte das Beste daraus. Die Tomatensauce hatte die Farbe und Konsistenz von Ketchup. Und sie schmeckte wie Ketchup. Irgendwann kam die Bedienung zu uns und teilte uns mit, dass wir jetzt gehen müssten, da der Laden gleich schließen werde. "Nein!" schrie ich die Dame an. Ich hatte zu viel mitgemacht, um nun unverrichteter Dinge zu gehen. "Erst will ich meine Pizza. Ich habe knapp 15 Euro bezahlt und ich werde nicht eher gehen, bis ich ein richtiges Stück Pizza gegessen habe. Mit Belag und Käse. Verstehen Sie? Ich wollte doch nur eine Pizza", fing ich zu weinen an: "Nun sehen Sie, was aus mir geworden ist. Sie haben doch bereits meine Seele. Also bitte, bitte geben Sie mir Ihre Pizza! Ich zahle auch 50 Cent extra. Ich helfe auch beim Abwasch mit. Aber ich flehe Sie an. Ich brauche diese Pizza mehr als Sie sich vorstellen können." Sie blickte etwas ungläubig, als versuchte sie durch den Wahnsinn in meinen Augen hindurch zu blicken und entgegnete schließlich: "Ich rufe jetzt die Polizei."
  25. Hey DD, klasse Kurztext, der das Thema pointiert betrachtet und z.T. tief in die Analyse geht, ohne emotionslos zu werden! Die wiederholten Neins zwischen den Textfragmenten wirken wie der überhörte Hilferuf einer in Scherben zu springenden Seele. Das ist ein sehr effektvolles Stilmittel. Die drei Absätze könnten zum Einen drei verschiedene Situationen darstellen. Zum Anderen können sie als kurze Einblicke durch das Schlüsselloch einer Entwicklung gelesen werden: die Biographie eines Neins. Hier wird zunächst das Nein als Gedanken geboren. Aber es will sich noch nicht in Worte manifestieren und bleibt so zunächst folgenlos. Von außen sieht es sogar eher wie Zustimmung aus, wie die betagten Damen bezeugen. Man fragt sich, wieso dieses Nein nicht über die Lippen kommen will. Im zweiten Absatz folgt die einleuchtende Erklärung. Brav zu sein, scheint in der Erziehung bei vielen Eltern ein wichtiger Wert zu sein, den man vermitteln muss. Worte wie "nein" oder "ich will nicht" sind in den Augen solcher Eltern störend. Freie Willensäußerung ist störend und das zieht sich durch viele Instanzen hindurch: Schule, Beruf, Behörden, oft sogar Partnerschaft oder Ehe. Überall ist es wichtig, nicht anzuecken und das Resultat ist, dass man entweder damit leben muss, nicht in diese Gesellschaft zu passen, wenn man seinen eigenen Standpunkt vertritt oder verlernt, "nein" zu sagen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem inneren Nein und dem äußeren Anpassungsdruck ist hier so groß, dass die Ich-Erzählerin gelähmt ist und sich nur noch passiv verhalten kann. Kurz bevor die Situation eskaliert, gelangt das "Nein" doch noch zur Geltung. Aber es gilt nichts - nicht für Männer, für die es jenseits des Vorstellungsvermögens ist, dass eine Frau nicht brav "ja" sagt, Männer, die ein "nein" gerne umdeuten, um ihren Anspruch auf Dominanz nicht zu gefährden, nicht in einer Gesellschaft, die der Bravheit so sehr anhängt, dass das "Nein" weniger gilt als der Nonkonformismus, der sich vielleicht in der Kleidung des Opfers ausdrückt, was sich dann in Sprüchen kristallisierrt wie: "Sie hat es selbst herauf beschworen. Wie die sich anzieht!" Das fragende Oder am Ende hat zugleich etwas Anklagendes, aber auch etwas Hilfloses. Es steht wohl einerseits für die Frage: "Was ist so schwer daran, ein "Nein" zu verstehen?" Andererseits offenbart sich darin aber auch die Hilflosigkeit der Opfer: "Heißt "Nein" denn wirklich "Nein"? Macht es überhaupt einen Unterschied, wie ich reagiere? Darf er alles mit mir machen?" Puh, schwere Kost! Aber es ist wichtig, dass darüber geschrieben wird und du hast in bemerkenswert ehrlicher Weise darüber geschrieben. Danke! LG
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